Über Grenzen
von Philippe Rekacewicz
Über die Migration der Menschen kann man nicht sprechen, ohne über die Grenzen zu sprechen, die andere Menschen errichten. Beides hängt eng miteinander zusammen, und die Grenze ist das gefährlichste Hindernis, auf das der heimatflüchtige Reisende stößt, sei er nun legal oder illegal unterwegs. Die Grenze vermittelt die Illusion einer akkurat in Lebenseinheiten, Regionen oder Länder aufgeteilten Welt. Sie wirkt harmonisch, trennt die Menschen aber paradoxerweise ebenso sehr, wie sie sie als Gruppen verbindet. Die hier versammelten fünf kartografischen Skizzen1 zeigen, wie die Phänomene der Migration und der politischen Grenzen sich gegenseitig bedingen.
Die exakten Linien, mit denen Grenzen auf Karten üblicherweise verzeichnet sind, täuschen über deren wahren Charakter hinweg.2 In Wirklichkeit schreiben sich Grenzen auf höchst unterschiedliche Weise in die Landschaft ein: Sie können sich in Form von festen, unüberwindlichen Barrieren erheben oder aber völlig unbemerkbar und einfach inexistent bleiben.
Wann immer die geschichtlichen Ereignisse die Geografie der Welt durcheinanderbringen, geraten die Grenzen in Raum und Zeit in Bewegung. Aus diesem Grund zeigen wir hier Entwürfe und keine fertigen Karten. Die Skizze geht der Karte voraus, sie erlaubt es, den ungewissen oder vorläufigen Charakter jener Trennlinien und ihren unterschiedlichen Status freier, aber auch subjektiver zum Ausdruck zu bringen. Grenzen sind schwer zu kartografieren: Karten beantworten zunächst die Frage nach dem „Wo“ und erlauben erst danach, die Frage nach dem „Was“ zu erfassen, also zu verstehen, wie menschliche Gemeinschaften ihr Territorium auf Kosten ihrer Nachbarn organisieren beziehungsweise es überhaupt erst erschaffen.
Die abgebildeten Karten sind keine „fertiggestellten“, gedruckten Karten, vielmehr handelt es sich um vorbereitende Skizzen, deren vorläufiger Charakter vom Wesen der Grenze selbst kündet, von ihrer Ambivalenz und Paradoxie.
Hinter jeder Karte steckt eine Absicht. Die Karte entspringt einer Vorstellung. Sie ist zunächst ein Gedankengebilde, das in einer Bleistiftskizze festgehalten wird, aus der sich die ursprüngliche kartografische Absicht ablesen lässt. Die Skizzen zeigen die Unentschiedenheiten des Kartografen, der seine Karte nach und nach mit Informationen füllt. Unter die Karte oder an den Rand schreibt er ungeordnet seine Ideen auf, die ihr Gerüst und damit die Geschichte ausmachen werden, von der das Dokument erzählt. Die Karte lässt sich als Baukasten verstehen. Wie bei einem Baukasten ist jedes Teil unmittelbar mit den benachbarten Elementen verbunden. Sobald man auch nur eines von ihnen an eine andere Stelle bewegt, entwirft man eine neue Landschaft. Die Skizze ist ein flexibles „Übergangswerk“ – der Ort grafischen Experimentierens.
Und doch bringt die Skizze in ihrem Entwurfscharakter die Gedanken des Kartografen oft authentischer und wahrhaftiger zum Ausdruck als der Computer, der sie verdirbt, indem er im Fluss befindliche Situationen künstlich einfriert. Die Skizze ist dynamischer, Bewegungen, Formen, Farben kommen in ihr lebendiger zum Ausdruck. Man kann Striche mit einem dickeren Stift nachziehen, mit Kontrasten spielen oder den zufälligen Charakter der geografischen Aufteilung der Welt besonders hervorheben.
Der kartografische Entwurf transportiert nicht nur politische, sondern auch künstlerische Haltungen. Generationen von Diplomaten haben bei den großen Neuaufteilungen der Welt, vom Wiener Kongress bis Jalta, zahllose ungeschickte und unvollkommene Skizzen gekritzelt, um zu den für sie möglichst günstigen Grenzverläufen zu finden.3 Es gibt auch Mauern in den Köpfen, kulturelle und symbolische Grenzen – auch sie lassen sich am besten mit Hilfe von Buntstiften darstellen.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Michael Adrian