12.08.2011

Postkommunistische Metamorphosen

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Postkommunistische Metamorphosen

Russland von Gorbatschow bis Putin von Tony Wood

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Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls sind mehrere Bücher erschienen, die noch einmal den Niedergang der Regime östlich des Eisernen Vorhangs nacherzählen.1 In diesen Rückblicken spielt natürlich die Sowjetunion – und damit Russland – eine maßgebliche Rolle. Andererseits hat es in den letzten zwanzig Jahren nur wenige Bücher gegeben, die sich gründlich mit der Entwicklung in Russland seit der Auflösung der Sowjetunion im Sommer 1991 befassen. Eine der wenigen Ausnahmen ist Daniel Treismans Buch „The Return“, das „den Weg Russlands von Gorbatschow zu Medwedjew“ verfolgt.2

Bekannt wurde Treisman als Koautor eines polemischen Aufsatzes über „Ein normales Land“, der schon 2004 in der US-Zeitschrift Foreign Affairs erschienen ist.3 Das postsowjetische Russland, so die Behauptung der beiden Autoren, leide weniger unter seiner einzigartigen historischen Bürde – das Erbe der Zarenherrschaft, ein tief verwurzelter Bürokratismus und so weiter – als vielmehr unter einer Reihe von Entwicklungsproblemen, die auch andere Länder „mittlerer“ Wirtschaftskraft kennzeichnen, wie Korruption, schwache Institutionen und eine hohe Anfälligkeit für Wirtschaftskrisen. Nach dieser Auffassung war die postsowjetische Transformation ein allmählicher Anpassungsprozess mit denselben Merkmalen, die auch andere Länder in einem vergleichbaren Entwicklungsstadium kennzeichnen.

Die Stoßrichtung war klar: Die neoliberalen Reformen der 1990er Jahre sollten als Erfolg erscheinen. Ihnen sei zu verdanken, dass Russland nun den ihm gebührenden Platz in der Rangliste der Volkswirtschaften einnehme. Treismans Ansatz hatte zumindest das Verdienst, einen nüchternen Ton in die Diskussion um Russland zu bringen und die Stereotype des Kalten Kriegs sowie den Mythos von der russischen Seele hinter sich zu lassen.

Auf ähnliche Weise versucht Treisman in seinem neuen Buch ein genaues Porträt des Landes zu liefern, also die russische Realität zu beschreiben – und nicht, was sich Politiker und Medienleute im Westen zurechtfantasieren. Damit grenzt er sich sowohl gegen die neoliberalen Ideologen ab, die alle Probleme Russlands darauf zurückführen, dass die marktwirtschaftlichen Reformen nicht konsequent genug durchgesetzt wurden, als auch gegen Autoren, die gerade diese Reformen für die Missstände des Landes verantwortlich machen.4

Doch obwohl sich Treisman mit dieser Argumentation die Autorität eines unabhängigen Beobachters zu verschaffen sucht, mündet seine Darstellung am Ende gleichwohl in den marktliberalen Mainstream des Westens. In der ersten Hälfte bietet das Buch eine politische Geschichte der letzten zwanzig Jahre, wobei sich die einzelnen Kapitel auf die Persönlichkeiten und Karrieren der Präsidenten konzentrieren. Dabei wird Michail Gorbatschow zum „erfolgreichsten Versager der Geschichte“ ernannt, Boris Jelzin dagegen als „Held mit Fehlern“ präsentiert, der das Land instinktiv durch die tückischen Klippen der politischen und ökonomischen Krisen gesteuert habe. Wladimir Putin wiederum erscheint als zwielichtiger Profiteur einer günstigen Wirtschaftsentwicklung und Dmitri Medwedjew als eine Art Ersatzdarsteller, dessen Zukunft zwei Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten immer noch genauso unklar ist wie sein politisches Programm.

Die zweite Hälfte des Buches behandelt denselben Zeitraum, allerdings in Form breit angelegter Analysen über wichtige Einzelbereiche. Geschildert werden etwa die Dynamik, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt hat, die ökonomische Transformation der 1990er Jahre, die Kriege in Tschetschenien und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Dabei sind Treismans Schlussfolgerungen zumeist wenig überraschend. So braucht er ein ganzes Kapitel, um herauszufinden, dass die Popularität jedes russischen Präsidenten entsprechend dem Auf und Ab der wirtschaftlichen Konjunktur schwankte. In anderen Kapiteln widerspricht er dagegen der gängigen Wahrnehmung. So zeigt er beispielsweise Verständnis für die russische Verärgerung über die Osterweiterung der Nato und die Scheinheiligkeit der US-Außenpolitik.

Jelzin als russischer Sisyphos

Treisman stellt den Zerfall der UdSSR als eine Kette von Zufällen dar. Zwar habe die vermasselte Reformpolitik der 1980er Jahre – und das Versäumnis der früheren Führungen, den Niedergang der industriellen Basis aufzuhalten – die Sowjetunion an den Rand des Abgrunds gebracht. Doch der endgültige Absturz war für ihn das Ergebnis mehrerer „Unglücksfälle“ beziehungsweise der „stümperhaften Reaktionen darauf“. Entschieden wendet sich Treisman gegen die Vorstellung, die UdSSR sei letztlich durch die Ausbreitung nationalistischer Tendenzen aufgesprengt worden. Vielmehr hätten sich die Sowjetbürger erst dann den neu formierten nationalistischen Kräften zugewandt, als sich der Zusammenbruch des alten Systems schon klar abgezeichnet habe.

Allerdings hat der Faktor Zufall ausgespielt, sobald Treisman zu den marktliberalen Reformen der 1990er Jahre kommt. Jetzt behauptet er, zu dem von Jelzin eingeschlagenen Kurs habe es keine realistische Alternative gegeben. Vielmehr habe Jelzin ein „Desaster“ geerbt, das „noch schlimmer war, als die meisten Beobachter es wahrgenommen haben“, und dennoch sei es ihm mit seiner Politik des Improvisierens gelungen, das Land zusammenzuhalten.

Die Bilanz der Ära Jelzin sieht für Treisman gar nicht so schlecht aus. Der deutliche Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gebe das Bild nicht verlässlich wieder. Viele Leute hätten auch in diesem Jahrzehnt ihren Lebensstandard erhöhen können, was er mit der Zahl der verkauften Fernseh- und Haushaltsgeräte belegen will. Dabei fällt allerdings unter den Tisch, was den Menschen in dieser Zeit an öffentlichen Gütern abhanden kam: die Leistungen im Gesundheits- und Erziehungswesen, die Beschäftigung im öffentlichen Sektor und die gesellschaftliche Solidarität im Allgemeinen.

Letzten Endes läuft die Darstellung Treismans auf eine Rechtfertigung der Reformen in der Jelzin-Ära hinaus. Und auf eine neue Version der Geschichte vom einsamen Visionär, der sich wie ein russischer Sisyphos damit abrackert, den Felsbrocken – sein Programm der liberalen Demokratie – den Steilhang hinaufzurollen und sich damit gegen die Schwerkraft der russischen Verhältnisse zu stemmen.

Wie viele andere geht auch Treisman von der Prämisse aus, unter Jelzin habe das System der liberalen Demokratie wichtige – wenn auch stets gefährdete – Fortschritte gemacht, während unter Putin eine Art Rückmarsch in die autoritäre Vergangenheit begonnen habe. Hier fehlt jedes Gespür für die tieferen ideologischen Strömungen, die den Transformationsprozess der 1990er Jahre angetrieben haben. Damals wurde in Russland nämlich nicht die Demokratie schlechthin gefestigt, sondern der Kapitalismus. Das zeigt sich schon an der Tatsache, dass die sogenannten Reformer keinerlei Skrupel hatten, ihre Schocktherapie ohne demokratisches Mandat durchzusetzen. Und dass sie Jelzin auch dann noch unterstützten, wenn er gegen die Verfassung verstieß. Das tat er im Übrigen wiederholt, am rabiatesten im Oktober 1993, als er das Gebäude des russischen Parlaments beschießen ließ. Tatsächlich wurden in Russland die Prinzipien der Demokratie immer dann vergessen, wenn die kapitalistischen Besitzverhältnisse bedroht waren.

Eine andersgeartete Sicht auf die postkommunistischen Metamorphosen in Russland müsste diese kapitalistischen Interessen zum Ausgangspunkt nehmen und die Methoden ins Auge fassen, mit denen die neue Elite die Entwicklung des Landes im Sinne ihres Klassenprojekts vorangetrieben hat. Das wiederum geht nicht ohne eine klare Vorstellung vom Charakter und der Zusammensetzung dieser Elite. Also ohne eine Antwort auf die Frage: Wer herrscht in Russland?

Die soziale Elite, die sich im Mahlstrom dieser entscheidenden 1990er Jahre herausgebildet hat, bestand vor allem aus ehemaligen Mitgliedern der alten KP-Nomenklatura und einer Schicht aufsteigender Unternehmer. Letztere hatten ihre Vermögen entweder mit dem Export von Metallerzen und anderen mineralischen Rohstoffen gemacht, mit fragwürdigen Finanzoperationen oder auch mit der Ausplünderung der alten sowjetischen Industrieanlagen. Der rasante Wertverfall des Rubels im Jahr 1998 hat die Basis dieser Elitenstruktur verschoben: Er hat den Banken- und Finanzsektor geschwächt und die Unternehmer gestärkt, die für den einheimischen Markt produzierten.

Aber der entscheidende Faktor – für die Elite wie das Land insgesamt – war das seit der Jahrtausendwende anhaltend hohe Preisniveau für Erdöl und Erdgas, das nicht nur großen Staatskonzernen wie Rosneft und Gazprom, sondern auch privaten Unternehmen wie Surgutneftegaz und Yukos (das 2003 zerschlagen wurde) satte Gewinne garantierte. Diese Bereicherungswellen brachten eine neue Elite hervor, deren Vermögen die ihrer Vorgänger weit in den Schatten stellten. „Die alte Jelzin-Oligarchie wirkt im Vergleich zu der neuen Schar von Bürokraten-Oligarchen wie eine Gruppe von Dilettanten“, resümiert die russischen Politikwissenschaftlerin Lilia Shevtsova, die heute für die Carnegie-Stiftung in Washington forscht.5

Der von Shevtsova geprägte Begriff „Bürokraten-Oligarchen“ benennt den besonderen Charakter dieser neuen Elite, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor mitwirkt und in der Wirtschaft wie in der Politik zu Hause ist. Das vielleicht treffendste Porträt dieser Gruppe zeichnet die Soziologin Olga Kryschtanowkaja, die seit Beginn der 1990er Jahre die wechselnde Zusammensetzung und die Karrieremuster dieser Elite untersucht hat.6

Viele Russland-Beobachter heben den ständig wachsenden Einfluss des Staates auf die Wirtschaft hervor. Dies werten sie als Anzeichen für eine schleichende Entprivatisierung, die auf wirtschaftlichem Gebiet vollzieht, was unter Putin auf staatlicher Ebene längst passiert ist, seit mehr und mehr Geheimdienstleute in der Regierung sitzen. Bei dieser Interpretation wird aber das Entscheidende übersehen: Die heutige russische Elite steht nicht etwa für die Herrschaft des Staates über das Kapital, sondern für deren gegenseitige Durchdringung. Das heißt, die Regierung rekrutiert ihr Personal aus der Wirtschaft und umgekehrt. Dabei stellt die staatliche Macht die wesentlichen Instrumente und Rahmenbedingungen für den Erfolg der Unternehmen bereit, während bei der Zuteilung staatlicher Gelder und der Besetzung von Posten häufig wirtschaftliche Aspekte den Ausschlag geben.

Das gilt im Übrigen auf allen Ebenen und vielleicht am stärksten in den Regionen, weil große Unternehmen – egal ob staatlich oder privat – für die lokale Wirtschaft ein noch größeres Gewicht haben. Klar ist auch, dass sich viele Großkonzerne der Schlüsselbranchen, auch wenn sie mehrheitlich in Staatsbesitz sind, weniger als Instrumente zur Verteilung des nationalen Reichtums funktionieren als zum Zwecke der Bereicherung einer bestimmten Gruppe oder eines einzelnen Mitglieds der Elite.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen Ende dieses Jahres und erst recht vor der Präsidentschaftswahl im März 2012 wird innerhalb der bürokratisch-ökonomischen Elite vermutlich ein verschärfter Konkurrenzkampf um diese nationalen Ressourcen ausbrechen. Dabei wird sich die Rolle der Bevölkerung darauf beschränken, der Aufteilung der Beute nachträglich zuzustimmen. Es sei denn, Russland erlebt einen ähnlichen demokratischen Aufbruch, wie er sich derzeit in der arabischen Welt vollzieht. Doch dafür gibt es im Augenblick keine Anzeichen.

Fußnoten: 1 Siehe zum Beispiel: Robert Service, „Comrades“ (2008); Archie Brown, „The Rise and Fall of Communism“ (2009); Stephen Kotkin, „Uncivil Society“ (2009); Victor Sebestyen, „Revolution 1989“ (2009). 2 Daniel Treisman, „The Return: Russia’s Journey from Gorbachev to Medvedev“, New York (Free Press) 2011. 3 Andrei Shleifer und Daniel Treisman: „A Normal Country“, in: Foreign Affairs, März/April 2004. 4 Die erste Position vertritt Anders Aslund, der in den frühen 1990er Jahren die russische Regierung bei ihrem Privatisierungsprogramm beraten hat, in seinem Buch „Russia’s Capitalist Revolution: Why Market Reform Succeeded and Democracy Failed“, Stockholm (Peterson Institute) 2007. Die zweite Position begründen am ausführlichsten Peter Reddaway und Dimitri Glinski: „The Tragedy of Russia’s Reforms, Market-Bolshevism against Democracy“, US Institute of Peace Press (Washington) 2001. 5 Lilia Shevtsova, „Lost in Transition: The Yelzin and Putin Legacies“, Washington D.C. (Carnegie Endowment for International Peace) 2007. 6 Siehe Olga Kryschtanowskaja, „Anatomiia rossiiskoi elity“ (Anatomie der russischen Elite), Moskau 2004, insbesondere S. 346–366. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Tony Wood ist stellvertretender Chefredakteur der New Left Review in London.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2011, von Tony Wood