Wie in Georgien Staat gemacht wird
Die Westorientierung der Rosenrevolutionäre bedeutet noch keine Demokratie von Vicken Cheterian
Als der georgische Präsident Michail Saakaschwili kürzlich der Zollstation Opisa in der Nähe von Tbilissi einen routinemäßigen Besuch abstattete, trugen ihm erboste Bürger ihre Beschwerden vor. Kurzerhand warf der Präsident den Leiter der Zollbehörde aus dem Amt und wies Ministerpräsident Surab Nogaideli an, alle Mitarbeiter zu entlassen: „Stell neue Leute ein, zahle ihnen ein Gehalt von 1 000 GEL (zirka 440 Euro) und gib ihnen genaue Instruktionen, damit ich nicht mehr erleben muss, wie man die Leute hier quält.“ Und er fügte hinzu: „Wenn wir tatsächlich eine freie Wirtschaft aufbauen wollen … wenn wir wollen, dass unsere Wirtschaft sich rasch und dynamisch entwickelt, müssen wir unsere Verwaltung stärker auf die Bürger ausrichten.“1
Am selben Tag ordnete der Präsident an, eine weitere „parasitäre“ Behörde abzuschaffen, die Nationale Regulierungskommission für das Transportwesen. Beide Vorfälle illustrieren, wie im heutigen Georgien die gesellschaftliche Transformation von oben nach unten betrieben wird. Dieser Prozess zielt darauf, die Gesellschaft in kürzester Zeit zu modernisieren.
Unter allen gewaltfreien „bunten“ Revolutionen der letzten Jahre stellt Georgien einen Sonderfall dar: Während die Revolutionen in Serbien und in der Ukraine, im Libanon oder in Kirgisistan zu einer politischen Lähmung führten, weil der Präsident und der Regierungschef aus rivalisierenden Lagern – hier Reformer, dort das alte Regime – stammen, fühlt sich die nachrevolutionäre Führung in Georgien vom Volk beauftragt, die Reformen konsequent umzusetzen. Die neue politische Klasse, die durch Saakaschwili verkörpert wird, hat die Macht wie auch den Willen, den Wandel in der georgischen Gesellschaft zu vollziehen. Und so durchläuft Georgien als einzige unter den Ländern, die eine „bunte Revolution“ erlebt haben, eine echte Revolution – allerdings in dem Sinne, dass eine kleine, gut ausgebildete Elite sich anschickt, das Land auf technokratische Weise umzustrukturieren. Aber wohin führt der eingeschlagene Weg?
Um die Ziele der georgischen Revolution zu verstehen, sollte man sich an ihre ursprünglichen Ziele erinnern. Unter Eduard Schewardnadse war Georgien ein Land, das dem Klub der westlichen Länder beitreten wollte. Schewardnadse hatte die erklärte Absicht, Georgien in die Nato zu führen. Gleichzeitig wollte er dem Volk im Rahmen eines pluralistischen Systems weitgehende politische Freiheiten einräumen. Doch diese Demokratie beruhte auf einem schwachen Staat, was dem Land nicht unbedingt half, die nötige Anerkennung des Westens zu erlangen und ökonomische Reformen durchzusetzen. Ein Großteil der staatlichen Tätigkeit wurde von korrupten und kriminellen Clans kontrolliert.
Die Revolutionäre, die dagegen aufbegehrten, stammten aus dem Reformflügel der Schewardnadse-Partei. Diese zumeist im Westen ausgebildeten Leute hielten Ende 2001 die Zeit für gekommen, um sich von dem alten Präsidenten (genannt der „weiße Fuchs“ ) loszusagen. Hauptziel ihrer Revolution war offenbar der Aufbau eines starken Staates, der in der Lage sein sollte, Georgien in der modernen Welt zu verankern, sprich: im Westen.
Für eine Revolution musste man natürlich eine Ideologie haben, und dafür eignete sich am besten das Leitbild der „Verwestlichung“. Georgien will nicht nur wie ein westliches Land aussehen, es will sich im Herzen des Westens etablieren: „Wir sind für die westlichen Verbündeten ein Machtpartner und nicht etwa ein kleines Land, das beschützt werden will.“2 Georgien zu einem Teil des Westens zu machen, ist also nicht einfach ein politisches, sondern auch ein emotionales und ein ideologisches Ziel. Es bedeutet, zur Moderne aufzuschließen und die archaische Sowjetvergangenheit hinter sich zu lassen.
Für Tbilissi ist Russland die Wurzel allen Übels
Damit sollen alle Übel kuriert werden, unter denen diese Nation zu leiden hat. Und das Hauptübel ist Russland, das bis heute mit der alten Sowjetunion gleichgesetzt wird. Zuvor war alles, was in Georgien modern war, über Russland vermittelt worden: durch die georgischen Nationalisten des 19. Jahrhunderts, durch die sozialdemokratischen Menschewiki zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zuletzt auch durch die georgischen Kommunisten, die mit Stalin und Geheimdienstchef Lawrenti Berija lange Zeit die politische Führung der Sowjetunion stellten. Doch damit war es im April 1989 abrupt zu Ende, als sowjetische Fallschirmjäger in Tbilissi das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffneten und 19 Menschen getötet wurden.
Seitdem wird Russland die Verantwortung für alle Fehler und Gebrechen des heutigen Georgien zugeschrieben. Für die Elite eines Landes, das schon immer von inneren Spaltungen geprägt war, gehören heute die antirussischen Ressentiments zu den wenigen Gemeinsamkeiten. Viele politische Entwicklungen, die sich im heutigen Georgien vollziehen, sind durch diese gefühlsgesteuerten Impulse und entsprechende ideologische Erwägungen vorprogrammiert.
Diese junge Revolution hat in nur wenigen Jahren eindrucksvolle Veränderungen hervorgebracht. Georgien ist heute nach innen wie auf internationaler Ebene ein selbstbewusster, funktionsfähiger Staat. Er ist in der Lage, Steuern zu erheben, die Gehälter seiner Beschäftigten pünktlich zu zahlen und wichtige Infrastrukturvorhaben zu verwirklichen. Dieser Staat führt einen energischen Kampf gegen die Korruption, die eines der großen Übel des Schewardnadse-Regimes war. Dabei werden bestimmte staatliche Bereiche von Grund auf reformiert. Sichtbarste Symbole für Unfähigkeit und Korruption waren die Armee und die Verkehrspolizei; beide Institutionen wurden aufgelöst und mit einem völlig neuen Offizierskorps wieder aufgebaut.
Doch die wohl bedeutsamste Reform läuft derzeit im Ausbildungs- und Erziehungswesen. Einer ihrer Architekten ist Gigi Tewsadse, der Rektor der staatlichen Ilia-Tschawtschawadse-Universität. „Fünfzehn Jahre lang gab es keinerlei Reform“, erklärt er eindringlich, „und was wir von der Sowjetunion geerbt hatten, war in Auflösung begriffen. Mit dem Verfall des Ausbildungsniveaus nahm die Korruption im Bildungswesen zu.“ Vor einigen Jahren habe ein Student noch zwischen 500 und 15 000 Dollar Bestechungsgeld für einen Studienplatz gezahlt, und die Universität habe sich zu einem Zentrum der konservativen Kräfte entwickelt: „Viele Leute im Erziehungsbereich glaubten, sie müssten ihren Studenten eine neue nationale Identität vermitteln, statt ihnen elementare Fähigkeiten beizubringen.“
Die aktuelle Reform hat zum Ziel, moderne Standards in das georgische Erziehungswesen einzuführen. Der Staat gibt seit kurzem Studiengutscheine an die Studierenden aus, sodass diese selbst entscheiden können, an welche Schulen und Universitäten die staatlichen Subventionen fließen sollen. Das alte Lehrpersonal (das zu 90 Prozent an der Tschawtschawadse-Universität konzentriert war) wurde entlassen, stattdessen wurden neue und häufig jüngere Professoren eingestellt. Die Gehälter wurden um das Vier- bis Fünffache angehoben. Und die Einführung einer landesweit einheitlichen Universitätseingangsprüfung hat die Korruption drastisch eingedämmt. Die neue politische Führung hat auch eine Privatisierung auf breiter Front eingeleitet. Ihr Plan sieht vor, die Universitäten bis 2010 vollständig zu privatisieren und sie stärker auf die Wirtschaft auszurichten. Unter anderem soll die universitäre Ausbildung auch durch private Sponsoren subventioniert werden. Der Gesundheitssektor soll ebenfalls in private Hände übergehen. Nach den offiziellen Zahlen sind bereits 70 der 108 Krankenhäuser des Landes privatisiert; zugleich hofft die Regierung, über private Investoren 100 neue Krankenhäuser finanzieren zu können.3
Die Reformen orientieren sich also am neoliberalen Modell und speziell an dessen US-amerikanischer Variante. Das Arbeitsrecht wurde „flexibilisiert“, seitdem befinden über die Entlassung und Einstellung von Arbeitskräften allein die Unternehmer. Alle Importzölle, bis auf die für Agrarprodukte, wurden aufgehoben, alle bürokratischen Regelungen stark abgebaut. Ein neues Gesetz soll die Unternehmenssteuer von 20 auf 15 Prozent reduzieren. Ziel dieser Politik ist es, ausländische Investitionen zu fördern, um dadurch die Volkswirtschaft Georgiens zu modernisieren.
Diese umfassende gesellschaftliche Umstrukturierung konnte nur deshalb durchgezogen werden, weil die herrschende Partei, NMD, den Staat wie die politische Arena vollständig dominiert. Die Bedingungen, die das Drama der Rosenrevolution möglich machten, haben zugleich die Macht in wenigen Händen konzentriert. Ende 2003 verschwand zunächst Schewardnadses Parteienblock „Für ein neues Georgien“ von der politischen Bühne. Damit war die Partei eliminiert, die sich zu einer bedeutenden oppositionellen Kraft hätte entwickeln können. Sodann vereinigten sich die Parteien der Revolution – Saakaschwilis Nationale Bewegung und der Block der Burjanadse-Demokraten4 unter Führung des 2005 verstorbenen Ministerpräsidenten Surab Schwania – zu der neuen Regierungspartei, die sich „Nationale Bewegung – Demokraten“ (NMD) nannte. Auch die Jugendbewegung „Kmara!“, die das „Fußvolk“ der Revolution gestellt hatte, ging in der herrschenden Partei auf.
Die Parteifahne ist zur Staatsflagge geworden
Die überhastete Verfassungsreform, die im Januar 2004, nur wenige Tage nach der Revolution, vollzogen wurde, verstärkte die Machtstellung des Präsidenten. Nach der Verfassungsänderung wurden am 28. März 2004 die manipulierten Parlamentswahlen vom 2. November 2003 wiederholt. Die NMD gewann 66 Prozent der Stimmen; zugleich bewirkte die 7-Prozent-Hürde, an der die NMD trotz Kritik aus dem Ausland festhielt, dass lediglich eine kleine rechte Industriellenpartei, die 7,6 Prozent der Stimmen erhalten hatte, im Parlament die Opposition bildet. Infolgedessen kann die NMD heute die legislative Gewalt unbeschränkt ausüben und jedes von ihr eingebrachte Gesetz verabschieden.
Als am 3. Februar 2005 Ministerpräsident Surab Schwania, der politische Mentor von Saakaschwili, starb, war das letzte Hindernis für die Entstehung einer von oben nach unten funktionierenden Machtpyramide beseitigt. In einem symbolischen Akt wurde jetzt die Fahne der Nationalen Bewegung (fünf rote Kreuze auf weißem Grund) zur georgischen Nationalfahne – als wolle man demonstrieren, dass die herrschende Partei und der Staat identisch geworden sind.
Die politische Dominanz der NMD ist nach Ansicht der Unterstützer der gegenwärtigen Führung Georgiens eine notwendige Bedingung für die zügige Umsetzung der Reformen. Nur so werde das Land nicht in die gleiche Falle tappen, in der Serbien und die Ukraine gelandet sind. Saakaschwili hat mit großer Sorge das Schicksal des serbischen Reformpolitikers Zoran Djindjic verfolgt, der von Kräften des alten Regimes ermordet wurde, und ebenso die Grabenkämpfe innerhalb des Lagers der „orangen Revolution“ in der Ukraine.
Doch den Anhängern der georgischen Revolution ist durchaus bewusst, dass ihr Experiment – Aufbau eines Staats in einem armen Land mit einer ungelösten sozialen Frage bei gleichzeitiger Wahrung der demokratischen Werte – ein sehr heikler Balanceakt ist, um es milde auszudrücken. David Darchiaschwili, Repräsentant der von George Soros finanzierten Open Society Foundation in Georgien, formuliert es so: „Die georgische Revolution wurde von der Elite gemacht, wenn auch mit Unterstützung des Volkes. Darin zeigt sich die Schwäche dieses Prozesses, der immer wieder auf Unterstützung von unten angewiesen ist. Wenn man allerdings zulässt, dass dieser Einfluss von unten total wird, dann bekommt man am Ende keine demokratischen Reformen.“
Parallel zu den demokratischen Bestrebungen verstärkt sich in Georgien die Tendenz zum autoritären Staat, aber auch der Nationalismus. Der ethnisch-territoriale Konflikt, der das Land zu Beginn der 1990er-Jahre belastet hat, beherrscht auch heute wieder die Schlagzeilen. Während der Revolution war das Problem des rechtlichen Status von Abchasien und Südossetien kein politisches Thema. Doch kaum war die Revolution vollbracht, erhielt die territoriale Vereinigung Georgiens oberste Priorität. Das Bemühen, Adscharien vollständig zurückzugewinnen – einen reichen Küstenstrich am Schwarzen Meer nahe der türkischen Grenze –, endete im Mai 2004 mit einem großen politischen Erfolg für die Regierung Saakaschwili. Doch der Versuch, die Kontrolle über Südossetien zurückzuerlangen, löste gewaltsame Konflikte und wachsende Spannungen mit Russland aus.5
Salome Surabischwili, von März 2004 bis Oktober 2005 georgische Außenministerin und davor als Diplomatin in französischen Diensten, glaubt nicht, dass der aktuelle Zwist zwischen Moskau und Tbilissi auf dem Konflikt um Südossetien beruht. Denn gleich nach den bewaffneten Zusammenstößen seien die Verhandlungen über die Schließung der russischen Militärbasen wieder in Gang gekommen und Moskau habe zugesagt, seine Stützpunkte in Batumi und in Achalkalaki zu schließen und bis 2008 endgültig zu räumen.
Erst mit der Verhaftung von vier russischen Offizieren, die von Georgien der Spionage bezichtigt wurden, sei eine Wende eingetreten. Wollte Tbilissi damals die Aufmerksamkeit des Westens erregen, um schneller in die Nato aufgenommen zu werden? Wenn das der Fall war, meint Surabischwili, hat man das Gegenteil erreicht: „Wenn man in die Nato will, braucht man sich dazu nicht mit Moskau anzulegen, denn das dürfte bei gewissen Ländern die Begeisterung für eine Nato-Mitgliedschaft Georgiens eher dämpfen.“
In den Augen der Exaußenministerin sind einige Züge des aktuellen Regimes „neobolschewistisch“, zum Beispiel die Rolle der Regierungspartei NMD in der Gesellschaft: „Die ‚Erziehung‘ der Jugend in patriotischen Zeltlagern, die ideologische Instrumentalisierung, all das entspricht mehr einem totalitären als einem demokratischen Regime. Warum braucht man solche Instrumente?“ In diesem Sommer soll eines dieser Jugendlager in der Nähe der Konfliktregion Abchasien abgehalten werden, und viele fürchten, dass die jungen Aktivisten dann die Frontlinie überschreiten und gewaltsame Konflikte in einer ohnehin spannungsreichen Region provozieren könnten.
Saakaschwili macht derzeit auch Anstalten, Swiad Gamsachurdia zu rehabilitieren, der bis heute als sehr umstrittene Figur gilt und für das Chaos verantwortlich gemacht wird, das in Georgien zu Beginn der 1990er-Jahre entstanden war. Im April wurde die Leiche Gamsachurdias überführt und mit offiziellen Ehren in Tbilissi bestattet. Aber über seine politische Hinterlassenschaft und die Konflikte, die seine nationalistische Politik dem Land bescherte, hat man in Georgien bislang kaum diskutiert.
Der nationalistische Eifer einer politischen Führung, die sich selbst eindeutig als neoliberal und Teilhaber am allgemeinen Globalisierungstrend inseriert, mag dem Beobachter ziemlich widersprüchlich vorkommen. Doch die nationale Bewegung stellt damit sicher, dass sie die politische Szene allein beherrscht und die Entstehung einer starken Opposition auf der Basis einer nationalistischen Ideologie verhindert.
Lewan Ramischwili ist Direktor des Liberty Institute, einer 1996 gegründeten georgischen Nichtregierungsorganisation, die in der Rosenrevolution eine wichtige Rolle gespielt hat. Als Ziele dieser Revolution nennt Ramischwili den Aufbau einer Demokratie wie überhaupt eines funktionierenden Staates. Vor allem aber sei das Ganze als ein Modernisierungsprojekt gedacht. Deshalb seien vorübergehend auftretende Mängel – wie die Suspendierung bestimmter Freiheitsrechte – oder ökonomische Opfer zu rechtfertigen, wenn sie im Hinblick auf das künftige Endziel als unvermeidlich erscheinen.
Diese „vorübergehenden Mängel“ sind also die Kehrseite der Medaille: Seit der Rosenrevolution Menschenrechtsverletzungen wie Folter in den Gefängnissen haben zugenommen, und auch die Medien sind nicht mehr so frei wie früher6 . Vor allem aber gibt es im politischen System heutzutage kaum noch „checks and balances“, womit eine Kontrolle der Exekutive nicht mehr gegeben sei.
Irakli Iaschwili, ein Parlamentsabgeordneter der rechtsliberalen New Rights Party, nennt ein Beispiel: „Die Besitzrechte sind nicht geschützt, es gibt einen unkontrollierten Prozess der Umverteilung von Besitztiteln.“ Die Regierung bejubele die Zunahme ausländischer Investitionen, doch die meisten dieser Investitionen kämen aus Russland, Kasachstan oder Aserbaidschan. Sie werden nicht wegen der ökonomischen Vorteile gemacht, die Georgien bietet, sondern aus politischen Motiven. Doch das Hauptproblem bleibt für Iaschwili das Justizwesen: „Die Gerichte fungieren nur noch als Erfüllungsgehilfe der Staatsanwälte“, sagt er mit einem ironischen Lächeln.
Die Politikwissenschaftlerin Marina Muschelischwili meint, in Georgien vollziehe sich eine wirkliche Revolution, bei der es allerdings nicht um Demokratie gehe. Sichtbar werde dies schon an der sozialen Herkunft der aktiven Kräfte: „globalisierte“ georgische Yuppies, die Englisch sprechen, mit Computern vertraut sind und neoliberal denken.
Allerdings können nur fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung Englisch, während sich die älteren, Russisch sprechenden und sowjetisch erzogenen Gruppen der Gesellschaft zunehmend an den Rand gedrängt sehen: „Das Ergebnis ist eine ausgeprägte Schichtenbildung. Viele Menschen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse.“
Viele alte Muster wiederholen sich
Aber ist es wirklich unabdingbar, dass die Georgier demokratische Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit und auch politische Strukturen aus der späten Phase der Schewardnadse-Ära aufgeben, um einen neuen Staat aufzubauen? Und kann man wirklich von einem Modernisierungsprojekt sprechen?
Marina Muschelischwili meint, ein so eindeutig neoliberales Projekt könne man doch wohl nicht als „modernisierend“ qualifizieren: „Die politische Strategie, die man neuerdings einschlägt, bietet keine Lösung für die Hauptprobleme, vor denen die heutige georgische Gesellschaft steht, nämlich Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit.“ Und sie sagt entschieden: „Vor fünfzehn Jahren führte der Weg zu einem westlichen Modell über Privatisierung und den Aufbau eines politischen Pluralismus. Heute führt der Weg nach Europa über soziale Gerechtigkeit und den Kampf gegen die Armut.“
Es ist denn auch ein gemischtes Bild, das sich aus den ökonomischen „Erfolgszahlen“ ergibt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs 2005 um 9 Prozent und 2006 um 8 Prozent, die Steuereinnahmen nahmen 2004 um 46 und 2005 noch einmal um 15 Prozent zu.7 Doch parallel dazu stieg der Anteil der Armen in der Bevölkerung von 2004 bis 2006 von 35,7 auf 40 Prozent8 und die Arbeitslosigkeit von 12,7 Prozent 2004 auf 13,8 Prozent 2005. Der Durchschnittslohn liegt bei 45 Euro und die Renten im Schnitt bei 22 Euro pro Monat.9 Zwar sind die staatlichen Einnahmen aus Steuern und Privatisierungsgewinnen deutlich gestiegen, aber ein Viertel des Staatshaushalts fließt in den Verteidigungsetat (siehe Kasten).
Unter Revolution versteht man im Allgemeinen einen radikalen Bruch in der Geschichte einer Gesellschaft. Doch wie Moshe Levin in seiner Darstellung der russischen und sowjetischen Geschichte gezeigt hat, kann man eine Revolution auch unter dem Aspekt der Kontinuität analysieren, als ungebrochenes Fortdauern der sozialen und politischen Strukturen in veränderten Formen.10 Im heutigen Georgien haben wir es trotz der prowestlichen Wende und einer demokratischen Rhetorik im Grunde mit einer Reproduktion der alten Strukturen zu tun, wobei nur der institutionelle Überbau erneuert wurde.
Saakaschwili ist der dritte Präsident seit der georgischen Unabhängigkeit. Als solcher steht er einerseits für deutlich sichtbare revolutionäre Veränderungen in der georgischen Politik, doch andererseits lässt sich auch eine Wiederholung der alten Muster erkennen. Der erste Präsident Swiad Gamsachurdia wurde 1991 mit 86 Prozent der Stimmen vom Volk gewählt. Ihm folgte 1992 Eduard Schewardnadse mit 91 Prozent der Stimmen, und Saakaschwili kam 2004 sogar auf 96 Prozent. Als Gamsachurdia und Schewardnadse aus dem Amt schieden, hinterließen sie keine politische Partei, die im Parlament die Rolle einer Opposition hätte übernehmen können. Beide verloren ihr Amt auf nicht verfassungsgemäße Weise: Gamsachurdia durch einen bewaffneten Aufstand, Schewardnadse durch die Rosenrevolution.
Doch es gibt noch mehr Parallelen zwischen Saakaschwili und dem politischen Führer, den er mit seiner Rosenrevolution gestürzt hat. Als Schewardnadse 1972 im alten sowjetischen Georgien an die Macht kam, deklarierte er als seine Hauptaufgabe, „die Korruption zu bekämpfen“. In der Folge ließ er tausende korrupte Parteimitglieder verhaften, und Georgien wurde zu einer Art Musterland, in dem ein Grad von Meinungsfreiheit wie von freiem Handel kommend herrschte, der für die damalige Sowjetunion einmalig war. Entsteht in Georgien auch jetzt wieder ein politisches System, in dem revolutionäre Leidenschaften und der Kampf gegen die Korruption die nächste Revolte hervorbringen?
Fußnoten:
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Vicken Cheterian ist Journalist und lebt in Genf.