11.12.2014

Mafiastaat Mexiko

zurück

Mafiastaat Mexiko

Der Fall Iguala ist nicht Symptom, sondern die Krankheit von Rafael Barajas und Pedro Miguel

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Diagnose ist vernichtend, aber eindeutig: Wenn eine Polizeieinheit 43 Studenten verhaftet, sie verschwinden lässt und der Drogenmafia übergibt, damit die ihnen eine „Lektion“ erteilt, dann kann man von einem Drogenstaat sprechen. Wenn Ordnungskräfte wahllos auf Studenten schießen, sechs töten und weitere sechs schwer verletzen; wenn sie außerdem einen dieser jungen Leute nehmen, ihn häuten, ihm die Augäpfel aus den Augenhöhlen reißen und den toten Körper auf der Straße liegen lassen, damit seine Freunde ihn sehen; wenn zudem alles darauf hindeutet, dass die 43 Verschwundenen brutal hingerichtet wurden, dann ist das Staatsterrorismus eines Drogenstaats.

All dies ist in Iguala im Bundesstaats Guerrero, Mexiko, geschehen. Die Studenten wurden an der Escuela Normal Rural von Ayotzinapa ausgebildet. Diese vor achtzig Jahren gegründeten Hochschulen bilden Lehrer für ländliche Gebiete aus und eröffnen Jugendlichen aus Bauernfamilien gleichzeitig die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Diese Bildungspolitik stammt aus einer Zeit, als die mexikanische Revolution noch jung war, und steht in krassem Widerspruch zu dem seit den 1980er Jahren verfolgten Wirtschaftsmodell.

Aus der Sicht des Neoliberalismus ist öffentliche Bildung eher ein Hemmnis für die Entwicklung des Bildungsmarkts. Ländliche Gegenden mit ihren indigenen und bäuerlichen Selbstversorgergemeinschaften gelten als Relikte aus der Vergangenheit, die dem Wachstum der exportorientierten Agrarindustrie im Weg stehen, Bauern als ein sozialpolitisches Problem. Deshalb sind die wenigen in Mexiko noch existierenden Institute zur Lehrerausbildung auf dem Land – insgesamt 15 – häufigen Angriffen ausgesetzt: durch die Kürzung von Haushaltsmitteln wie auch durch eine Regierungs- und Medienpropaganda, die sie als „Trainingscamps für Guerilleros“, „Paradies für Faulenzer und Verbrecher“ und zuletzt als „Hort der organisierten Kriminalität“ bezeichnet hat.

Aber die Studenten in Ayotzinapa kämpfen wie in anderen Orten auch um das Fortbestehen ihrer Schule – zum Beispiel durch Spendenaktionen, um die armseligen Mittel aufzustocken, die sie vom Staat erhalten: 2,9 Millionen Euro für die gesamten Kosten für Ausbildung, Verpflegung und Gesundheitsversorgung von über 500 Studierenden, 40 Lehrern und 6 Verwaltungsangestellten sowie für die Instandhaltung der Gebäude. Deshalb waren die jungen Leute am 26. September nach Iguala gekommen. Sie wollten Spenden sammeln.

Die bekannt gewordenen Details des Falls lassen einem das Blut in den Adern gefrieren: Der Angriff auf die jungen Leute, die irgendwann Lehrer werden wollten, erfolgte mit einer Brutalität, wie sie die Drogenkartelle gegenüber ihren Feinden an den Tag legen: das Foto des gehäuteten Jungen wurde ins Internet gestellt, ein Zeuge – ein Polizist – schilderte dem angesehenen Pfarrer Alejandro Solalinde, dass die 43 Verschleppten, von denen viele schwer verletzt waren, lange marschieren mussten, um schließlich misshandelt, gedemütigt, exekutiert, mit Diesel übergossen und verbrannt zu werden. Die Körper glommen 14 Stunden lang, bis nur noch Asche, kleine Knochenreste und ein paar Zähne übrig waren. Dieser Bericht konnte bislang erst in einem Fall bestätigt werden. Forensiker identifizierten Anfang Dezember die Überreste des 19-jährigen Alexander Mora.

Obwohl wir Mexikaner uns an schockierende Nachrichten von Enthauptungen, Massenexekutionen, Häutungen und dergleichen gewöhnt haben, ist die Empörung im Fall Iguala nicht abgeebbt. Die Gewissheit, dass wir es mit einem Terrorakt des Drogenstaats zu tun haben, wirft beunruhigende Fragen auf. Wie stark ist dieser Drogenstaat mittlerweile in Mexiko? Wie weit geht seine Repression? Die Antworten sind nicht weniger beunruhigend als die Fragen.

Zunächst ist der Drogenstaat ein strukturelles Problem, denn die mexikanische Wirtschaft wird von Drogengeldern regelrecht überschwemmt. Eine offizielle US-Studie von 2010 besagt, dass die Drogenkartelle 19 bis 29 Milliarden US-Dollar jährlich aus den USA nach Mexiko transferieren.1 Andere Quellen, wie das globale Risikoberatungsunternehmen Kroll, setzen die Summe sogar zwischen 25 und 40 Milliarden US-Dollar an.2 Drogengeld wäre damit die wichtigste Devisenquelle des Landes vor den Öleinnahmen (25 Milliarden) und den Rücküberweisungen von Emigranten (auch 25 Milliarden). Die Drogendollars kommen angeblich zu 90 Prozent als Bargeld aus den USA, davon fließt etwa die Hälfte ins mexikanische Finanzsystem. Fiele diese Geldquelle schlagartig aus, brächen viele mexikanische Großbanken und das gesamte Finanzsystem zusammen. Das heißt: Mexikos Ökonomie beruht auf dem Drogenhandel, der nur durch einen Drogenstaat überleben kann.

Die Allianz von Staat und Drogenkartellen hat das ganze Land im Griff. In den Bundesstaaten Sinaloa, Chihuahua, Michoacán, Guerrero, Tamaulipas, Veracruz und Oaxaca werden große Gebiete ganz von den Kartellen beherrscht. Sie setzen Beamte und Polizeichefs ein und verhandeln mit Gouverneuren. Egal welcher Partei die Politiker angehören: Die Macht liegt in den Händen des organisierten Verbrechens. Vor einigen Wochen zeigte ein vom Kartell der „Tempelritter“ verbreitetes Video, wie Rodrigo Vallejo Mora, der Sohn des PRI-Politikers und Exgouverneurs von Michoacán, Fausto Vallejo, ganz entspannt mit Servando Gómez Martínez alias „La Tuta“, dem obersten Capo der Tempelritter, plaudert.3

In diesen Regionen kassieren die Kartelle Steuern, erpressen Schutzgelder, entführen, vergewaltigen und morden, wie sie wollen. Für die Bürger ist es die Hölle. In Michoacán und Guerrero führten die Zustände zur Gründung von bewaffneten Bürgermilizen.

Es gibt Hinweise, dass der Drogenstaat die politische Klasse auf höchster Ebene infiltriert hat und dass alle Parteien betroffen sind, vor allem die großen: die Partido Revolucionario Institucional (PRI), die Partido Acción Nacional (PAN) und die Partido de la Revolución Democrática (PRD).4 Ohne Mitwirkung von Politikern und Beamten aller Verwaltungsebenen kann Drogenhandel in solchen Ausmaßen gar nicht funktionieren. Wahlen sind in Mexiko extrem teuer, wahlentscheidend ist oft letztlich das Geld; gleichzeitig sind Wahlkampagnen eine verbreitete und überaus effiziente Methode der Geldwäsche.

Der Fall des Präsidenten Enrique Peña Nieto vom PRI ist besonders besorgniserregend. Es gibt keine direkten Beweise, die ihn mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringen. Doch während seines Wahlkampfs – eines der teuersten der mexikanischen Geschichte – berichtete die Presse von dubiosen Finanzoperationen in Millionenhöhe.5

Der Skandal in Mexiko war groß, aber die internationale Gemeinschaft schwieg zu den Vorwürfen. Wie viel Geld Peña insgesamt ausgegeben hat, um 2012 die Präsidentenwahl zu gewinnen, lässt sich nicht herausfinden. Aber am 9. November 2014 kam eine Parlamentskommission zu dem Ergebnis, dass der PRI mehr als 4,5 Milliarden Pesos (fast 270 Millionen Euro, 13-mal mehr als erlaubt) dafür ausgegeben hat.6 Dabei konnte die Kommission viele heimliche Transaktionen nicht überprüfen – die Ausgaben waren also vermutlich noch höher. Bei den meisten dieser Gelder ist die Herkunft offiziell nicht bekannt, was in einem von Drogenbanden infiltrierten Land nur eines bedeuten kann. Außerdem berichtete die unabhängige Presse am Wahltag, dass die Kartelle in verschiedenen Regionen zugunsten des PRI eingegriffen hätten.7

Die Regierung Peña und ihre kriminellen Subunternehmer

Ein Wahlversprechen von Präsident Peña war die wirksame Bekämpfung des Drogenhandels und eine spürbare Verbesserung der Sicherheitslage innerhalb eines Jahres. Das ist nun drei Jahre her. Viele Wähler hofften, Peñas Politik werde effizienter sein als die seines konservativen Amtsvorgängers Calderón. Doch die Sicherheitsstrategie blieb weitgehend unverändert. Das dürfte auch daran liegen, dass sich die einst von Calderón mit den USA getroffenen Vereinbarungen nicht einfach aufkündigen lassen.

Und so geht das Gemetzel weiter. Dem Nationalen System für öffentliche Sicherheit (SNSP) zufolge wurden in den 20 Monaten der Peña-Regierung 57 899 Ermittlungsverfahren wegen Mordes aufgenommen.8 Angesichts der Gewalttaten der Drogenkartelle scheinen die des Staats vergleichsweise unbedeutend, doch auch sie sind massiv.

Als Gouverneur des Bundesstaats Mexiko ließ Peña im Jahr 2006 die Proteste der Einwohner von San Salvador Atenco niederschlagen, wo die Bevölkerung seit Jahren gegen die Enteignungen ihrer Ländereien für den Bau eines Flughafens kämpfte. Dabei begingen die Sicherheitskräfte sexuelle Übergriffe auf festgenommene Frauen und unzählige andere Menschenrechtsverletzungen, für die sie straffrei ausgingen. In den bald drei Jahren der Regierung Peña haben sich die mexikanischen Gefängnisse mit Menschen gefüllt, deren einziges Vergehen darin besteht, für ihre Rechte, ihr Land, ihren Besitz zu kämpfen und ihre Familien vor dem organisierten Verbrechen zu beschützen.

Im August 2014 informierte das „Komitee Nestora Libre“, eine Vereinigung zur Verteidigung politischer Gefangener, dass unter der Regierung Peña mindestens 350 Personen aus politischen Gründen inhaftiert wurden.9 In Michoacán wurden José Manuel Mireles, Gründer der örtlichen Selbstverteidigungsgruppen gegen das organisierte Verbrechen, und 328 ihrer Mitglieder verhaftet. In Guerrero wurden die indigene Aktivistin Nestora Salgado, 13 Gemeindepolizisten und 4 Aktivisten inhaftiert, die sich dem Bau des Staudamms La Parota widersetzten. In Puebla sitzen 33 Leute im Gefängnis, die gegen ein extrem umweltschädliches Kraftwerk protestierten. In Sonora wurde der Sprecher der indigenen Yaqui, Mario Luna, verhaftet, weil er die Wasserrechte seiner Gemeinschaft verteidigte. In Quintana Roo sitzen Bürger im Gefängnis, weil sie gegen die Privatisierung der Wasserversorgung aufbegehrten, in Chiapas, weil sie Düngemittel forderten.

Unter der Regierung Peña greifen die Ordnungskräfte zu illegalen und brutalen Methoden, wie man sie aus den „schmutzigen Kriegen“ der 1960er bis 1980er Jahre in Lateinamerika kennt. Nepomuceno Moreno, Mitglied der „Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ wurde in Sonora gefoltert und ermordet. Ismael Solorio und Manuelita Solís, die die Wasserquellen ihrer Gemeinde vor der Gier kanadischer Bergbaufirmen retten wollten, wurden in Chihuahua umgebracht. In Sinaloa wurde der Bauernführer Atilano Román getötet. Die Liste ist endlos.

Die Zahl der politischen Gefangenen, die Morde an engagierten Bürgern, die heimlichen Massengräber mit nicht identifizierten Leichen belegen eindeutig, dass es in Mexiko Staatsterrorismus gibt: Die Ereignisse von Iguala sind kein Einzelfall – sie sind lediglich die am besten dokumentierte Gewaltepisode einer staatlichen Politik. Die Bestialitäten in Iguala gefährden das Überleben der Regierung Peña. Diese ließ Zeit verstreichen, spielte die Ereignisse herunter, versuchte die Familien der Betroffenen zu kaufen und unter Druck zu setzen – aber nichts funktionierte. „Es handelt sich um ein lokales Problem“, bekräftigte sie, als das Massaker bereits Anlass landesweiter und internationaler Empörung geworden war.

Am 10. November blockierten die Angehörigen und Freunde der getöteten Studenten für drei Stunden den vor allem für den Tourismus wichtigen Internationalen Flughafen des Bundesstaats Guerrero in Acapulco. Doch das Regime hält daran fest, dass es sich um ein isoliertes Problem handelt. Der Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam erklärte in einer Pressekonferenz am 7. November auf die Frage, ob die Tat als staatliches Verbrechen zu bewerten sei: „Iguala ist nicht der Staat.“ Aber das Städtchen Iguala zeigt, was für ein Staat Mexiko ist.

Fußnoten: 1 John T. Morton, „Binational study of illicit goods“, U.S. Department of Homeland Security, Washington, 3. Juni 2010. 2 Zahlen von Kroll in: La Jornada, 1. Oktober 2009. 3 „La cumbre Vallejo – La Tuta“: www.youtube.com. 4 Die PRI, „Partei der Institutionellen Revolution“, war in Mexiko fast das ganze 20. Jahrhundert an der Regierung. Die „Partei der Nationalen Aktion“ ist konservativ, die „Partei der Demokratischen Revolution“ ist nach diversen Spaltungen immer weniger links geworden. 5 Roberto González Amador und Gustavo Castillo García, „Indicios de lavado de dinero con las tarjetas de Monex“, La Jornada, 12. Juli 2012. 6 „Caso Monex: PRI gastó más e 4 mil 500 milliones de pesos en campaña de 2012“, Aristegui noticias, Mexiko, 12. März 2012. 7 Vgl. unter anderem: „Denuncian amenazas del narco en Chihuahua para votar por el PRI“, Proceso, Mexiko, 4. Juli 2012. 8 „Los muertos con Peña Ilegan a 57 mil 899 en 20 meses; son 14 mil 205 más que en el mismo periodo de Calderón“, 25. August 2014: www.sinembargo.mx. 9 Verónica Macias, „Denuncian más de 300 presos políticos en gobierno de Peña“, El Economista, Mexiko, 20. August 2014.

Aus dem Spanischen von Raul Zelik

Rafael Barajas (El Fisgón) ist Cartoonist und Illustrator, Pedro Miguel ist Schriftsteller.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2014, von Rafael Barajas und Pedro Miguel