Hama im Visier
von Alain Gresh
Hama ist nicht Syrien. Die Stadt mit 500 000 Einwohnern gilt schon seit der Unabhängigkeit 1946 als aufsässig. 1982 wurde sie nach einem Aufstand der Muslimbrüder von Bomben zerstört, seither wird sie geächtet. Dennoch steht Hama seit dem Ausbruch der Unruhen im März 2011 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warnte Damaskus vor einer Neuauflage der Massaker von 1982. Die internationalen Medien jagen den wildesten Gerüchten nach, die über Hama kursieren, und verbreiten sie ungeprüft.
Die Fahrt auf der gut ausgebauten Autobahn in die 200 Kilometer nördlich von Damaskus gelegene Stadt erweist sich als einfacher als erwartet. Ein einziger Kontrollposten der Armee bewacht die Zufahrt. In den Vororten steht ein halbes Dutzend Panzer getarnt am Straßenrand.
Hama scheint verlassen. Ein paar Taxis, vollgestopft mit ganzen Familien, verlassen die Stadt. An jeder Straßenkreuzung muss sich unser Fahrzeug zwischen Hindernissen hindurchschlängeln: Pflastersteine, Äste, Backsteine, Mülltonnen … Hier brennt ein Autobus, dort ein Pkw. Diese provisorischen Barrikaden sollen einen Überraschungsangriff der Ordnungskräfte auf die „befreite“ Stadt aufhalten. Auf Bettlaken gemalte Losungen verkünden: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“, „1982 wird sich nicht wiederholen!“
Unser Auto wird angehalten. Wir müssen jungen Leuten, die den Verkehr kontrollieren, erklären, wer wir sind. Einer von ihnen steigt ins Auto, um uns durch das Gewirr der Straßen und Gassen zu leiten und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Erster Halt: Man lädt uns zum Sitzen ein, umringt uns, beantwortet unsere Fragen. Dutzende Personen gesellen sich dazu, reden auf uns ein. Einige zeigen uns Fotos von Märtyrern – ein Bruder, ein Cousin, ein Freund – oder spielen uns Filmszenen auf dem Handy vor, die oft schwer zu ertragen sind – gespaltene Schädel, hervorquellendes Hirn … Ein Bild zeigt zwei von einem Panzer zermalmte Körper, wie uns ein Mann erklärt. Aber sein Nachbar korrigiert ihn: „Nein, nein, von einem großen Auto, seht euch doch die Spuren an.“ Außer bei den großen Freitagsdemonstrationen verkriechen sich alle in ihren Häusern. Die Männer wechseln sich beim Wachdienst ab, die einen schlafen nachts, die anderen am Tag. Ein Teil der Frauen wurde evakuiert, und viele Einwohner, die eine Wiederholung von 1982 befürchten, haben die Stadt verlassen. Und der ausgebrannte Autobus? „Das sind die Sicherheitskräfte. Sie legen Feuer und schieben dann uns die Verantwortung zu. Sie behaupten, dass wir ein islamisches Emirat errichten wollen; sie versuchen, Waffen in die Moscheen zu schmuggeln, um uns zu beschuldigen.“
„Unsere Revolution ist friedlich (silmiyya)“, sagen die Leute. Das ist ihre beste Waffe. Niemand, den wir treffen, ist bewaffnet, höchstens mit einem harmlosen Stock. Zwar treiben in anderen Regionen bewaffnete Gruppen ihr Unwesen, die von „arabischen Kämpfern“ aus dem Libanon oder Irak verstärkt werden, zwar kam es hier und da zu Racheakten gegen Offiziere oder Soldaten, aber solche Zwischenfälle sind selten. Ein Flugblatt vom 1. Juni gibt den Demonstranten in Hama genaue Anweisungen: Vermeidet jede Unordnung; respektiert die öffentlichen Gebäude; hütet euch davor, die Sicherheitskräfte zu beschimpfen oder zu provozieren. „Wir protestieren gegen die Unterdrückung, wir wollen niemanden unterdrücken.“
Wer sind die Leute, die sich um uns drängen? Einer ist Philosoph, ein anderer Arzt, ein dritter Ingenieur. Sie erklären alle, dass sie sich ein „zivilisiertes“ Regime wünschen und vor allem das Ende der Willkür und der Erniedrigung, den Respekt ihrer Würde (karama). „Sie können uns alles nehmen, aber nicht die Karama.“ Die Erfahrung von Verhaftung und Folter hat bei vielen traumatische Erinnerungen hinterlassen. „Wir haben beschlossen, dass wir nicht mehr ins Gefängnis gehen“, ruft einer. „Uns bleibt nur noch die Wahl zwischen Friedhof und Freiheit.“
Einer der Verantwortlichen schafft ein bisschen Ordnung in dem Durcheinander von Berichten und Zwischenrufen. Er entwirrt den Faden der Ereignisse seit Beginn der Unruhen in Syrien. Die Stadt Hama war lang gelähmt vom Trauma des Jahres 1982 und brauchte einige Zeit, ehe sie sich der Bewegung anschloss. Ende April gab es die ersten Demonstrationen, die ersten Toten, aber noch war ein Dialog möglich. „Eine Delegation aus der Stadt hat sich am 11. Mai mit Präsident Baschar al-Assad getroffen. Er hat uns versprochen, dass die Verantwortlichen für die Toten bestraft werden und dass die Armee nicht in die Stadt einmarschiert. Aber dann kam der 3. Juni.“
Das Regime hat immer noch Unterstützer
Wir sitzen im Schatten bei fast 45 Grad und lauschen den Berichten, die in Einzelheiten voneinander abweichen, im Wesentlichen aber übereinstimmen. Am Freitag, dem 3. Juni, dem „Tag der Kinder der Freiheit“, gingen tausende friedliche Demonstranten auf die Straße, mit Blumen in den Händen, die sie den Soldaten und Offizieren schenken wollten. Kugeln waren die Antwort, es gab 150 bis 230 Tote. „Dennoch waren wir drei Tage später bereit, erneut den Präsidenten zu treffen“, erklärt unser Gesprächspartner. „Er hat wieder versprochen, die Schuldigen zu bestrafen. Kommandant Mohammed Mouflih, der Verantwortliche für das Gemetzel, wurde zum Rapport nach Damaskus zurückgerufen.“
Eine Zeitlang herrschte Ruhe, die Ordnungskräfte zogen sich zurück. Bis zur riesigen Kundgebung am Freitag, dem 1. Juli. Manche Medien sprachen von 800 000 Teilnehmern (das Anderthalbfache der Bevölkerung!), andere von mehr als 200 000; ein staatsnaher Journalist immerhin von 70 000. Das Regime bekam Angst, setzte Gouverneur Ahmed Abdelaziz ab, der sich um eine friedliche Lösung bemüht hatte, und holte den Offizier Mouflih zurück, der inzwischen sogar befördert worden war. Alle erwarteten einen Großangriff. Am 4. und 5. Juli versuchten die Ordnungskräfte in die Stadt einzudringen. Dutzende Personen wurden verhaftet, vier getötet. „Wir haben sie zurückgeschlagen. Der Besuch der Botschafter der USA und Frankreichs am 7. Juli hat uns geholfen, ihre Pläne zu durchkreuzen.“ Das Vertrauen war zerstört. „Der Präsident hatte in seinen Reden zweimal versichert, dass die Armee nicht auf die Bevölkerung schießen würde. Der einzige Gouverneur, der sich daran hielt, wurde abgesetzt! Jetzt fordern wir den Sturz des Regimes.“
Eine andere Straßenecke, eine andere Begegnung mit den gleichen erschütternden Berichten, dem gleichen eindringlichen Aufruf an die Welt – und der gleichzeitigen Ablehnung jeder militärischen Intervention des Auslands –, und der gleichen Gastfreundschaft: Unsere Hocker werden schnell durch Sessel ersetzt, man gibt uns Getränke, Sandwiches und sogar Blumen. „Wir sind keine Salafisten“, erklärt uns einer unserer Gastgeber: „Wir sind Anhänger eines Islams der ‚gerechten Mitte‘.“ Die Stadt ist zwar sehr konservativ, aber man erklärt sich für tolerant, vor allem gegenüber der christlichen Minderheit. „Wir sind wie die Finger einer Hand.“ Ein Christ, Lastwagenfahrer, bestätigt: „Die jungen Leute, die Sie hier sehen, sind wie meine Kinder, sie nennen mich Onkel.“ Und das Verhalten der christlichen Religionsführer, die die Regierung unterstützen? „Die Religiösen haben die Autorität in Fragen der Religion, nicht der Politik. Da hat die Kirche nichts zu sagen.“
Diese Version ist etwas zu idyllisch. Unter der Hand werden Hassreden verbreitet, vor allem gegen die Alawiten (die schiitische Minderheit, der viele Repräsentanten des Regimes entstammen). In den Traktaten der verschiedenen Koordinationskomitees, den tansiqiyat, werden solche Schmähungen allerdings verurteilt.
Am Tag vor unserem Besuch in Hama haben sich im christlichen Viertel Bab Touma in Damaskus mehrere tausend Menschen um eine Bühne mit Musikgruppe versammelt, um für Präsident al-Assad zu demonstrieren. Viele junge Leute, Mädchen und Jungen, tragen T-Shirts mit seinem Abbild und haben sich syrische Fahnen umgehängt. Sie singen, tanzen, rufen Parolen. Die Christen in Syrien haben gesehen wie hunderttausende ihrer Religionsbrüder aus dem Irak nach Syrien flüchteten. Nun fürchten auch sie um ihre eigene Zukunft.
Ein Geschäftsmann zeigt uns ein Transparent, das „die Lügen von al-Dschasira, al-Arabija und Konsorten“ anprangert. Die beiden von Katar und Saudi-Arabien finanzierten Satellitensender werden beschuldigt eine parteiische Berichterstattung zu betreiben und sich zum Instrument für den Sturz des Regimes zu machen. Das ist nicht ganz falsch, aber die Beschränkungen, die Damaskus den ausländischen Journalisten auferlegt, erschwert die Arbeit der internationalen Berichterstatter und fördert so Gerüchte jeder Art. Das Regime hat sogar die libanesische Tageszeitungen al-Akhbar und as-Safir verboten, die Damaskus und die Hisbollah stets in ihrem Kampf gegen Israel unterstützten, jetzt aber die Gemetzel an der syrischen Zivilbevölkerung verurteilen.
Die Fassade des Bahnhofs der Hedschasbahn erinnert an die 1908 durch das Osmanische Reich eröffnete Eisenbahnlinie zwischen Damaskus und Medina. Vor dem Gebäude im Damaszener Zentrum haben sich tausende Demonstranten versammelt, um gegen den Besuch des amerikanischen Botschafters in Hama und die westliche Einmischung in syrische Angelegenheiten zu protestieren. Es sind weder Staatsbeamte noch Schüler, die an diesem Feiertag zum Demonstrieren gezwungen werden. Das Regime hat immer noch Unterstützer, auch wenn ihre Zahl schrumpft1 : ein Teil der Minderheiten, die sich vor einer Machtübernahme der Islamisten fürchten; das Bürgertum, auch Sunniten, das in den letzten zehn Jahren durch die wirtschaftliche Öffnung zu Wohlstand gekommen ist. Weder in Damaskus (wo die Demonstrationen vor allem in Vierteln am Stadtrand stattfinden) noch in Aleppo hat sich bisher viel bewegt. Paradoxerweise revoltieren gerade die armen Regionen wie Deraa, aus denen die Baath-Partei in den 1960er und 1970er Jahren ihre Kraft geschöpft hatte und die sich seit einem Jahrzehnt vernachlässigt fühlen.
Damaskus hat sich verändert. Hunderte kleine Verkaufsstände reihen sich auf den Bürgersteigen aneinander, und niemand kommt um sie zu verscheuchen. Autos rasen die Straßen entlang und kümmern sich nicht um Tempobeschränkungen. An allen Ecken wird ohne Genehmigung gebaut. Die Polizei ist woanders beschäftigt, und die Angst vor dem Gesetz schwindet. Eine Werbekampagne appelliert an die Bürger: „Groß oder Klein, ich gehorche dem Gesetz“, „Optimist oder Pessimist, ich gehorche dem Gesetz“.
„Die Kugeln haben die Angst getötet“, sagt einer unserer Gesprächspartner. Auf einer Restaurantterrasse sitzen sechs Oppositionelle an diesem Abend vor aller Augen und ohne Angst vor fremden Ohren. Jeder weiß, dass er morgen verhaftet werden kann, aber die Intellektuellen und auch die verbotenen Parteien kümmern sich nicht mehr darum. Soll man am nationalen Dialog teilnehmen, der von der Regierung beschlossen wurde? Die meisten sind skeptisch, nur einer ist bereit, sich zu beteiligen, „um meiner Stimme Gehör zu verschaffen“. „Wozu ist es gut, über neue Gesetze zu diskutieren, wenn sich dadurch nichts ändert?“, überlegt ein anderer. „Braucht man wirklich neue Texte, um den Parteien ab sofort Handlungsfreiheit zu gewähren oder unabhängige Persönlichkeiten zu bitten, eine der drei offiziellen Tageszeitungen zu leiten?“2 . Ein Dritter erwähnt die Amnestie3 : „Ich war im Gefängnis und wurde trotz des ersten Amnestiegesetzes nicht freigelassen, obwohl der einzige Anklagepunkt mein Auftritt in einem ausländischen Fernsehsender war. Die Verfassung verbietet die Folter, trotzdem wird sie tagtäglich angewandt.“
Der von der Opposition boykottierte nationale Dialog wird live übertragen. Zum ersten Mal hören die Syrer im Staatsfernsehen, wie zahlreiche Stimmen die „Sicherheitsentscheidungen“ des Regimes und die Übergriffe der Polizei und der Schabbiha-Milizen anprangern, die oft aus ehemaligen Straftätern bestehen und Angst und Schrecken verbreiten. Das Regime rechtfertigt die Repression mit dem Verweis auf ein Komplott des Auslands. Es wäre naiv, würde man leugnen, dass eine Schwächung oder gar der Sturz der Assad-Diktatur ein Ziel der USA, Israels, Saudi-Arabiens und der westlich orientierten Kräfte im Libanon ist4 . Aber es bleibt vor allem eine interne Krise, die eine interne Lösung verlangt.
Der prominente syrische Oppositionelle Michel Kilo, der jahrelang im Gefängnis saß, sieht die Lösung in einen notwendigen Wandel, für den es zwei Bedingungen gibt: „Schluss mit der Unterdrückung im Land und die politische Einbindung der ‚Straße‘, der Koordinationskomitees, die in jedem Viertel und jeder Stadt den Widerstand organisieren. Die Straße ist der wahre Akteur unserer Revolution. Die Oppositionsparteien oder einzelne Persönlichkeiten vertreten nicht mehr die Massen.“
Die junge Frau – nennen wir sie Farida – ist nervös. Sie wird von der Polizei gesucht. Trotz allem glaubt sie an die Zukunft. Sie beteiligt sich an der nationalen Leitung der Koordinationskomitees, die ihre Positionen und Aktionen über das Internet abstimmen. „Wir wollen keine politische Partei werden. Unsere Aufgabe besteht darin, vor Ort präsent zu sein, die Parolen zu vereinheitlichen und die Informationsarbeit zu verbessern. Wir lernen, uns jenseits aller Vorurteile wahrzunehmen, zusammenzuarbeiten. Jeder äußert seine Ängste und Hoffnungen auf andere Weise. Der eine ist Muslimbruder, der andere nicht konfessionell, ein dritter arabischer Nationalist, aber sie wollen alle dasselbe: einen zivilisierten Staat. Und sie lehnen die Gewalt ab.“
Am Ende kündigt sie uns an: „Im August ist Ramadan, der heiligste Monat für die Muslime. Im Ramadan gibt es jeden Abend gemeinsame Gebete, und jeder Tag wird ein Freitag sein.“ (siehe auch den Artikel von Charlotte Wiedemann auf Seite 2)