Jugo-Nostalgie
Die Erinnerung an die verlorene Einheit Jugoslawiens wird nicht nur in Serbien hochgehalten von Jean-Arnault Dérens
Zwanzig Jahre nach dem tragischen Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien denkt man in den Nachfolgerepubliken wehmütig an den alten gemeinsamen Staat zurück. Von Slowenien bis Mazedonien blüht die nostalgische Verehrung des „Genossen Tito“. Ein neues Vergangenheitsgefühl scheint aufzukommen, eine Mischung aus der Sehnsucht nach einem starken und international geachteten Staat und der verklärenden Erinnerung an einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.
Seit dem Frühjahr 2011 prangt der rote Stern der jugoslawischen Partisanen auf einer Euromünze. Slowenien, das 2004 als erster Teilstaat des alten Jugoslawien in die EU aufgenommen wurde und als erstes der damaligen Beitrittsländer die Gemeinschaftswährung einführte, hat eine Zwei-Euro-Gedenkmünze mit dem Bild von Franc Rozman („Stane“) in Umlauf gebracht. Die slowenische Rechte zeigte sich empört über diese Ehrung des berühmten Partisanenführers, der 1944 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Doch die Münze ist offenbar sehr begehrt – nicht nur bei Sammlern, sondern auch bei den immer noch zahlreichen „Jugo-Nostalgikern“.
Am 25. Mai wurde in Belgrad die jährliche Stafeta mit einem Aufwand inszeniert, wie sie seit 25 Jahren nicht mehr gepflegt wurde. Schon am frühen Morgen hatten sich Tausende vor Titos einstiger Residenz im Nobelviertel Dedinje versammelt, mit roten Fahnen und Bannern des sozialistischen Jugoslawiens. Im sogenannten Haus der Blumen liegt der einstige „Präsident auf Lebenszeit“ begraben. Alles wartete auf die Ankunft der „Fackel der Jugend“, die diesmal im istrischen Umag, im Osten Kroatiens, entzündet worden war.
Im alten Jugoslawien war der Staffellauf der Jugend (Stafeta mladosti) seit 1945 eines der wichtigsten staatlichen Rituale. Jedes Jahr begann der Lauf in einer anderen Stadt und endete jeweils am 25. Mai, dem Geburtstag Titos (der als „Tag der Jugend“ begangen wurde), in Belgrad, wo die Fackel im Rahmen einer grandiosen Zeremonie im Stadion der Jugoslawischen Volksarmee an den Marschall übergeben wurde.
Tito starb am 4. Mai 1980, doch die Stafeta wurde erst 1987 eingestellt. Vor drei Jahren ließ man die Tradition wieder aufleben, und seitdem ist die Begeisterung mit jedem Jahr weiter angewachsen. 2011 waren an jedem Etappenort bei der Ankunft der Fackel zwischen zehntausend und zwanzigtausend Menschen auf den Beinen, und zwar aus allen möglichen Schichten: viele Veteranen, die sich rühmten, noch nie eine Stafeta versäumt zu haben, Kinder in der Uniform der Jungen Pioniere, die mit ihren Eltern oder Großeltern gekommen waren, aber auch viele Jüngere im Alter zwischen zwanzig und dreißig. Deutlich unterrepräsentiert waren nur die Dreißig- bis Fünfzigjährigen – jene „Zwischengeneration“, die das Ende des alten Jugoslawiens noch erlebt hat und in den Jahren des Bürgerkriegs aufwuchs.
Andächtig lauschte die Menge den Tonbandaufnahmen von Ansprachen des Marschalls. Dann durfte Josip Broz das Wort ergreifen. Der Enkelsohn Titos ist der Führer einer neuen Kommunistischen Partei, die vor kurzem aus dem Zusammenschluss verschiedener Gruppen in Serbien hervorgegangen ist. Nachdem er ausführlich die Anwesenheit von Vertretern der libyschen Botschaft gewürdigt hatte, kam Josip Broz zur Sache: Wie ein Phönix aus der Asche werde ein neues geeintes Jugoslawien entstehen. Und außerdem werde Serbien niemals der Nato beitreten. Dabei steht heute, zwölf Jahre nach den Nato-Luftangriffen von 1999, genau dieser Beitritt auf der Tagesordnung.
Bislang ist die neue Kommunistische Partei noch nicht bei Wahlen angetreten, aber ihre Anhänger machen sich große Hoffnungen. Ebenso zuversichtlich zeigt sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kroatiens, das in diesem Jahr den Start der Stafeta im istrischen Städtchen Umag organisiert hat.
Tatsächlich genießen die Organisationen, die in den verschiedenen Nachfolgerepubliken als Erben des „Bundes der Kommunisten Jugoslawiens“ auftreten, bei den Leuten allerdings nur wenig Kredit. Im krassen Gegensatz dazu steht die allerorten verbreitete „Jugo-Nostalgie“ – ein eher gefühlsbestimmter Trend, für den der slowenische Soziologe Mitja Velikonja sogar den Begriff „Titostalgie“ erfunden hat.1
Handelt es sich also vielleicht nur um eine Mode, eine vorwiegend kulturelle und weniger politische Erscheinung? In Skopje, der Hauptstadt der Republik Mazedonien, erfreut sich das Restaurant Kaj Marsalot („Zum Marschall“) großer Beliebtheit. Die Kellner tragen die Uniform der Jungen Pioniere, samt rotem Halstuch, die Räume sind mit Tito-Fotos dekoriert.
Staffellauf zum Gedenken an den Marschall
Solche Cafés und Restaurants gibt es inzwischen in allen ehemaligen jugoslawischen Republiken und sie werden ständig mehr. In Belgrad und Sarajevo haben sogar Nachtklubs im „Tito-Stil“ aufgemacht. Der Soziologe Velikonja erklärt den Erfolg dieser Konzepte damit, dass das „Label Tito“ längst zu einem Marketingprodukt geworden ist, das sich ähnlich gut verkaufen lässt wie das Konterfei Che Guevaras.
Im Internet existiert noch immer ein „virtuelles Jugoslawien“. Ein paar Mausklicks und man hat einen Reisepass der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“, zum Beispiel von einem „Generalni konzulat SFRJ“.2 Und auf zahlreichen Websites können sich die Besucher an Fotos, Videos und Tondokumenten erfreuen, die den Marschall und die Massenkundgebungen des Regimes wieder lebendig werden lassen.
In einem solchen „virtuellen Jugoslawien“ haben sich auch manche Exilanten eingerichtet. Wie etwa der Schriftsteller Velibor Colic, der einer kroatischen Familie in Bosnien-Herzegowina entstammt. Colic kämpfte für sein Land, floh 1993 nach Großbritannien und weigert sich bis heute, eine andere „nationale“ Identität als „Jugoslawe“ anzunehmen. Seine jüngsten Bücher sind auf Französisch geschrieben, für seine früheren Werke besteht er auf „Serbokroatisch“, weil er seine Sprache weder als „Kroatisch“ noch als „Bosnisch“ qualifizieren will.3
Das „Serbokroatische“ oder auch „Kroatoserbische“ existiert nicht mehr. In den neuen Republiken wurde es – mit mehr oder weniger starkem Nachdruck – durch Kroatisch, Bosnisch, Montenegrinisch oder Serbisch ersetzt. Die Mehrheit der Linguisten geht allerdings davon aus, dass es sich um ein und dieselbe Sprache handelt, die lediglich regionale Besonderheiten in Aussprache und Wortschatz aufweist. Serbokroatisch sprechen oder schreiben zu wollen, kommt heute also einem politischen Bekenntnis gleich.
In Belgrad war in diesem Jahr der Dokumentarfilm „Cinema Komunisto“ ein großer Erfolg. Er zeichnet nicht nur die Geschichte des jugoslawischen Kinos nach, sondern dokumentiert auch Titos heftige Kinobegeisterung. Im Laufe seines Lebens soll der Marschall 8 000 Filme gesehen haben, und sein privater Filmvorführer berichtet, wie er, oft verzweifelt, für jeden Abend einen neuen Film aufzutreiben versuchte. „Cinema Komunisto“ erinnert auch an die aufwändigen und extrem teuren Dreharbeiten für die berühmten jugoslawischen Filme – insbesondere die über den Partisanenkrieg4 – und an Titos persönliche Entscheidung, den Briten Richard Burton für die Rolle des Josip Broz zu verpflichten.5 „Cinema Komunisto“ erhält bei jeder Vorführung begeisterten Applaus. Mila Turajlic, die Regisseurin des Dokumentarfilms, war gerade einmal zehn Jahre alt, als das alte Jugoslawien auseinanderbrach.
Lässt sich eine Rangfolge der Jugo-Nostalgie in den verschiedenen exjugoslawischen Republiken ermitteln? Am klarsten ausgeprägt ist sie zweifellos in den Ländern, die im jugoslawischen Föderalismus eine Stärkung ihrer nationalen Identität erfahren haben, also in Bosnien und Herzegowina, in Mazedonien und sogar in Slowenien. Die beiden Letzteren brachten es überhaupt erst 1945 als Teilstaaten Jugoslawiens zu einer staatlichen Existenz.
Die slawomazedonische Sprache wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg kodifiziert, als Tito die mazedonische nationale Identität stärkte, womit er vor allem serbische und bulgarische Herrschaftsansprüche zurückweisen wollte. Damals wurde ihm von serbischen und bulgarischen Nationalisten vorgeworfen, er habe sich eine „mazedonische Sprache und Nation zusammengeflickt“. Auf ganz ähnliche Weise behandelte das jugoslawische Regime später die muslimischen Bosnier, als es deren eigenständige Identität anerkannte und aufwertete.6
Nachtklubs und Restaurants im Tito-Stil
Den serbischen wie den kroatischen Nationalisten gilt das jugoslawische Experiment als Hindernis auf ihrem Weg zur nationalen Souveränität, habe es doch die Entstehung anderer nationaler Identitäten, sprich der mazedonischen, der slowenischen und der bosniakischen, begünstigt. So lässt der ultranationalistische serbische Autor Dobrica Cosic einen seiner Helden sagen: „Jugoslawien war Serbiens größter Fehler.“ Die Jugo-Nostalgie in Kroatien und Serbien hat dementsprechend antinationalistische Züge, während sie in den anderen Republiken eher ein ergänzender Ausdruck nationaler Gefühle sein dürfte. Ein zusätzlich differenzierender Faktor ist der familiäre Hintergrund von Josip Broz Tito. Sein Vater war Kroate, seine Mutter Slowenin. Und sein Geburtsort Kumrovec, der heute eine Art Pilgerstätte ist, liegt im Osten Kroatiens nahe der Grenze zu Slowenien. Entsprechend sprach Tito mit kroatischem Akzent. Kein Wunder, dass man in den 1990er Jahren von serbischen Nationalisten die abschätzige Bemerkung hören konnte, Serbien sei 35 Jahre lang von einem Mann geführt worden, der „nicht mal Serbisch konnte“.
Trotz der geschilderten Unterschiede ist die nachträgliche Idealisierung der untergegangenen Föderation heute in allen Nachfolgerepubliken anzutreffen. Die Einzigen, die kaum von der Jugo-Nostalgie oder „Titostalgi“ erfasst wurden, sind die exjugoslawischen Albaner. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Erstens hat das Kosovo mehrere lange Phasen der Unterdrückung erlebt. Zweitens war es nie ein jugoslawischer Bundesstaat, sondern erlangte nur den Status einer autonomen Region. Und drittens waren die Albaner durch den Begriff Jugoslawien, als Land der „Südslawen“, symbolisch ausgegrenzt, weil sie ethnisch gesehen keine Slawen sind.
Dennoch wäre die Annahme falsch, dass alle Albaner das alte jugoslawische Regime verdammen. Die arme albanische Stadt Presevo im Süden Serbiens hatte es stets schwer. Seit den 1950er Jahren sind viele ihrer Bewohner weggegangen, um anderswo ihr Glück zu finden. Dabei wanderten sie zunächst nach Belgrad und erst später in die Länder des Westens weiter. Einer dieser Migranten ist Herr Bajraktari, der viele Jahre lang als Bauarbeiter in Belgrad beschäftigt war, bevor er nach Belgien ging, wo er sich in der Gewerkschaft der jugoslawischen Arbeiter engagierte. Heute ist er in das Kosovo zurückgekehrt, um den Ruhestand in seiner Heimat zu genießen. An seiner nationalen Einstellung als Albaner hat sich nichts geändert, aber er bleibt ein leidenschaftlicher Anhänger des Fußballklubs Roter Stern Belgrad.
Diese Leidenschaft kann er allerdings, gemeinsam mit einigen Freunden, quasi nur im Untergrund pflegen. Öffentlich Roter Stern zu unterstützen, wäre wie ein Bekenntnis zum „Serbentum“. Und trotzdem sagt Bajraktari noch heute: „Belgrad, Jugoslawien und der ‚Stern‘ – das ist meine Jugend.“ Bis Ende der 1980er Jahre lebten in Belgrad zehntausende Albaner, ohne dass es besondere Probleme gab. Erst als Slobodan Milosevic an die Macht kam, mussten sie die serbische Hauptstadt verlassen – nach der sie sich noch heute zurücksehnen.
Wann genau war die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) am Ende und warum? Darüber diskutierten Ende Mai 2011 in Belgrad führende Repräsentanten des alten Jugoslawiens, die das Komitee der serbischen Veteranen des nationalen Befreiungskriegs zu einer Gesprächsrunde eingeladen hatte. Die Slowenin Sonja Lokar hatte im Januar 1990 unter Tränen den 14. und letzten Parteitag des Bunds der Kommunisten Jugoslawiens verlassen; jetzt gab sie zu, die damalige politische Führung sei „überrascht worden“ und habe „keinerlei Vision für die Zukunft“ entwickelt. Der Bosniake Raif Dizdarevic hatte 1988/89 als vorletzter Vorsitzender des Präsidiums der SFRJ amtiert.7 Für ihn war der Zerfall der Föderation nicht das Werk „äußerer Feinde“, wie andere Gesprächsteilnehmer meinten, sondern die Folge innerer Schwächen.
Ganz ähnlich befand der Politologe Dejan Jovic, ein Berater des kroatischen Präsidenten Ivo Josipovic, in einem Aufsatz in der serbischen Wochenzeitung Vreme, der Untergang Jugoslawiens müsse im Kontext des allgemeinen Zerfalls der kommunistischen Regime gesehen werden. Zwar habe der jugoslawische Sozialismus stets eine Sonderstellung beansprucht, aber auch sein Zusammenbruch sei die Folge der Erschütterungen durch den Berliner Mauerfall gewesen.8
Die jugoslawische Idee einer Vereinigung der südslawischen Völker ist nicht genuin sozialistisch. Realität wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg, propagiert aber bereits im 19. Jahrhundert von kroatischen Intellektuellen. Heute steht der Begriff „Jugoslawien“ zumindest symbolisch für die „gute alte Zeit“, als der Staat und die sozialistische Selbstverwaltung allen einen bescheidenen Wohlstand garantierten. Im krassen Gegensatz sind die langen Jahre des „Übergangs“ als eine Zeit der Gewalt und der sozialen Härten in Erinnerung. Deshalb bietet sich die Jugo-Nostalgie sogar als Alternative zum EU-Beitritt an, für den alle Länder der Region theoretisch infrage kommen.„Was soll das Gerede vom Anschluss an Europa?“, meint ein türkischer Friseur im alten Basar von Skopje. „Europa hätte sich Jugoslawien anschließen sollen, als Tito noch lebte!“
In den Schlachten um die Erinnerungskultur, die in allen neuen Republiken geschlagen werden, kämpfen die Jugo-Nostalgiker an vorderster Front. Früher wurde in jeder Teilrepublik der Tag der „ersten antifaschistischen Erhebung“ als Feiertag begangen. In Serbien war das zum Beispiel der 7. Juli 1941, in Montenegro der 13. Juli, in Kroatien der 27. Juli. Heute feiert man nur noch in Montenegro, wobei das Datum bewusst doppeldeutig ist, denn der 13. Juli ist zugleich der Jahrestag des ersten Staates Montenegro, dessen Unabhängigkeit 1878 vom Berliner Kongress beschlossen wurde.
Zusammenkunft am Berg Titov Vrv
In Kroatien ist der 27. Juli seit Anfang der 1990er Jahre kein Feiertag mehr. Das Datum erinnerte an einen Angriff von Ustascha-Milizen auf das mehrheitlich von Serben bewohnte Dörfchen Srb in der Krajina. Die Gedenkveranstaltungen waren stets vom extrem nationalistischen Flügel der kroatischen Rechten beherrscht gewesen. Am 27. Juli 2010 trat allerdings der gerade gewählte kroatische Präsident, der Sozialdemokrat Ivo Josipovic, zum ersten Mal bei einer Gedenkfeier in Srb auf, die von antifaschistischen Veteranenvereinen und dem Serbischen Nationalrat Kroatiens gemeinsam organisiert war. Mit seinem Auftritt verfolgte Josipovics vor allem zwei Ziele: Zum einen wollte er die Verbundenheit des heutigen Kroatiens mit seiner antifaschistischen Tradition unterstreichen, zum anderen ein Signal des guten Willens an die serbische Minderheit im Land senden.9
In Serbien kam es anlässlich des 70. Jahrestags des Aufstands von 1941 zu öffentlichen Debatten und polemischen Auseinandersetzungen.10 Am 7. Juli 1941 hatte Zikica Jovanovic Spanac, der als Kommunist im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, zwei Gendarmen der serbischen Regierung getötet, die damals mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte. Manche Kommunistenhasser haben darin allerdings nie einen Akt des Widerstands, sondern einen „Brudermord“ gesehen. Hintergrund dieses Streits über die historische Deutung ist der Gegensatz zwischen den beiden serbischen Widerstandsbewegungen: Die Partisanen standen unter Führung der Kommunistischen Partei, die nationalistischen „Tschetniks“ unter General Draza Mihailovic waren Anhänger des serbischen Königshauses. Im alten Jugoslawien galten die Tschetniks – wie die kroatische Ustascha – wegen ihrer späteren Kollaboration mit den Nazibesatzern als Verräter.11
Seit dem Fall des Regimes von Slobodan Milosevic im Jahr 2000 ist der 7. Juli in Serbien kein Feiertag mehr. Die Schulbücher behandeln Tschetniks und Partisanen gleichrangig als Widerstandskämpfer, und seit 2004 haben die Veteranen beider Bewegungen die gleichen gesetzlichen Pensionsansprüche.12 Der Soziologe Jovo Bakic konstatiert, damit habe sich in Serbien nur die „in ganz Europa übliche Sichtweise durchgesetzt, Faschismus und Sozialismus auf eine Stufe zu stellen“.
Kann die Jugo-Nostalgie zu einem Faktor politischer Veränderungen werden? Von einer neu entstehenden „Jugosphäre“ ist schon seit einigen Jahren die Rede. Der Begriff stammt von dem britischen Journalisten Tim Judah und bezeichnet die neuen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bindungen zwischen den Nachfolgerepubliken. Auf politischer Ebene kommt die Normalisierung zwischen den einstigen Bürgerkriegsparteien tatsächlich gut voran, wozu in den letzten beiden Jahren vor allem der serbische Präsident Tadic und sein kroatischer Amtskollege Josipovic beigetragen haben. Der Handelsaustausch bleibt allerdings begrenzt, weil die Wirtschaftsstrukturen zu unterschiedlich sind und alle Staaten auf Importe insbesondere aus der Europäischen Union setzen. Auf kultureller Ebene dagegen waren die Verbindungen nie abgerissen, nicht einmal während der Kriegsjahre. Das war vor allem das Verdienst von antinationalistischen Intellektuellen und Künstlern. An Möglichkeiten der Begegnung, etwa auf Konferenzen oder Festivals in der Region oder irgendwo in Europa, hat es nie gefehlt.
Ende Juni organisierte die Buchhandlung Karver im montenegrinischen Podgorica ein Literaturfestival, zu dem sich viele Schriftsteller, Journalisten und Verleger aus allen postjugoslawischen Republiken einfanden. Die Diskussionen kreisten vor allem um die Identität der „Region“. Dieser neutrale Begriff ist inzwischen sehr verbreitet, um das ehemalige Jugoslawien oder sogar den „Balkan“ insgesamt zu bezeichnen. Wobei solche geografischen Kategorien angesichts der ungewissen Grenzen häufig kontrovers diskutiert werden.13 Nenad Popovic zum Beispiel, der Leiter des renommierten Zagreber Verlags Durieux, stellt den Begriff Region vehement infrage: „Eine Region ist Teil eines Staates – aber wo ist unser gemeinsamer Staat?“ Welchen Namen könnte man also dieser „postjugoslawischen“ Welt geben, deren Bewohner die gleichen Erinnerungen teilen, über die gleichen Witze lachen und in ihrer großen Mehrheit die gleiche Sprache sprechen?
Tausende Wanderer pilgern jedes Jahr zum Berg Titov Vrv im mazedonischen Schar-Gebirge. Die Touren zum Gipfel – der einmal der dritthöchste in der Jugoslawischen Föderation war – werden von Wandervereinen aus allen ehemaligen Bundesstaaten organisiert, und zwar ohne politische Motive. Die Teilnehmer freuen sich einfach, Leute aus allen Republiken zu treffen.14 Zwischen den bosnischen, kroatischen, serbischen und montenegrinischen Wanderern gibt es keinerlei Sprachbarrieren; nur junge Leute aus Mazedonien oder Slowenien haben zuweilen Mühe mit dem Serbokroatischen. Hier also, auf den Hängen des Schar-Gebirges, kommt noch einmal eine Art koinè zustande: eine kulturelle Gemeinschaft von Südslawen, die nichts als Erholung suchen. Und das fern aller Politik.