11.12.2014

Batman und Volkstribunale

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Batman und Volkstribunale

Reise durch die ukrainischen Gespensterrepubliken von Laurent Geslin und Sébastien Gobert

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Manchmal kommt Dimitri vorbei, um nach seinen früheren Nachbarn zu sehen. Die harren in ihren Häusern aus, nur zwei Kilometer entfernt vom umkämpften Donezker Flughafen. Die Dächer der Häuser im Putilowka-Viertel sind großenteils weggerissen, die Backsteinfassaden rauchgeschwärzt. Ein paar Kämpfer hocken um ein Feuer, über dem eine Kaffeekanne hängt. „Hier kommt keine Hilfe an“, klagt Dimitri und lässt den Blick über Trümmerhaufen und verbogene Eisenträger schweifen. Der alte Mann hat bei Verwandten Zuflucht gefunden. Andere sind nach Kiew oder Russland geflohen.

Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) haben seit Kriegsbeginn mehr als 830 000 Menschen ihren Wohnort verlassen.1 Die Zahl der Toten liegt offiziell bei 4 000. Wer bleibt, muss sehen, wie er überlebt. Arbeit gibt es kaum. Viele Unternehmen und Geschäfte, wie auch die meisten Banken auf dem Gebiet der selbst proklamierten „Volksrepubliken“ Donezk (DNR) und Lugansk (LNR), sind geschlossen. Jeden Tag stehen die Menschen vor der Post Schlange, um Geldsendungen abzuholen. „Ich lebe von meinen Ersparnissen, aber die sind bald erschöpft“, erzählt ein pensionierter Bergarbeiter.

Am 4. November erklärte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, man werde keine Sozialleistungen mehr an die von den Rebellen kontrollierten Regionen zahlen. Zur Begründung erklärte er: „Wenn wir heute Geld überweisen, kommt es nicht bei der Bevölkerung an, sondern wird von russischen Gangstern gestohlen, und dann hilft es vor allem, den russischen Terror zu finanzieren.“ Am 15. November verkündete Staatspräsident Petro Poroschenko auch die Einstellung aller Aktivitäten von staatlichen Unternehmen, Institutionen und Organisationen. Damit wird die Distanz zu den Separatistengebieten nur noch größer. Die Regierung zahlt den Staatsangestellten keine Gehälter mehr und friert die 34 Milliarden Griwna (1,7 Milliarden Euro) ein, die 2014 für die Region bestimmt waren. Gas und Strom sollen aber weiterhin geliefert werden.

Früher hatten die Oblaste Donezk und Lugansk 7 Millionen Einwohner. Die Rebellen kontrollieren die bevölkerungsreichsten Gebiete, in denen etwa 5 Millionen Menschen leben. Die ukrainische Regierung schaut einfach weg. „Ich will gar nicht wissen, was auf der anderen Seite der Front geschieht“, sagt Volodymyr Hritsishyn, Vizegouverneur der Region Lugansk. Heute amtiert er im Exil, als Amtssitz dient ihm das Rektorat der Universität von Sjewjerodonezk. Wie viele andere hat er die Einschüchterungsversuche der Rebellen erlebt. „Wenn die Beamten, Professoren oder Rentner dort bleiben, ist das ihre Entscheidung und ihr gutes Recht. Aber die Ukraine schuldet ihnen nichts mehr, schon gar kein Gehalt!“ Im Übrigen könnten die Rentner ihre Pension immerhin noch in bar beziehen – vorausgesetzt sie lassen sich in einem von der ukrainischen Armee besetzten Dorf registrieren und trauen sich jeden Monat durch die Front.

Trotz des am 5. September in Minsk unterzeichneten Waffenstillstands gibt es jeden Tag Kämpfe: am Donezker Flughafen, um die von der ukrainischen Armee kontrollierte Stadt Debalzewe oder beim Kraftwerk Stschastje, nördlich von Lugansk. Die jüngste Verstärkung mit Panzern und Artillerie lässt ein Wiederaufflammen des Kriegs befürchten. Die Separatisten können gegen die zunehmende Verarmung nichts ausrichten. Moskau begnügt sich mit „humanitären Konvois“, deren Inhalt sich nicht überprüfen lässt. Der Kreml und private Unterstützer sollen auch einen Teil des Budgets der beiden „Republiken“ finanzieren, aber bewiesen ist das nicht. „Ohne Finanzhilfe unserer Nachbarn und Freunde könnten wir nicht überleben“, sagt Igor Kostianok. Als „Bildungsminister“ sollte er es wissen.

Seit Mitte Oktober ist in der ukrainischen Ebene der Winter eingebrochen. Die Nachttemperaturen fallen weit unter null. Am Morgen in einem Hinterhof im Stadtzentrum von Donezk. In einem großen Zelt drängen sich ein paar Leute um einem dampfenden Topf, darunter Ana, eine frühere Ingenieurin. „In den Geschäften kann man alle Lebensmittel kaufen“, berichtet Ana, „aber ich habe keinen Cent mehr.“ Die Rinat-Achmetow-Stiftung ist eine der wenigen Organisationen, die die Bevölkerung der Ostukraine mit Hilfslieferungen unterstützen. Nach eigenen Angaben hat sie bis Mitte November mehr als eine Million Pakete verteilt. Der Inhalt reicht einer Familie zwei Wochen zum Überleben. Der Oligarch Achmetow ist der gestürzte Herr der Region.2 Der Exgeschäftspartner von Expräsident Janukowitsch wird verdächtigt, im Frühjahr die ersten Rebellenbewegungen finanziert zu haben, um Druck auf die neue Regierung in Kiew auszuüben. Heute wird er die Geister, die er rief, offenbar nicht mehr los – deshalb lässt er sich in der Region nicht mehr blicken.

Der Donbass gleicht mehr denn je einem Niemandsland, um dessen Kontrolle mehrere Gruppen und Milizen konkurrieren. „Unser Ziel ist die Schaffung von Neurussland. Aber das braucht Zeit“, erklärt Igor Plotnizki, „Ministerpräsident“ der LNR. „Wir müssen die Alltagsprobleme lösen und zugleich mittels Referendum die Legitimität des neuen Staats beweisen.“

Wir sind im Krieg und können keine Opposition dulden

Am 26. Oktober fanden in der Ukraine vorgezogene Parlamentswahlen statt, aus denen die proeuropäischen Kräfte in Kiew als Sieger hervorgingen. In den beiden „Republiken“ behaupteten sich eine Woche später bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die starken Männer an der Macht: Alexander Sachartschenko, 38, früher Elektriker, dann Kriegsherr, wurde in Donezk mit 77 Prozent der Stimmen gewählt; in Lugansk erhielt der 50-jährige Offizier Igor Plotnizki 63 Prozent. Die Ergebnisse kamen nicht überraschend. Alle potenziellen Oppositionskandidaten waren in den Wochen vor den Wahlen aus dem Weg geräumt worden.

Alexander Biednow, der Anführer des „Batman“-Bataillons, das die Front nördlich von Lugansk kontrolliert, hatte versucht, sich bei der Wahlkommission der LNR registrieren zu lassen. Ein kleiner Schusswechsel brachte ihn zur Vernunft, er verzichtete auf eine Kandidatur. Kurz vor der Wahl erklärte Andrej Purgin, „stellvertretender Ministerpräsident“ der DNR: „Alle antretenden Kandidaten sind Freunde. Die Volksrepubliken sind Demokratien. Aber wir sind im Krieg und können keine Oppositionsparteien dulden, die Unruhe in der Bevölkerung säen.“

Die Ausschaltung potenzieller Konkurrenten bedeutet nicht, dass die Machthaber in den beiden Gebieten sich ideologisch einig und bereit wären, einen gemeinsamen Bundesstaat als Kern von Neurussland3 zu gründen. Die Abgeordneten vertreten entweder die eine oder die andere „Republik“, es wurde kein gemeinsames Parlament gewählt. Warum sich die DNR und die LNR nicht vereinigen, frage ich den Historiker Juli Fjodorowski. Wir sitzen, vor Mithörern geschützt, in einem Auto in einer einsamen Straße von Lugansk. Fjodorowskis Antwort lautet: „Vor allem, weil ihre Führer sich nicht mögen. Die Regierung in Lugansk weiß genau, dass sie sich Donezk unterordnen müsste, wenn es föderale Strukturen gäbe. Aber sie hat schon alle Hände voll zu tun, um die rivalisierenden Gruppen in Schach zu halten, die sich auf ihrem eigenen Territorium streiten.“

Und welche Rolle spielt Russland? Das ist auch für den wachen Chronisten Fjodorowski schwer zu erkennen: „Aus dem Umfeld des Kremls werden eindeutig Fäden in der Region gezogen. Aber welche und warum, das weiß niemand.“ Seit Anfang September gebe es eine tiefe Bruchlinie bei den Separatistenführern; sie verlaufe zwischen „den Gruppen, die den Waffenstillstand unterstützen, um ihre Machtbasis zu stabilisieren, und denen, die ihn ablehnen und die Frontlinien verschieben wollen“.

Sobald es dunkel wird, verschwinden in Lugansk auch die letzten Menschen von der Straße. Mangels Strom bleibt es dunkel, auch die Versorgung mit Warmwasser und Heizung ist unregelmäßig. „Sie behaupten, Kiew sei schuld an den Stromausfällen“, bruddelt Pawel Dremow in seinen zauseligen Bart. „Aber in Wahrheit schaffen sie es selber nicht, etwas für die Bevölkerung zu tun.“ Der Donkosak war früher Maurer. Heute herrscht er mit eiserner Hand über die 75 000 Einwohner der Stadt Stachanow, die 60 Kilometer westlich von Lugansk liegt. Warmes Wasser und Strom waren in Stachanow schnell wieder da. Dremow behauptet stolz, hier herrsche jetzt ein „sowjetischer“ Sozialismus samt einer „direkten Volksdemokratie“, die mittels „Bürgerversammlungen“ praktiziert werde. Im von Soldaten umstellten Kulturhaus nimmt der Kriegsherr mehrmals in der Woche die Beschwerden der Bürger entgegen. „Wir organisieren die Herrschaft des Bewusstseins“, rühmt er sich, im Gegensatz zur „Herrschaft des Geldes, die sie in Lugansk installiert haben.“ Dremow macht keinen Hehl daraus, dass er von einer „unabhängigen sozialistischen Kosakenrepublik“ träumt.

Damit Sie es wissen, ich bin Kommunist

Ein paar Kilometer weiter südöstlich, in Altschewsk, sitzt Alexej Mosgowoi, der gefürchtete Kommandeur der Brigade „Prisrak“ (Gespenst). Mosgowoi sieht sich selbst als „idealistischen Poeten“. Eine seiner Ideen sind „Volksgerichte“, in denen die Bevölkerung die Rechtsfindung per Handheben ausübt. Die erste Sitzung der neuen „Institution“ fand am 30. Oktober statt. Ein der Vergewaltigung beschuldigter Mann wurde von den Anwesenden zum Tode verurteilt.4 Die Separatistenregierung in Lugansk konnte die Veranstaltung nicht verhindern.

Dass die Zerstückelung die Herausbildung funktionierender Machtstrukturen verhindert, stört auch viele Rebellen: „Ich habe mit Lugansk nichts zu schaffen“, sagt Rotislaw Juralew, ein Milizionär aus dem Ural. „Ich kämpfe für Neurussland. Dieses Projekt muss uns alle vereinen. Die kleinen Republiken sind nur vorübergehend nötig.“

Wir unterhalten uns in einem Hotelfoyer in Lugansk, während Juralew seine Kalaschnikow poliert. „Damit Sie es wissen, ich bin Kommunist. Mir ist schon klar, dass diese Republiken kein bisschen kommunistisch sind. Es muss sich noch viel verändern, bis wir eine wirklich soziale Politik haben. Aber das Wichtigste ist die Einheit der russischen Welt (russki mir). Die Einheit muss und wird kommen. Wenn das Gerangel um die Macht weitergeht, werden wir diese Ehrgeizlinge schon zur Vernunft bringen, verlassen Sie sich drauf.“

Trotz all dieser Zwistigkeiten hat man es mühsam geschafft, Verwaltungsstrukturen und eine Polizei aufzubauen, die sich mehr schlecht als recht zunutze macht, was von der ukrainischen Infrastruktur noch übrig ist. Obwohl viele Polizisten bei den Demonstrationen im Frühling die Separatisten unterstützt hatten, „müssen in der DNR 90 Prozent der Polizeikräfte neu rekrutiert werden“, berichtet der Bezirkskommandant von Tores, der uns seinen Namen nicht nennt.

Alexander Kaljusski sitzt an der Hotelbar eines Luxushotels im Zentrum von Donezk und zieht an seiner Wasserpfeife. „Wenn wir nicht unser eigenes Bankensystem einrichten, können wir weder die Unternehmen besteuern noch Abgaben kassieren und auch den Ärmsten nicht helfen“, erklärt der „amtierende Vizeministerpräsident für Sozialpolitik“ der DNR. „Aber wenn Moskau unsere Unabhängigkeit unterstützt, werden sich russische Banken niederlassen, und es wird ein neues Wirtschaftssystem entstehen.“

Ende Oktober hatte der russische Außenminister Sergei Lawrow angekündigt, man werde die Wahlen vom 2. November anerkennen. Doch am Ende hat der Kreml die Abstimmung nur „respektiert“, ein Dämpfer für die Träume der Separatistenführer. Die planten eigentlich seit den Unabhängigkeitsreferenden vom Frühjahr den Anschluss an Russland. Aber eine weitere Annexion nach der Krim wäre für Moskau zu riskant. Deshalb konzentrieren sich die Separatistenregierungen auf den Ausbau staatlicher Strukturen, sagt Kaljusski: „Bis uns andere Staaten anerkennen, werden wir eine leistungsfähige Wirtschaft aufbauen, befreit von den Oligarchen, die früher die Bevölkerung des Donbass unterjocht haben.“

Tatsächlich weiß niemand, wie die Industrie wieder in Gang kommen könnte. Vor dem Krieg gehörten die Bergwerke und Fabriken der Region zu einem international vernetzten System. Die meisten Exporte gingen über Mariupol. Aber die Hafenstadt am Asowschen Meer ist nach wie vor unter der Kontrolle der ukrainischen Armee.

Die von der neuen Obrigkeit verkündeten Verstaatlichungen dienen vor allem dazu, die großen Unternehmen zwischen den Rebellengruppen aufzuteilen. Der „Landwirtschaftsminister“ der DNR, Alexej Krasilnikow, behauptet: „Der Staat wird die Kontrolle über die Mehrheit der großen Landwirtschaftsbetriebe übernehmen, die Direktoren werden von der Regierung ernannt.“

Heute stehen die meisten Fabriken in der Ostukraine still. Vor Beginn der Kämpfe betrieb das Staatsunternehmen Makijiwka Ugol in der Gegend von Donezk acht Bergwerke mit 17 000 Beschäftigten. Seit dem Sommer sind nur noch drei in Betrieb, und das mit halber Kraft. Wladimir Filimonschuk, Mitglied der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft, berichtet: „Die Kohle wandert auf Halde, weil der Transport in andere Teile der Ukraine gestoppt wurde, und man zahlt uns keinen Lohn.“

Um ökonomisch zu überleben, müssen die Separatisten ihre militärische Isolierung durchbrechen. Einige Rebellenführer sagen das ganz offen. „Wir werden die Gebiete der Oblaste Donezk und Lugansk, die noch unter Kontrolle der Kiewer Faschisten sind, demnächst zurückerobern“, meint der Ultranationalist Purgin. „Ich bin sicher, dass die russischsprachigen Städte Dnjepropetrowsk, Charkow oder Odessa sich bald erheben und neue Volksrepubliken gründen werden.“

Wenn sich der Konflikt in die Länge zieht und Moskau die Gebiete nur benutzt, um den Nachbarstaat zu destabilisieren, ohne ihre Unabhängigkeit anzuerkennen, droht die Ostukraine eine verrufene Bastion zu bleiben.

Fußnoten: 1 Laut UNHCR sind seit Anfang 2014 ungefähr 400 000 ukrainische Bürger nach Russland geflohen. Innerhalb der Ukraine sind 430 000 Menschen auf der Flucht: www.unhcr.de. 2 Siehe Klaus Müller, „Die Clans der Ukraine“, Le Monde diplomatique, Oktober 2014. 3 Noworossija beziehungsweise „Neurussland“ ist eine Reminiszenz an das Gouvernement, das 1764 von Katharina II. in den neu eroberten, ehemals osmanischen Einflussgebieten gegründet wurde. 4 BBC, 3. November 2014. Das Urteil wurde noch nicht vollstreckt. In einem Interview in seinem Hauptquartier in Altschewsk versicherte Mosgowoi, er würde diese Volksgerichte erneut einsetzen.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Laurent Geslin und Sébastien Gobert sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2014, von Laurent Geslin und Sébastien Gobert