Kalkutta möchte auch glänzen
von Cédric Gouverneur
Der Flughafen von Kalkutta sieht reichlich verstaubt aus im Vergleich zu den neuen Stahl- und Glasterminals, die in den letzten Jahren von Delhi über Hyderabad bis Bangalore errichtet wurden – den Wachstumszentren des glänzenden Indien, Shining India. „Welcome to the City of Joy“, „Willkommen in der Stadt der Freude“, verkündet eine Tafel in der Ankunftshalle, ein Hinweis auf den bekannten Roman von Dominique Lapierre.1 Am Telefon erklärt der Autor, der Titel seines Romans sollte „den Mut, die Widerstandskraft, die Energie“ der Slumbewohner ausdrücken, deren apokalyptischen Alltag er beschrieben hat: „Wie Rabindranath Tagore2 sagte: Die Widrigkeiten sind groß, aber der Mensch ist noch größer.“ Ein Drittel der 4,5 Millionen Einwohner von Kalkutta (im Einzugsbereich sind es 13,2 Millionen) lebt in den Slums. In Bombay, dem Wirtschaftszentrum des Landes, sind es sogar 55 Prozent.3
Kalkutta, die einzige Megastadt im Osten Indiens, zieht seit ihrer Gründung durch die Briten Ende des 17. Jahrhunderts die Landbevölkerung der Umgebung an, die aus wirtschaftlichen Gründen, vor Hunger (1943) und Krieg (1947 und 1971) floh. „Eine für 300 000 Einwohner geplante Stadt“, erklärt Lapierre, „in die durch Kriege und Naturkatastrophen Millionen von Menschen hineingespült wurden, wo alle Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Manchmal gibt es nur eine Toilette oder Wasserstelle für 5 000 bis 6 000 Menschen.“ Das Wirtschaftswachstum hat den Exodus nicht eindämmen können: Die Nichtregierungsorganisation Les Samaritains (Die Samariter) schätzt, dass sich heute jeden Tag „tausend neue Migranten“ im Stadtgebiet ansiedeln. Die Landbevölkerung will dem wirtschaftlichen Stillstand im Dorf, dem Mangel an Perspektiven, dem Druck von Kastensystem und Religion entkommen, manchmal flieht sie auch vor Gewalt – vor Familienfehden, der Willkür der Oberschicht oder der naxalitischen Guerilla.4
Eine Minderheit stammt aus dem benachbarten Bangladesch: Für 3 000 Rupien (ungefähr 47 Euro) kann man die Grenze illegal überschreiten, die Sprache ist dieselbe, und die Ausweisung lässt sich mit einem Bakschisch an die Polizei verhindern. In der Stadt kann man sich jenseits vom gesellschaftlichen Konformismus ein neues Leben und eine neue Identität aufbauen. „Hier zählt nur der gesellschaftliche Status“, erklärt Professor Patrick Ghose, der seine Stadt genau beobachtet. „Wenn Sie aus einer niedrigen Kaste stammen, können Sie Ihren Namen ganz legal für 700 Rupien (ungefähr 11 Euro) ändern.5 Jeder kann sich hier niederlassen und sich zu Hause fühlen.“
Auch wenn es in Kalkutta weniger Slums gibt als in Bombay, ist hier das Elend dennoch viel sichtbarer. Das krasseste Beispiel sind die von Menschen gezogenen Rikschas. Mitten im Zentrum an der Mutter-Teresa-Straße,6 nicht weit von McDonald’s, zieht ein alter, sonnenverbrannter, barfüßiger Mann auf seinem Handkarren einen jungen, wohlbeleibten, westlich gekleideten Mann, der auf seinem Smartphone herumtippt. Ein solches Fuhrwerk wirft ein Schlaglicht auf die Gegensätze im Shining India und die übelste Form der Ausbeutung. In den 2000er Jahren hatten die Behörden versucht, dieses Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert zu verbieten. Ohne Erfolg: Tausende von Rikschafahrern wehrten sich gegen das Verbot ihres Berufs, da sie keine Alternative hatten.
Der 42-jährige Makranj ist seit fünfzehn Jahren Rikschafahrer. Früher, erzählt er, war er Bauer im benachbarten Bundesstaat Bihar. Schlechte Ernten haben ihn hierher gebracht. Sein Karren gehört ihm nicht, er muss ihn für 150 Rupien (2,30 Euro) pro Woche leihen. Mit dem Transport von Personen und Waren verdient er 150 bis 200 Rupien pro Tag. Zusammen mit drei anderen Fahrern teilt er sich ein einziges Zimmer „im Haus einer reichen Familie“. Sie zahlen keine Miete, sondern kümmern sich um den Haushalt, kaufen ein und pflegen den Garten. Makranj spart, um jeden Monat 3 000 bis 4 000 Rupien ins Dorf zu schicken, wo seine Frau und seine vier Kinder leben. Manchmal zockt ihn die Polizei ab oder Kunden schikanieren ihn. Makranj meint trotzdem, er habe Glück: Seine Familie lebt in einem Haus auf dem Land, nicht auf einem Bordstein der Megastadt.
Eine Rupie für ein Kilo Abfall
Ein Stück weiter hat Lakshmi mit ihrer Familie ihre Plane auf der Straße ausgebreitet. Nachdem sie ihren betrunkenen Mann gebeten hat, still zu sein, erzählt sie uns ihr Leben. Sie macht für 100 bis 200 Rupien am Tag den Haushalt „in den Häusern von Reichen“. Ihre mageren Kinder sammeln und sortieren Abfälle, jedes Kilo bringt eine Rupie. Eines der Kinder ist geistig behindert, der kleine Bruder hat eine böse Augeninfektion. Die Polizei verjagt sie häufig, und sie müssen sich anderswo neu einrichten. Von den 5 500 Slums von Kalkutta sind mehr als 3 500 immer noch illegal.7 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen erzählen unter der Hand, manche Polizisten würden mit Ausweisung drohen, um sexuelle Gefälligkeiten zu erhalten.
Das Leben auf der Straße folgt einer gewissen Routine. Am Morgen wäscht man sich an den Wasserpumpen. Händler und Handwerker hocken auf Ziegelsteinen, das Werkzeug in einer Jutetasche zu ihren Füßen, und warten auf Kunden: Barbiere, Schuster, Schneider, Schuhputzer, Zimmerer, Wäscherinnen, Einzelhändler und so weiter. Nach Schätzungen von NGOs arbeiten etwa 250 000 Menschen in Kalkutta auf der Straße. Frisch rasiert, in gebügeltem Hemd frühstücken Männer an einem Straßenimbiss. „In Kalkutta können Sie Reis und Gemüse für 5 Rupien essen oder Fisch für 16 Rupien. In Delhi oder Bombay kostet es dreimal so viel“, sagen die Samariter. Dann geht jeder zur Arbeit.
Die meisten Slumbewohner gehen einer Tätigkeit nach, ob offiziell oder informell, vom Müllsammler bis zum Kleinunternehmer. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und der geringen Produktionskosten versorgen sich die Slums oft größtenteils selbst: Produkte und Dienstleistungen werden von den Bewohnern selbst hergestellt und konsumiert.8 „In den Slums der Bronx in New York habe ich arme Menschen gesehen, die entwurzelt und wirklich verzweifelt waren“, berichtet Lapierre. „Aber nicht in Kalkutta, hier erlebt man mehr Feste und Feierlichkeiten als irgendwo sonst.“
Kalkutta will jedoch nicht auf das Elend reduziert werden. Die Mittel- und Oberschicht ärgert sich über dieses – ihrer Meinung nach – eingeschränkte Bild. Doch vor allem wegen der allgegenwärtigen Hinweise auf Mutter Teresa (Fotos, Gedenktafeln, in Stein gemeißelte Zitate und so weiter) in den Straßen hinterlässt die bengalische Megastadt trotzdem einen bettelarmen Eindruck, fast eine Karikatur ihrer selbst. „Kennen Sie das Buch ‚Orientalismus‘9 von Edward Said?“, fragt Aveek Sen, Schriftsteller und Kulturkorrespondent der Tageszeitung The Telegraph. „Es ist ein ganz bestimmtes Indienbild, das dem Westen vermittelt wird, und das genauso ausfällt, wie es sich die Westler vorstellen.“
Den Kommunisten, die in Kalkutta und im Bundesstaat Westbengalen von 1977 bis zum Mai 2011 an der Macht waren, werfen viele Bengalen vor, dass sie niemals versucht hätten, das Bild der Stadt in den Augen der Welt zu verändern. Das ist einer der Gründe für ihre Wahlniederlage vor drei Monaten gegen den Trinamool Congress (TMC) von Mamata Banerjee (siehe Text rechts): Es hieß, die kommunistische Regierung habe mit ihrer Unbeweglichkeit zu einem gewissen Niedergang der Stadt beigetragen.
Kalkutta hat in der Tat von dem Jahrzehnt des großen Wirtschaftsaufschwungs weniger profitiert als die anderen indischen Metropolen. Viele der viktorianischen Bauten fallen in sich zusammen oder gar auf die Köpfe der Passanten, die Stadt macht einen maroden Eindruck. Qualifizierte Arbeitsplätze sind rar, und nach Aussagen der Arbeitnehmer auch schlechter bezahlt als anderswo. Indische und internationale Künstler verlassen Kalkutta, das lange als Kulturhauptstadt Indiens galt, und gehen stattdessen nach Delhi oder Bombay. Die gebildete bengalische Mittelschicht beklagt sich über diesen Mangel an Tatkraft, und viele ziehen in andere Städte, die ihren Vorstellungen stärker entsprechen.
Dennoch besitzt Kalkutta immer noch eine gepflegte U-Bahn, klimatisierte Einkaufszentren und Industriegebiete, in denen die unvermeidlichen Callcenter und IT-Firmen boomen, die zum Symbol des indischen Kapitalismus geworden sind. Diese Entwicklung nutzt Lapierre zufolge den kleinen Leuten jedoch gar nichts: „Durch die Modernisierung werden die Stadtviertel unerschwinglich für ihre Bewohner, die anderswohin ziehen müssen. Die U-Bahn ist zu teuer. Und allein der Stromverbrauch für die Klimatisierung der riesigen Shopping Malls sorgt für Stromabschaltungen in der ganzen Stadt.“
Im Jahr 1985 erklärten viele der wohlhabenden Bewohner von Kalkutta, sie wüssten nichts über die Lage in den Slums. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. „350 Millionen Inder gehen jeden Abend mit halb leerem Magen schlafen. Das ist die Realität, die die Mittelschicht in diesem neuen, angeblich glänzenden Indien lieber gar nicht zur Kenntnis nimmt“, meint Lapierre. „Die Armen hingegen wissen vor allem dank des Fernsehens, wie die Reichen leben. Ich mag mir lieber nicht ausmalen, was passiert, wenn ein Führer vom Format Gandhis sie eines Tages zum Aufstand aufruft.“
Didi, die Heldin
Die Wahlniederlage vom 13. Mai 2011 trug den Kommunisten, die seit 1977 in Kalkutta und Westbengalen regiert hatten, den Spott der liberalen Medien ein. Doch vom Marxismus-Leninismus war in der „Left Front“ ohnehin nicht viel übrig geblieben: Seit einem Jahrzehnt verfolgte die als links geltende Parteienkoalition eine neoliberale Politik. So erschienen Mamata Banerjee und ihr Trinamool Congress (TMC) als die bessere Alternative.
Die Wähler haben vor allem ein erstarrtes politisches System abgewählt. Nach ihrem Machtantritt im Jahr 1977 hatte die Communist Party of India (Marxist) oder CPI(M) eine große Landreform durchgeführt, die Millionen Bauern zugutekam. Danach versank sie allmählich in Klientelismus, Korruption und Wahlfälschungen. Nachdem sie bis 2001 allen Investoren die Tür gewiesen hatte, setzte die Regierung plötzlich brutal deren Interessen durch und vertrieb Bauern für neue Industrieansiedlungen. Am 14. März 2007 erschoss die Polizei vierzehn Demonstranten, die im Dorf Nandigram gegen eine Sonderwirtschaftszone protestiert hatten.
„Left Front war doch nur ein Name“, meint Biplab Halim, Menschenrechtsaktivist und Mitglied der Wahlkommission von Westbengalen. „Das Volk fühlte sich verraten.“ Und die Investoren „haben verstanden, dass sie mit den brutalen Methoden der Left Front nicht weiterkommen und dass sie ihre Interessen besser vertreten können, wenn sie Mamata unterstützen“.
Banerjee ist eine starke Persönlichkeit, impulsiv und entschlossen, und sie stammt aus dem Volk. „Mamata konnte Wähler aus verschiedenen Schichten der bengalischen Gesellschaft an sich binden“, sagt Sobhandeb Chottopadhyay, Fraktionschef der TMC im westbengalischen Parlament. Er betrachtet Trinamool – eine regionale Abspaltung der Kongresspartei – als eine Mitte-links-Partei. „Die Menschen wollten Veränderung, und sie haben mit Mamata die Person gefunden, die diese Veränderung verkörpert.“
Rund um Mamata Banerjee ist ein wahrer Personenkult entstanden. „Didi“ („Schwester“) weiß mit den Medien umzugehen: Nach ihrer Wahl besuchte die neue „Chief Minister“ von Westbengalen ohne Ankündigung Krankenhäuser und Polizeiwachen, prangerte die Misswirtschaft im öffentlichen Dienst an und entließ einige Verantwortliche. Die Bengalen, die sich täglich mit der Arroganz der Bürokraten herumschlagen müssen, waren begeistert. Um die Interessen der unterschiedlichen Wählerschichten zu bedienen, musste sie jedoch einen Spagat machen: So unterstützte sie den Widerstand der Bauern gegen die von der Left Front so ungeschickt durchgesetzten Industrieprojekte – andere meinen jedoch, sie habe den Widerstand nur für ihre eigenen Zwecke genutzt. Angesichts der vom TMC angeführten Bauernproteste verzichtete die Tata-Gruppe Ende 2008 auf den Bau einer Fabrik in Singur in der Nähe von Kalkutta. Das Billigauto Tata Nano wird jetzt im Bundesstaat Gujarat gebaut und schafft dort etwa 10 000 direkte und indirekte Arbeitsplätze. Das hindert „Didi“ nicht daran, zu versprechen, sie werde künftig „Investoren anlocken“ und aus Kalkutta das Ebenbild „Londons oder Hongkongs“ machen.
Cédric Gouverneur