Zentralasien, Region unter Einfluss
von Régis Genté
Wenn man sich auf eine Reise durch Zentralasien begibt, von den Gipfeln des Pamirgebirges bis zu den unendlichen Weiten der kasachischen Steppe, bekommt man ein Gespür für die tektonischen Verschiebungen, die sich in dieser Großregion vollziehen. Seit Juni dieses Jahres sind die Großraumtransporter der U.S. Air Force aus Kirgisien verschwunden – zumindest sind sie auf dem Rollfeld des Flughafens Manas in der Nähe der Hauptstadt Bischkek nicht mehr zu sehen. Die USA ziehen sich zumindest teilweise aus Afghanistan zurück und geben ihre einzige Militärbasis in Zentralasien auf, für die sie hohe Pachtsummen bezahlt haben, die ihnen jetzt aber offenbar nicht mehr wichtig genug ist.
Der gigantische Dordoi-Basar am Rand von Bischkek dient seit rund zwanzig Jahren als Großmarkt für chinesische Waren, der Käufer aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion anlockt. Seit 2010 ist die Zahl der Verkaufsstände jedoch deutlich zurückgegangen. Damals kam auf Betreiben des russischen Präsidenten Wladimir Putin die „Eurasische Zollunion“ zustande, der bislang Russland, Weißrussland und Kasachstan angehören. Kirgisien bereitet gerade seinen Beitritt vor. Da Russen und Kasachen die Produkte, die sie aus Kirgisien mitbringen, bei der Rückkehr verzollen müssen, haben sich für sie die chinesischen Waren verteuert, obwohl sie meistens immer noch billiger sind als die gleichen Produkte russischer Herkunft.
In Bischkek florieren auch die chinesischen Geschäfte und Restaurants. Der Einfluss Pekings wird noch zunehmen, wenn 2016 die Bauarbeiten an einer Gaspipeline über kirgisisches Territorium beginnen. Dieser Teilabschnitt wird das Leitungssystem komplettieren, das die Ausbeutung der gewaltigen Gasvorkommen in Turkmenistan ermöglicht, die heute bereits 51 Prozent der chinesischen Erdgasimporte decken (siehe Karte).
Für Zentralasien und seine gut 60 Millionen Einwohner bricht eine neue Ära an. Im 19. Jahrhundert war die Region Schauplatz des „Großen Spiels“ zwischen dem russischen und dem britischen Weltreich. Nach der Unabhängigkeit der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken (Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisien, Kasachstan und Turkmenistan) im Jahr 1991 begann ein neues „Großes Spiel“, als die Vereinigen Staaten in die Region kamen.
Heute befürchten Beobachter wie der Zentralasienexperte Alexander Cooley eine Destabilisierung der gesamten Region, da sich „die Machtübergabe in den diktatorischen und autoritären Regimen als schwierig erweisen dürfte“. Womöglich sehen sich die Großmächte künftig nicht mehr in der Lage, eine „sicherheitspolitische Verantwortung wahrzunehmen.“
An der tadschikisch-kirgisischen Grenze kam es bereits zu Scharmützeln zwischen bewaffneten Grenzposten. Ein Disput über Kleinigkeiten wie die Umleitung eines Bachs kann in eine mörderische Konfrontation münden, weil der Grenzverlauf zwischen beiden Ländern nicht eindeutig gekennzeichnet ist. Die Lage könnte sich insbesondere beim Streit um das Ferganatal zuspitzen, dem fruchtbarsten Landstrich von ganz Zentralasien, wo ein gutes Fünftel der gesamten Bevölkerung der Region lebt. Das Tal wird durch das Flusssystem des Syrdarja entwässert, der – zählt man seine Zuflüsse hinzu – insgesamt vier Staaten durchquert. Früher war das kein Problem, weil es sich lediglich um Verwaltungsgrenzen zwischen Sowjetrepubliken und nicht, wie heute, um kompliziert verlaufende Staatsgrenzen handelte.
Das „neue Große Spiel“ in Zentralasien hat sich im Zuge der jüngsten Konfrontation zwischen den Großmächten entwickelt. Es begann 2001 mit der Intervention des Westens in Afghanistan. Anfangs wurde Washington von Putin unterstützt, der nach dem 11. September der erste Staatschef war, der dem amerikanischen Volk und seinem Präsidenten kondoliert hatte. Zwei Jahre später begann sich das bilaterale Verhältnis bereits zu verschlechtern. Während die USA in den Irak einmarschierten, war Russland fest entschlossen, seine Einflusssphäre in der „unmittelbaren Nachbarschaft“ zu verteidigen.1 Nach Ansicht Cooleys ging Russland davon aus, „dass die Amerikaner mittels ihrer Präsenz in Afghanistan zu einem echten Akteur in Zentralasien werden wollten“. Eindeutig erwiesen ist das aber nicht, denn das Bestreben der USA, im Zentrum Eurasiens Fuß zu fassen, unterlag durchaus Schwankungen.
Als die ersten US-Kampfjets 2001 auf dem Militärflughafen von Manas eintrafen, musste Washington erst einmal Verträge mit den Söhnen der kirgisischen Präsidenten Askar Akajew (1990–2005) und Kurmanbek Bakijew (2005–2010) abschließen, die den beiden das Monopol auf die Treibstoffversorgung des Stützpunkts sicherten.2 Später drängte Moskau in Bischkek darauf, der U.S. Air Force zu kündigen. Im Sommer 2009 wurde die Militärbasis formell in ein Logistikzentrum umgewandelt, über das allerdings noch Truppentransporte nach Afghanistan abgewickelt wurden. Seit dem Auslaufen des Pachtvertrags im Juli 2014 ist Manas ausschließlich ein ziviler Flughafen unter voller Kontrolle der kirgisischen Regierung.
Der etappenweise Abzug wurde in Washington nur widerwillig beschlossen. Aber auf eine Kraftprobe war die Regierung Obama schon deshalb nicht aus, weil sie zunächst einen Neuanfang in den Beziehungen zu Moskau anstrebte und bereits den Abzug aus Afghanistan plante. Seitdem haben die USA eine andere Region in den Blick genommen: den fernen Osten Eurasiens und die Pazifikküste. Das entspricht der Neuausrichtung ihrer strategischen und wirtschaftlichen Prioritäten, in der man eine Art von Kontinuität im Wandel sehen kann: Man will nach wie vor eine Schlüsselrolle auf dem eurasischen Kontinent spielen, nur hat sich das Interesse weiter nach Osten verlagert.3
Die US-Strategie für Zentralasien war nie sonderlich originell. Im Grunde beschränkte sie sich auf die Vision einer „neuen Seidenstraße“, die seit 1999 mit dem Ziel verknüpft war, „eine wirtschaftlich lebendige Region zu schaffen, die Afghanistan und die Länder Zentral- und Südasiens verbindet“.4 Dabei ging es nicht nur darum, die Stabilität dieser Region zu sichern, sondern auch den wirtschaftlichen Austausch zu fördern und vor allem den Aufbau der Infrastruktur voranzutreiben. Doch dieses Konzept ist weder kohärent noch besonders realistisch.
Das zeigt sich zum Beispiel an dem Elektrizitätsverbund Casa 1 000 (Central Asia South Asia Electricity Transmission and Trade Project). Das Projekt, an dem Kirgisien, Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan beteiligt sind, kommt nicht voran, weil die Stromnetze in Kirgisien und Tadschikistan marode sind und weil es keine „Strategie für die Sicherung der Infrastruktur“ gibt.5
Selbst die politischen Beziehungen zwischen den fünf ehemaligen Sowjetrepubliken sind schwierig, und der wirtschaftliche Austausch ist nach wie vor begrenzt. Im Süden der Region wird es erst recht kompliziert: Pakistan geht zunehmend auf Distanz zu Washington, und zum Iran bestehen wegen des US-Boykotts nicht einmal wirtschaftliche Beziehungen. Aber ohne diese beiden Länder ist eine echte regionale Partnerschaft undenkbar.
Völlig offen ist auch die Entwicklung in Afghanistan, obwohl Kabul und Washington im September nach einer langen Phase der Ungewissheit ein Abkommen über den Verbleib von US-Truppen in Afghanistan unterzeichnet haben (siehe Artikel auf Seite 4). Und es gibt noch mehr offene Fragen, die sich auf die künftige Rolle der USA auswirken: Wird es eine neue Etappe im „Krieg gegen den Terrorismus“ geben? Wie geht es in Pakistan weiter? Und wie entwickelt sich das Verhältnis der USA zu Russland, das durch die Ukrainekrise schwer belastet ist?
Am 9. Juni 2014, drei Monate vor dem endgültigen Abschied der US-Truppen aus Kirgisien, vollzog sich in Bischkek ein hochsymbolischer Akt. Der russische Ölkonzern Rosneft unterzeichnete mit der Regierung Atambajew eine Vereinbarung über den Erwerb eines 51-prozentigen Anteils am internationalen Flughafen von Manas. Warum interessiert sich ein Ölkonzern für einen Flughafen in einem Land, das über keinerlei fossile Ressourcen verfügt? Fürs Erste hat Rosneft, dessen Vorstandsvorsitzender Igor Setschin einer der engsten Vertrauten von Wladimir Putin ist, Investitionen von umgerechnet einer Milliarde Dollar zugesagt, um Kirgisien zu einer logistischen Basis auszubauen.
Zuvor hatte Bischkek schon Verträge mit anderen russischen Staatskonzernen abgeschlossen, etwa mit Gazprom und den Stromanbietern Inter RAO und RusHydro. Diese Abschlüsse lassen eher geopolitische als kommerzielle Absichten erkennen. „Wer könnte ernsthaft daran interessiert sein, Kyrgyzgaz zu kaufen – selbst für den symbolischen einen Dollar, den Gazprom gezahlt hat?“, fragt ein hoher kirgisischer Funktionär, der anonym bleiben möchte. „Es ist doch bekannt, dass das Unternehmen ein Fass ohne Boden ist.“
Die jüngste Geschichte Kirgisiens hat die Politiker gelehrt, dass man bei dem, was Moskau als seine fundamentalen Interessen betrachtet, besser keinen Widerstand leistet. Dass Präsident Bakijew im April 2010 gestürzt wurde, hatte vor allem damit zu tun, dass er diesen Grundsatz missachtet hatte. Es war die Quittung dafür, dass der leichtsinnige Staatschef den Amerikanern angetragen hatte, in Batken ein militärisches Ausbildungszentrum zu errichten, nachdem er dem Kreml die gewünschte zweite russische Militärbasis verweigert hatte.
In der Krimfrage hat sich Kasachstan enthalten
Die Ukrainekrise hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Karten in Zentralasien neu gemischt werden.6 „Die Mächte in der Region werden daran erinnert, wie bedrohlich Moskau für sie werden kann“, erklärt der tadschikische Politologe Parviz Mullodjanow. Im Übrigen habe der Kreml einen Kurswechsel vollzogen: „Jetzt fordert er mehr oder weniger offiziell, dass Kirgisien und Tadschikistan seiner Eurasischen Wirtschaftsunion7 beitreten sollen, damit er nach dem Verlust der Ukraine nicht völlig blamiert dasteht.“
Das Vorhaben einer wirtschaftlichen und womöglich auch politischen Integration, das an die Stelle der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft treten soll, kommt voran, ohne dass die Umworbenen begeistert wären. „Wir sind nicht gegen die Idee der Integration, ganz im Gegenteil“, beteuert der Berater eines hochrangigen kasachischen Politikers. „Aber Russland diktiert, wie die Integration auszusehen hat.“ Nach dem Abfall der Ukraine haben die Reaktionen Moskaus die Ängste in Zentralasien eher verstärkt. Deshalb erscheint die Zukunft der Eurasischen Wirtschaftsunion inzwischen höchst ungewiss.
Kasachstan schien von der Aussicht auf regionale Integration noch am ehesten angetan zu sein. Der autoritäre Präsident Nursultan Nasarbajew mimt seit 1994 den großen Verfechter des Eurasien-Projekts, schon weil er auf die russische oder russischsprachige Minderheit in seinem Land Rücksicht nehmen muss, die heute etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Allerdings beschweren sich die Kasachen vier Jahre nach der Gründung der Zollunion noch immer über diverse Hindernisse, die ihnen den Zutritt zum russischen Markt versperren. Von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum kann also noch keine Rede sein. Zudem gibt es gewaltige Größenunterschiede zwischen den Mitgliedsländern. „Die russische Wirtschaft ist zehnmal so groß wie die kasachische, und die kasachischen Unternehmen sind nicht konkurrenzfähig, weil sie seit fast zwanzig Jahren als Oligopole operieren konnten“, erklärt der Finanzexperte Jean-Christophe Lermusiaux, der lange in Kasachstan gearbeitet hat.
Putin begegnet seinen Unionspartnern mit unverhohlener Geringschätzung. Ende August vergrätzte er seinen wichtigsten Verbündeten Nasarbajew mit der Bemerkung, er habe „einen Staat auf einem Territorium errichtet, das nie einen Staat gehabt hat“. Der kasachische Präsident verstand das als versteckte Drohung, auf die er mit dem Satz reagierte, sein Land werde sich nicht an „Organisationen beteiligen, die eine Bedrohung unserer Unabhängigkeit darstellen“. Und so enthielt sich Kasachstan demonstrativ, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen über eine Resolution abstimmte, die das Referendum auf der Krim für rechtlich unwirksam erklärte.8
Noch schwieriger ist es für Moskau, seinen Einfluss in Usbekistan und Turkmenistan zu verteidigen. Beide Länder haben keine gemeinsamen Grenzen mit Russland. Wegen ihres Reichtums an Bodenschätzen – insbesondere an fossilen Brennstoffen – können sie sich von anderen Partnern umwerben lassen. Zudem scheinen die Russen, denen die Region doch so vertraut ist, nicht in der Lage zu sein, für die erforderliche Sicherheit zu sorgen.
Als es im Juni 2010 in Och zu blutigen Zusammenstößen zwischen Usbeken und Kirgisen kam, bei denen nahezu 500 Menschen ums Leben kamen, intervenierte weder Russland noch die weitgehend von Russland kontrollierte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Dabei stand damals die Sicherheit in dem gesamten unruhigen Ferganatal auf dem Spiel.9
Russlands Einfluss in dieser Region geht also Jahr um Jahr weiter zurück – trotz aller noch vorhandenen Hebel und Kontakte, trotz eines gewissen politischen Kapitals in Form des Vertrauens, das es bei vielen Menschen und Politikern noch immer genießt, und trotz der kulturellen Affinität und der gemeinsamen Sprache. Das liegt auch daran, dass die fünf zentralasiatischen Staaten es geschickt verstehen, andere Mächte als Gegengewicht ins Spiel zu bringen, zum Beispiel die USA, Europa, Südkorea und Japan. Aber vor allem China.
Dabei ist China erst relativ spät auf dem zentralasiatischen Radar aufgetaucht. Gleich nach dem Umbruch von 1989 sah man als künftige Hauptakteure in dieser Region entweder den Iran oder die Türkei. Beide Länder haben es jedoch nicht geschafft, erklärt der Politologe Thierry Kellner: „Dagegen ist China, das bis in die 1980er Jahre nicht präsent war, zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Begriff, zu der wichtigsten großen Macht in Zentralasien zu werden.“10 Für Tadschikistan, Kirgisien und Turkmenistan ist China inzwischen der wichtigste Handelspartner, für Usbekistan und Kasachstan ist es der zweitwichtigste (nach Russland).
Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt verstärkt ihr Engagement in der Region auf beeindruckende Weise. Im September 2013 unterzeichnete Staatspräsident Xi Jinping im Lauf einer zehntägigen Rundreise Handels- und Kreditverträge im Wert von rund 50 Milliarden Dollar. Die chinesischen Gasimporte aus Turkmenistan sollen in Zukunft auf 65 Milliarden Kubikmeter pro Jahr ansteigen. Mit Kasachstan vereinbarte Xi Jinping eine Beteiligung von 8,33 Prozent an dem riesigen Kaschagan-Ölfeld im Kaspischen Meer, und er kündigte den Bau einer Ölraffinerie durch den chinesischen Staatskonzern CNPN an.
Vor diesem Hintergrund sind auch die chinesischen Infrastrukturinvestitionen zu sehen, die vor allem in Verkehrsprojekte fließen. Die Strategie Pekings zielt auf ein „pazifisches Hinterland“, das Kellner als „notwendige Voraussetzung für die Modernisierung und Machtentfaltung Chinas“ sieht. Deshalb habe sich Peking auch von Anfang für die Sicherheit in Zentralasien interessiert. Die Angst vor „separatistischen Bestrebungen der Uiguren in der turkofonen muslimischen Provinz Xinjiang“, die an Zentralasien grenzt, spiele dabei eine ebenso große Rolle wie die Frage der „Energiesicherheit“.
China hält sich aus innenpolitischen Fragen heraus, um den Verdacht, kolonialistische Absichten zu verfolgen, erst gar nicht aufkommen zu lassen. Gestützt auf sein großes finanzielles Potenzial, ist es zu einem unumgänglichen Akteur in der Region geworden. „Russland kann China in der Region nicht mehr Einhalt gebieten“, meint der Chinaexperte Konstantin Siroiejkine vom Kasachischen Institut für strategische Studien (Kisi). Die Folge seien allerdings auch vermehrte Konflikte. Als Beispiel nennt Siroiejkine Chinas Gaskäufe in Zentralasien. Mit denen hat sich Peking ein Instrument verschafft, „um aus einer Position der Stärke mit Moskau zu verhandeln“, weil es die russischen Energielieferungen entsprechend reduzieren könne.
Zurzeit ist der Kreml in seiner geopolitischen Kraftprobe mit dem Westen so stark auf China angewiesen, dass er in Zentralasien keine Konfrontation riskieren kann. Die Unterzeichnung des Supervertrags vom 21. Mai 2014 über die Lieferung von jährlich 38 Milliarden Kubikmeter Gas – im Wert von 400 Milliarden Dollar und mit einer Laufzeit von dreißig Jahren – war deshalb für Moskau von überragender Bedeutung. Russland konnte dem Westen zeigen, dass es sein Öl und sein Gas auch nach China oder allgemein nach Asien exportieren kann.
Seit 2013 wirbt der chinesische Staatspräsident für seine eigene „neue Seidenstraße“. Es gibt schon eine regelmäßige Bahnverbindung, über die Waren in 22 Tagen vom chinesischen Chongqing über Kasachstan und Russland nach Deutschland (Duisburg) gelangen.11 Diese Transporte zu Lande haben im Vergleich zu dem, was auf dem Seeweg umgeschlagen wird, ein noch unbedeutendes Volumen, aber die neue Route wird von großen westlichen Unternehmen wie Hewlett Packard oder BMW bereits verstärkt genutzt.
In Moskau macht sich niemand Illusionen über die Zukunft einer chinesisch-russischen Allianz. Russlands Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt liegt lediglich bei 3,5 Prozent. Und Moskau muss bei der Verfolgung seiner strategischen Ziele so oft wie möglich den Schulterschluss mit Peking suchen. Das zwingt Russland zu wohlwollender Kooperation in Zentralasien und zu Konzessionen an die chinesischen Interessen.
In die Innenpolitik will sich Peking nicht einmischen
Dabei setzt Moskau verstärkt auf die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ),12 einen potenziell mächtigen Zusammenschluss, der sich ein antiwestliches Profil zugelegt hat. Die SOZ-Mitglieder sind die größten Energieproduzenten der Welt und bilden in ihrer Summe das bevölkerungsreichste Gebiet des Planeten.
Während also die USA nach und nach das Interesse an der Region verlieren und Russland die Mittel zur Verwirklichung seiner Ambitionen abgehen, scheint China die Oberhand zu gewinnen. Allerdings will sich Peking jenseits der wirtschaftlichen Sphäre offenbar nicht engagieren: Das geopolitische Umfeld Zentralasiens ist in keiner Weise dazu angetan, Staaten zu stabilisieren, in denen diktatorische Regime herrschen und die auf dem brüchigen Fundament von Clanstrukturen aufgebaut sind. Schon jetzt gibt es viele schwelende Konflikte. Künftige Machtwechsel dürften sich schwierig gestalten, wie sich vor allem in Usbekistan zeigt. In allen Ländern herrschen Korruption und Armut – beste Voraussetzungen für den Vormarsch des radikalen Islamismus.
Das Problem ist also, dass offenbar keine Großmacht über die notwendige Autorität oder Entschlossenheit verfügt, diese im Fall einer schweren Sicherheitskrise zur Geltung zu bringen. Wie wäre ein Konsens zu erreichen, falls neue ethnische Auseinandersetzungen oder ein missglückter Machtwechsel in einzelnen Staaten zu einer politischen Krise führen?
Eine Antwort versucht Alexander Cooley, unser Zentralasienexperte von der Columbia University: „Alle Beteiligten müssen in der Frage regionaler Partnerschaften offen und flexibel sein“, dürfen sich also nicht hinter Prinzipien verschanzen, die eine Zusammenarbeit mit dieser oder jener einflussreichen Großmacht von vornherein ausschließen.13 Das klingt angesichts der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen ziemlich optimistisch. Und wie lange das derzeitige Einvernehmen zwischen Peking und Moskau Bestand haben wird, ist fraglich.
Die Ursache für die aktuellen geopolitischen Verschiebungen sehen viele Experten in der Konkurrenz der großen Mächte. So sieht es zum Beispiel Chokan Laumulin, ein aus Kasachstan stammender Asienexperte am Cambridge Central Asia Forum in London: Der Konflikt zwischen Washington und Moskau, der sich unter anderem in der Ukrainekrise äußert, könne dazu führen, „dass sich Russland in die Tiefen Eurasiens zurückzieht“. So sei es auch im 19. Jahrhundert geschehen, als sich Russland nach der Niederlage auf der Krim zur Eroberung Zentralasiens aufmachte. Für den Fall, dass Russland „die Ukraine verliert“, könnte es „erneut versuchen, seine Positionen tief im Herzen des eurasischen Kontinents, in Zentralasien zu konsolidieren“. Und das könnte Washington im Grunde ganz recht sein, meint Laumulin.
Wenn es so käme, könnten die zentralasiatischen Republiken eine entscheidende Rolle für die Stabilität in der Region spielen. Deshalb versuchen deren führende Politiker mehr denn je, die Ambitionen der Großmächte gegeneinander auszuspielen und damit auszubalancieren. In Tadschikistan zum Beispiel erklärt Saifullo Safarow vom Zentrum für strategische Studien in Duschanbe, sein Land bereite sich ohne große Begeisterung auf den von Moskau gewünschten Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion vor. Aber auf keinen Fall dürfe man deshalb die Politik des Gleichgewichts zwischen den Großmächten aufgeben: „Um herauszufinden, was die Integration in die Eurasische Wirtschaftsunion für uns bedeutet, müssen wir darüber nachdenken, wie sie sich mit unseren grundlegenden strategischen Interessen vereinbaren lässt.“
Das ist für diese Länder allerdings nichts Neues: Vom Tag ihrer Unabhängigkeit an haben sie gelernt, mit mehreren Bällen zu jonglieren.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Régis Genté ist Journalist.
Fünf sind nicht eins
Seit die fünf Staaten Zentralasiens 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt haben, ist ihre wirtschaftliche und politische Entwicklung sehr unterschiedlich verlaufen. Dabei haben die turksprachigen Völker (also alle außer den persischsprachigen Tadschiken) eine lange gemeinsame Vergangenheit – insbesondere seit ihrer schrittweisen Eingliederung in das russische Zarenreich im 19. Jahrhundert.
Usbekistan ist mit seinen 30 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Zentralasiens (mit insgesamt 66 Millionen Einwohner) und nach wie vor agrarisch geprägt. Dagegen erzielen Turkmenistan und Kasachstan erhebliche Einnahmen aus Gas- und Ölexporten. Kasachstan erwirtschaftet allein zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der gesamten Region. In Kirgisien und Tadschikistan machen die Geldtransfers von Migranten einen wesentlichen Teil der Einnahmen aus – rund 35 Prozent des BIPs in Kirgisien und rund 50 Prozent des BIPs in Tadschikistan.
Die fünf Länder sind durch komplizierte Grenzen getrennt, die 1936 willkürlich von der Sowjetunion gezogen wurden. Sie sind auch der Grund für die häufigen territorialen Streitigkeiten. Die daraus resultierenden Spannungen zwischen den einzelnen Ländern werden zusätzlich durch die Rivalitäten ihrer führenden Politiker verstärkt. Von den fünf Ländern pflegen Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisien engere Beziehungen zu Moskau. Turkmenistan nimmt seit 1995 eine neutrale Position ein, und Usbekistan verfolgt eine dezidiert unabhängige Politik.