11.12.2014

Crash in Johannesburg

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Crash in Johannesburg

von Alain Vicky

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Zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid legte die US-Investmentbank Goldman Sachs eine Bilanz über die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas vor.1 Der Bericht vom Dezember 2013 hebt hervor, dass die Verschuldung der Privathaushalte, gemessen an den verfügbaren Einkommen, seit 1994 von 57 auf 75 Prozent angewachsen ist.

Dieser Trend verweist laut Goldman Sachs auf den expandierenden Markt für unbesicherte Kredite, der seit 2007 um mehr als 300 Prozent angewachsen ist. Das bedeute jedoch noch kein Systemrisiko für das südafrikanische Bankwesen, weil diese Risikokredite (kleine Summen zu hohen Zinssätzen über kurze Laufzeiten) erst 11 Prozent aller gewährten Kredite ausmachen.

Kein Systemrisiko? Am 10. August dieses Jahres musste die Investments Limited (Abil), das fünftgrößte Geldhaus des Landes und wichtigster Anbieter unbesicherter Kredite, von der südafrikanischen Zentralbank gerettet werden. Kurz zuvor hatte die Abil-Direktion Rekordverluste in Höhe von 529 Millionen Euro und eine Eigenkapitallücke von 600 Millionen Euro eingeräumt. Dann ging alles sehr schnell: Vorstandschef Leon Kirkinis trat zurück; die Abil-Aktie stürzte an der Johannesburger Börse um 93 Prozent ab. Um eine Totalinsolvenz abzuwenden, musste die Notenbank die erste Bankenrettung ihrer Geschichte organisieren, indem sie etwa die Hälfte der faulen Kredite in Höhe von 1,2 Milliarden Euro übernahm. Mit dem soliden Teil der Abil-Aktiva und 730 Millionen Euro, die mehrere nationale Privatinvestoren zuschossen, wurde die „gute“ African Bank gegründet.

Der spektakuläre Zusammenbruch des Finanzinstituts hat die Schwächen des südafrikanischen Wirtschaftswunders offenbart. Der ganze Vorgang weist deutliche Parallelen zur Entstehung der Subprime-Krise in den USA auf.2 „Bislang haben es viele Leute geschafft, die Kredite zurückzuzahlen, und die Rentabilität war hoch“, erklärt Idriss Linge von der auf Afrikas Märkte spezialisierten Nachrichtenagentur Ecofin. „Aber ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, Geld an Personen zu verleihen, die Schwierigkeiten mit der Rückzahlung haben, ist nicht tragfähig.“

In den letzten 15 Jahren ist eine ganze Generation von Konsumenten entstanden, die ein kleines Stückchen vom Wohlstand der führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents abbekommen wollen. Vor allem in der neuen schwarzen Mittelschicht übersteigt der Kredithunger häufig das Monatseinkommen, das im Durchschnitt bei 500 Euro liegt. Die Einkaufszentren sind brechend voll. Die Ausgaben für Haushaltsgeräte, Reisen, Privatschulen steigen ständig. Jedes Jahr werden über eine halbe Million neue Autos verkauft.

Mikrokredite mit monatlichen Zinsen bis zu 100 Prozent

Obwohl sich bereits ein Abschwung auf dem Hypotheken- und Immobilienkreditmarkt abzeichnet, vergeben Banken und Mikrokreditanbieter weiterhin unbesicherte Darlehen an die vielen Südafrikaner, die ihrem Kaufrausch frönen wollen. Der Abil-Manager Tami Somoku machte sich schon 2013 über diese Kunden lustig: „Die Verbraucher interessieren sich nicht für ihre Rechte oder für die Finanzunterlagen. Alles, was sie wollen, ist ein Darlehen, und das möglichst schnell.“ Zwar gibt es seit 2005 ein Gesetz über die Begrenzung der Kreditzinsen. Doch von dem unzureichend regulierten Sektor für unbesicherte Kredite werden die bestehenden Vorschriften notorisch missachtet.

Mit aggressiven Kampagnen warb Abil bis zuletzt für Darlehen zwischen 35 und 10 000 Euro bei einer Laufzeit von 60 Monaten und einem durchschnittlichen Jahreszins von 60 Prozent (bei einer Inflationsrate von 6 Prozent). Mittlerweile sind weitere Marktteilnehmer auf den Zug aufgesprungen, unter anderem Lebensversicherungen, die Werbespots vor allem im öffentlichen Fernsehen schalten. Die ärmeren Viertel wiederum erleben eine Invasion der etwa 30 000 inoffiziellen Mikrokreditanbieter (Mashonisa), die Monatszinsen bis zu 100 Prozent verlangen.

Die Zielgruppen der Geldverleiher sind längst nicht mehr nur die leitenden Angestellten der Mittelschicht oder die 250 000 Beamten, die der Staat seit 2007 eingestellt hat. Auch arme Arbeiter auf dem Land und in den Townships der Bergbaugebiete, denen der Zugang zu klassischen Krediten bislang verwehrt war, sollen zu verstärktem Konsum angeregt werden. Dass Präsident Jacob Zuma diese Flucht nach vorn toleriert, ist vor allem Wahltaktik. Mittels Darlehen soll ein Wachstum verstetigt werden, das die neue schwarze Mittelschicht nicht mehr zu treiben vermag. Die obskuren und demagogischen Methoden des Präsidenten sind jedoch selbst in seiner eigenen Partei, dem ANC, umstritten.3

Inzwischen mischen auch ausländische Unternehmen in dem lukrativen Geschäft mit. Seit 2011 betreibt der britische Onlineanbieter Wonga eine südafrikanische Filiale, die „schnelle Kleinkredite“ mit einer Höchstlaufzeit von 50 Tagen anbietet.4 Für die Liquidität auf diesem treibhausartigen Kreditmarkt sorgen auch Risikokapitalgesellschaften, die Aktien kaufen, um rasche Erträge in Form von saftigen Margen und Gewinnen zu erzielen.

Von diesen Gewinnen, die der südafrikanische Aktienboom abwirft, sind in den letzten fünf Jahren 20 Milliarden Dollar in den Markt für unbesicherte Kredite geflossen. Die Finanzdienstleister wiederum verleihen kleinste Summen, die ihren Aktionären große Gewinne bescheren und 2012 bereits 20 Prozent der gesamten Börsenkapitalisierung der Johannesburg Stock Exchange ausmachten.5

Auch Goldman Sachs beteiligte sich im Dezember 2013 an einem der „größten transnationalen Geschäfte des Jahres auf den afrikanischen Kapitalmärkten“6 und stellte Abil 412 Millionen Euro bereit. Dabei war die globale Finanzkrise damals bereits im Begriff, auch die „Regenbogennation“ zu erfassen. Seit 2008 hat sich die Johannesburger Börse zum beliebten Ort für die Spekulationsgeschäfte westlicher Investmentfonds entwickelt. Die haben es dabei vor allem auf den Finanzsektor abgesehen, in dem ein Viertel des südafrikanischen Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet wird. Und das in einem Land, in dem eine Inflationsrate von derzeit 6,6 Prozent die Einkommen aufzehrt, vor allem durch steigende Kosten für Wohnen (5,8 Prozent), Ernährung (8,8 Prozent), Strom (200 Prozent in vier Jahren) und Verkehr (8,6 Prozent). Zudem sind mehr als 4,7 Millionen Menschen (25,6 Prozent der Erwerbsbevölkerung) ohne Arbeit.

Von den insgesamt 21 Millionen Privatdarlehen sind mehr als 9 Millionen mit Abzahlung und Zinsen um mindestens drei Monate im Verzug. Allein Abil muss von den 3,2 Millionen vergebenen Privatkrediten etwa ein Drittel komplett abschreiben. Der Markt für unbesicherte Darlehen ist zu einer Zeitbombe geworden, und niemand hat sich bislang getraut, sie zu entschärfen. Wer für diese Krise verantwortlich ist, lässt sich am Beispiel von Deloitte zeigen. Die britische Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die zu den „vier Großen“ der Branche gehört, empfahl noch kurz vor Beginn der Finanzkrise – unter Verweis auf die neue südafrikanische Mittelschicht – eine besonders günstige, ja, „goldene“ Anlagemöglichkeit: unbesicherte Kredite.

Adenaan Hardien, Chefökonom eines südafrikanischen Investmentfonds, befürchtet als Folge der Abil-Pleite, dass Millionen Südafrikaner den Zugang zu Krediten verlieren könnten. Und die Abil-Aktionäre dürften durchschnittlich 10 Prozent ihrer angelegten Kapitalsummen einbüßen.

Der soziale Abstieg der „Born Free“-Generation, die nach dem Ende der Apartheid 1994 geboren wurde und bislang nur die bitteren Früchte von Freiheit und Demokratie ernten durfte, wird aber auch politische Folgen haben. Wie die aussehen, weiß heute niemand. Eine Vorahnung vermittelt aber die heftige Debatte über die Einführung eines nationalen Mindestlohns, die vor dem Hintergrund der wachsenden Ungleichheit geführt wird.

Am 19. September 2013 brachte ein von Präsident Zuma eingesetzter Untersuchungsausschuss die Hintergründe der gewalttätigen Niederschlagung eines Arbeiterstreiks mit 38 Toten und 78 Verletzten im Platinbergwerk Marikana ans Licht.7 Zu den Hauptursachen des Ausstands, der die Betreiberfirma Lonmin zur Auszahlung ausstehender Löhne zwingen sollte, zählte die Verschuldung der Bergarbeiter. Saliem Fakir, der an der Universität Stellenbosch lehrt, verweist darauf, dass die vielen offiziellen und inoffiziellen Geldgeber gerade die Städte des Platingürtels als „neue Front“ entdeckt haben.8

Dabei nutzten die Schuldeneintreiber und Inkassounternehmen gewisse Gesetzeslücken, um bei den Arbeitgebern direkt auf die Löhne der Bergleute zuzugreifen. Der ausgedehnte wilde Streik bedeutete für die Lomin-Bergarbeiter und -Zulieferer allerdings auch fast einen Monat ohne Einkommen. Deshalb mussten viele von ihnen neue Kredite aufnehmen, um ihre Schulden weiter bedienen zu können.

Der südafrikanische Autor und Journalist T. O. Molefe zieht den Schluss: „Da die Geschäftsbanken den Armen überteuerte Kredite aufdrücken, um sie dann für das solcherart finanzierte Leben zu bestrafen, muss die Regierung eine Bank gründen, die den Schwächsten in Südafrika endlich Darlehen zu niedrigen Zinsen anbietet.“9

Tami Somoku konnte sich während seiner zehnjährigen Tätigkeit – als Chefberater von Abil-Chef Kirkinis – Aktienoptionen im Wert von mehr als 3 Millionen Euro aneignen. Und der zurückgetretene Bankchef selbst, der im Übrigen als großer Visionär galt, weil er es gewagt hat, auch den Armen Geld zu leihen, brachte es unter anderem zu einem Luxusanwesen in der Nähe von Kapstadt. Heute steht die Immobilie zum Verkauf – für 4 Millionen Euro.

Inzwischen musste Südafrika seine Wachstumsprognose für 2014 auf 1,4 Prozent nach unten korrigieren. Noch zu Beginn des Jahres lautete die Prognose auf 2,7 Prozent. So mehren sich die Anzeichen dafür, dass das südafrikanische Wirtschaftswunder, das Migranten und Investoren gleichermaßen anzieht, sich demnächst als ein leeres Versprechen erweisen könnte.

Fußnoten: 1 „South Africa: Two decades of freedom“, Dezember 2013: www.goldmansachs.com. 2 Siehe T. O. Molefe, „South Africa’s subprime crisis“, in: New York Times, 26. August 2014. 3 Siehe Achille Mbembe, „Der Charme des Lumpenradikalen. Über den unaufhaltsamen Aufstieg des Jacob Zuma in Südafrika“, Le Monde diplomatique, Juni 2009. 4 Wonga ist in Großbritannien wegen seiner Mikrokredite mit Jahreszinsen bis zu 3000 Prozent berüchtigt. Das Unternehmen wird deshalb unter anderem von der Anglikanischen Kirche heftig angegriffen. 5 Siehe „South African banks: Payday mayday“, in: The Economist, London, 16. August 2014. 6 Auf Empfehlung der globalen Wirtschaftskanzlei Norton Rose Fulbright; siehe „Norton Rose Fulbright advises Goldman Sachs on R5.482 billion (US$ 525 million) rights offer“, 16. Dezember 2013: www.nortonrosefulbright.com. 7 Siehe Greg Marinovich, „Menetekel für Südafrika. Achtzehn Jahre nach der Geburt der Regenbogennation schießen Polizisten wieder auf Demonstranten“, Le Monde diplomatique, Oktober 2012. 8 Saliem Fakir, „From Marikana to the fall of African Bank: Unsecured loans and low wages create a hollow economy“, The South African Civil Society Information Service (Sacsis), 20. August 2014: sacsis.org.za. 9 T. O. Molefe, siehe Anmerkung 2.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Alain Vicky ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2014, von Alain Vicky