Die neuen Mauern von Kairo
von Nael Shama
Städte reden, lächeln, zürnen, klagen und jubeln, aber ihre Sprache kann nur von dem verstanden werden, der bereit ist, zuzuhören. Ihre Architektur und Kunst, ihre Planung und Anlage, ihre Straßen und ihr Verkehr, ihre Hütten und Paläste, ihre Schilder und Reklametafeln, ihre Bekanntmachungen und Transparente erzählen etwas über die Persönlichkeit einer Stadt.
Alt-Kairo wurde im 10. Jahrhundert zur Hauptstadt Ägyptens. Die heutige Innenstadt stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals wollte der überaus ehrgeizige Vizekönig „Ismail der Prächtige“ ein Paris am Nil errichten. Sein großer Plan war, Ägypten an Europa und die westliche Zivilisation anzupassen. Doch die demografischen und sozioökonomischen Veränderungen der letzten 150 Jahre haben aus der Stadt ein Mumbai am Nil gemacht – eine unbehagliche und frustrierte Megalopole mit rasant wachsender Einwohnerzahl, begrenztem Platz und zerbröckelnder Infrastruktur.
Die brodelnde Kairoer Innenstadt schien schon am Rande des Irrsinns, als zum Schutz der Regierungsgebäude vor Demonstranten in den letzten Jahren mehrere Straßen durch Betonmauern getrennt wurden. Einige dieser steinernen Trennwände wurden wieder entfernt, andere stehen noch oder wurden durch Metalltore ersetzt, die bei den ersten Anzeichen von Unruhe geschlossen werden können.
Eine Mauer ist nichts als ein langweiliges Bauwerk mit einer bestimmten Funktion. Doch „geringfügige Tatsachen können ungeahnte Folgen haben“, schrieb der Ethnologe Clifford Geertz.1 So haben zum Beispiel Mauern eine gewaltige psychologische Wirkung. Es ist bekannt, dass Menschen instinktiv Absperrungen meiden. Mauern, Zäune und Barrieren haben immer etwas Erstickendes: Sie betonen Unterschiede, vertiefen Spaltungen und zementieren Trennungen.
Nirgendwo kann man das Bedürfnis nach offenem Raum und ungehemmter Bewegung stärker spüren als in einem so dicht besiedelten, engen und anarchischen Ort wie Kairo. Da Staaten gewöhnlich in ihrem Zentrum mächtiger sind als an der Peripherie, muss man Anzeichen von Furcht im Kerngebiet ihrer Macht als offizielles Eingeständnis von Schwäche und Verwundbarkeit deuten.
Unter Mubarak gab es im Zentrum von Kairo keine Mauern, obwohl die Menschen dort über Jahrzehnte in Furcht vor der brutalen Sicherheitsmaschinerie des Regimes lebten. Es gab nur wenige, kleine, sporadische Demonstrationen. Die Revolution von 2011 entfesselte eine Volksbewegung, wie man sie seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, und als der Protest immer heftiger und die Regierung immer defensiver wurde, stellte sich plötzlich die Frage: Wer hat mehr Angst – die Wachleute oder die Menschen, auf die sie mit ihren Waffen zielten?
Seit der Vertreibung Mursis aus dem Amt 2013 ist der Tahrirplatz für regierungskritische Demonstrationen gesperrt. Die gesamte Umgebung des Platzes wird an kritischen Tagen mit Straßensperren und Stacheldraht abgeriegelt – jede offizielle Verlautbarung über Demokratie, Legitimität und Volkswillen wird durch die militarisierte Zone am Tahrir Lügen gestraft.
Im Februar ließen die Behörden die Schranke zur Qasr-al-Aini-Straße, einer Hauptdurchgangsstraße, die auf den Tahrirplatz führt, in den ägyptischen Landesfarben streichen. Politische Schandtaten werden oft patriotisch bemäntelt. Warum fühlt sich das Regime, wenn es doch durch die Mehrheit der Ägypter unterstützt wird, so unsicher? Die Antwort lautet: Mehrheit ist nicht gleich Einigkeit. Das Regime aber will Einstimmigkeit, keine Opposition, keine Vielfalt.
Die wahren Mauern in Kairo heißen Argwohn und Misstrauen. Sie spiegeln das Fehlen eines politischen Konsenses und das Misslingen von Ägyptens Übergang zur Demokratie wider. Der beste Schutz einer Regierung wäre nach wie vor ihre Legitimität. Die Bomben der Terroristen sind ein Alarmsignal, das die herrschenden Kräfte daran erinnern sollte, wie sehr sich die alten Probleme verschärft und wie gründlich die alten Lösungen versagt haben. Wenn die ägyptische Regierung diese komplexen Probleme weiterhin allein aus der Perspektive der Sicherheitspolitik betrachtet, werden nur neue Generationen von Terroristen heranwachsen – und der Krieg wird Normalität.
Doch Autokraten denken in den Kategorien von Kontrolle und Zwang. Sie bauen Mauern, nicht Brücken. Sie fragen sich: Warum sollte ich die Mühen der Demokratie auf mich nehmen, wenn ich meinen Willen auch so durchsetzen kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden? Auch wenn es ihnen in der Regel an Feingefühl fehlt, müssten sie doch erkennen können, wie wenig Legitimität sie besitzen, wie viel Verachtung ihnen entgegenschlägt, und wie viel Gewalt sie anwenden müssen, um an der Macht zu bleiben. Sie leben in einer Welt voller realer und imaginärer Bedrohungen; ihre physische Energie erschöpft sich in Verteidigungsreflexen: höheren Mauern, neueren Waffen, mehr Sicherheitskräften und dem Bau von weiteren Gefängnissen – im Glauben, solche Maßnahmen brächten ihnen mehr Sicherheit. Die Psychologen nennen es Bunkermentalität. Diktaturen neigen zu Dummheit, und die bringt sie letzten Endes zu Fall, das unehrenhafte Ende von Mubarak und Mursi zeugt davon.
Die Antwort der Ägypter auf die berüchtigten Mauern war, sie mit Graffiti zu bedecken: Die Mohamed-Mahmoud-Straße verwandelte sich während und nach den Straßenkämpfen von 2011 in eine Open-Air-Galerie mit schönen, kreativen Wandbildern, in denen Kunst, Geist und Humor miteinander verschmolzen. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano sagte einmal, die Mauern seien die Verlage der Armen.
Kairo war einmal ein Ort, der Zuwanderer aus ganz Ägypten anzog. Seit einiger Zeit flüchten alle, die die finanziellen Mittel dazu haben, in die neuen Vororte, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Sie wollen in der Metropolenregion wohnen und der Luftverschmutzung, dem Verkehrschaos und den Menschenmassen entgehen, sie sehnen sich nach Abschottung und Distinktion.
Ägyptens Elite wohnt in Gated Communities
Anders als im alten Kairo, wo einst die Paläste der Paschas, die Stadthäuser der Kaufleute und Staatsbeamten und die Takaya (Hospize) der Sufi-Orden eine harmonische und friedliche Nachbarschaft eingegangen waren, erlegt das neue Kairo seinen Bewohnern viele Trennungen auf. Während die von den Dynastien der Fatimiden und Ayyubiden vom 10. bis 12. Jahrhundert errichteten Mauern und Tore des alten Kairo dazu dienten, die Stadt vor Angreifern von außen zu beschützen, dienen die heutigen Mauern dem Schutz der Eliten vor den „anderen“ Ägyptern.
Die neuen Wohnareale und Gebäudekomplexe in der Umgebung Kairos, in den Vororten Neu-Kairo und 6.-Oktober-Stadt sowie entlang der Straßen nach Alexandria und Suez, sind in der Regel eingezäunt und schwer bewacht.
In einer Gesellschaft, die seit jeher am Auseinanderdriften zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen leidet, unterstreichen diese neuen Siedlungen die wachsende soziale Kluft. Aus einem kürzlich von der Regierung veröffentlichen Bericht geht hervor, dass die Armutsquote von 22 Prozent in den Jahren 2008/09 auf 25 Prozent in 2010/11 und 26 Prozent in den Jahren 2012/13 gestiegen ist. Fünf Geschäftsleute aus zwei Familien beherrschten 2014 die Forbes-Liste der reichsten Ägypter und brachten es zusammen auf ein geschätztes Vermögen von 17 Milliarden US-Dollar, was rund 4 Prozent des gesamten Vermögens in Ägypten entspricht.
„Man begehrt am meisten, was verboten ist“, lautet ein arabisches Sprichwort. Allein der Anblick der Mauern und Wachleute um die neuen Kairoer Wüstenkolonien dürfte das Begehren der Ausgegrenzten wecken und ihre Fantasien beflügeln, welche Schätze hinter diesen Mauern verborgen sein mögen. Sollte es je in Kairo zu Hungeraufständen kommen, so werden die bewachten Siedlungen der Reichen nach Ansicht vieler Ägypter deren erstes Ziel sein.
Die politische und ökonomische Macht hat sich in einem rasanten Tempo in die Vororte Kairos verlagert und die alte, geschundene Innenstadt verlassen. Viele Politiker leben im Vorort Neu-Kairo, unter ihnen Mohammed Mursi und Ahmed Schafiq (der zweitplatzierte Kandidat der Präsidentenwahl von 2012); al-Sisi hatte dort das Hauptquartier für seinen Präsidentschaftswahlkampf. Vor Kurzem wurde dort unter dem Namen „Downtown“ ein Zentrum für Firmenniederlassungen und Ladengeschäfte eröffnet, das suggerieren soll, diese hybride Parallelhauptstadt besitze eine eigene Innenstadt. Die verarmten Ägypter wiederum leben in Elendsvierteln, an den Rändern einer ungerechten Wirtschaftsordnung.
Die politischen Mauern Ägyptens werden fallen, wenn eine neue Ordnung entsteht. Aber die sozialen Mauern mit ihren Trennungen und Frontlinien des Misstrauens sind beständiger; solche Gefühle sind es, die Nationen ins Wanken bringen. Kairo, das bedeutet auf Arabisch wörtlich „siegreiche Stadt“. Aber heute ist sie eher eine geschlagene denn eine siegreiche Stadt, eher geteilt als vereint, eher verzweifelt als zuversichtlich.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Nael Shama ist Politikwissenschaftler und Autor des Buchs „Egyption Foreign Policy from Mubarak to Morsi“, London (Routledge) 2013.
© Le Monde diplomatique, London