Afghanistan – was bleibt
von Camelia Entekhabifard
Nach seiner Rückkehr aus China Anfang November erklärte der frisch gewählte afghanische Präsident Aschraf Ghani: „Friede ist unser nationales Ziel. Wenn die Schaffung von Frieden in Afghanistan einfach wäre, wäre dieses Ziel schon vor Jahren erreicht worden.“
Was man Frieden nennen könnte, scheint heute allerdings weiter entfernt als je zuvor. Ghanis Vorgänger Hamid Karsai hatte sich von seinen westlichen Förderern und Verbündeten abgewandt, nachdem die EU und auch Washington wegen der massiven Betrügereien bei den Präsidentschaftswahlen von 2009 eine neuerliche Stichwahl gefordert hatten. Karsai hat sich seitdem mit US-Präsident Obama nie wirklich ausgesöhnt. Er misstraute auch den Absichten der USA in Bezug auf die Bemühungen um einen innerafghanischen Frieden. Am Ende strebte er ein Abkommen mit den Taliban an, ohne sich mit Washington abzustimmen.
Karsai war zu der Überzeugung gelangt, terroristische und aufständische Aktionen nur stoppen zu können, indem er die ausländischen Truppen vor die Tür setzt und direkt mit den Taliban verhandelt. Bis zu seinem letzten Amtstag Ende September 2014 bemühte er sich um ein Friedensabkommen mit den „lieben Brüdern“ (wie er die Taliban nannte), ohne echte Fortschritte zu erzielen. Auch sein Nachfolger Ghani hat offenbar kein Interesse daran, dass die USA bei der Wiederaufnahme der Gespräche mit den Taliban als Vermittler auftreten. Während Karsai für diese Rolle eher Katar im Auge hatte, scheint Ghani auf Saudi-Arabien und China zu setzen. Er sieht die Regierung in Peking als gute Vermittlerin, da sie enge Verbindungen zu Pakistan pflegt, dessen an Afghanistan grenzende Gebiete die Taliban als Rückzugsraum nutzen.1
Auch die britische Militärpräsenz ist beendet, seit das Camp Bastion in der Provinz Helmand am 26. Oktober an die afghanische Armee übergeben wurde. Bis Ende 2014 sollen alle westlichen Truppen mit Ausnahme eines kleinen US-Kontingents abgezogen sein. Auf diesen Moment haben die Taliban gewartet. Sie wollen den Rückzug der Ausländer und die mangelnde Kampferfahrung der afghanischen Streitkräfte ausnutzen, um eine massive Offensive gegen die Zentralregierung zu starten.
Viele der fähigsten und einflussreichsten afghanischen Militärs wurden in den vergangenen 13 Jahren bei gezielten Anschlägen getötet, darunter auch herausragende Mudschaheddin-Kommandeure der Nationalen Islamischen Vereinigten Front zur Rettung Afghanistans, die von Herbst 1996 bis Herbst 2001 gegen die Taliban gekämpft hatte. Diese sogenannte Nordallianz, die unter den Minderheiten, insbesondere den Tadschiken, erheblichen Einfluss besaß, spielte anfangs eine wichtige Rolle, wurde dann aber von Karsai zugunsten der Paschtunen an den Rand gedrängt.2 Nachdem die Taliban die militantesten Mudschaheddin liquidiert hatten, verlegten sich viele Überlebende auf private Geschäfte. Von den noch aktiven Militärs stehen die meisten vor der Pensionierung. Deshalb fehlt es heute an erfahrenem Personal, das die afghanischen Streitkräfte zusammenschweißen könnte.
Ganz normale Leute in Kabul sagen, dass sie dem afghanischen Militär nicht zutrauen, sie gegen die Taliban zu verteidigen. „Die Reichen können sich sonstwohin absetzen. Wir können nirgendwohin, und ohne Waffen können wir uns nicht wehren, wenn die Taliban zurückkehren“, meint ein Büroangestellter aus Kabul, der früher an der Nordgrenze gegen die Taliban gekämpft hat. „In den letzten 13 Jahren hat sich so vieles verändert, und wir wollen wirklich nicht in solche Kriegszeiten zurück. Ich bin heute verheiratet und habe Familie. Wir wollen Frieden. Aber nach dieser manipulierten Wahl und dem Abzug der ausländischen Truppen hat die Hoffnung auf Frieden etwas Unwirkliches.“
Für den Westen mag der Krieg vorbei sein, nicht aber für die Afghanen. Nach den beiden blutigen Monaten September und Oktober wird die Zahl der Toten und Verletzten voraussichtlich weiter ansteigen. Ab Anfang 2015 werden die afghanischen Bodentruppen nicht mehr von den Streitkräften der Nato unterstützt, weder am Boden noch in der Luft. Fortan werden die Afghanen ihr Land selbst verteidigen müssen.
Es ist jedoch zweifelhaft, ob die afghanischen Streitkräfte ohne Luftunterstützung und schwere Waffen in der Lage sein werden, die Sicherheit im Land zu garantieren. Auch die USA haben es ja nicht geschafft, Frieden und Demokratie nach Afghanistan zu bringen, obwohl sie zig Milliarden Dollar aufgewendet und das Leben von 2 349 US-Soldaten geopfert haben. Einen noch höheren Preis haben die Afghanen selbst bezahlt. Nach Schätzungen des US-Militärs wurden allein 2014 zwischen 7 000 und 9 000 afghanische Polizisten und Soldaten getötet oder verwundet. Und nach UN-Angaben fanden in der ersten Hälfte dieses Jahres 1 564 Zivilisten den Tod.
Seit Beginn des Kriegs gegen den Terror im Jahr 2001 verfolgten die USA drei Ziele: erstens den Kampf gegen die Taliban und andere Aufständische, zweitens den Wiederaufbau des Landes, drittens die innere Stabilisierung der Nation, zu der auch die Disziplinierung und Einbeziehung renitenter Warlords und anderer einflussreicher Führer gehörte.
Wie weit diese Ziele erreicht wurden, kann man am Verlauf der Präsidentschaftswahlen dieses Jahres ablesen. In beiden Wahlgängen (5. April und 14. Juni 2014) registrierten UN- und andere internationaler Beobachter massiven Wahlbetrug. Als Ghani zum Sieger erklärt wurde, bestritt sein Gegenspieler Abdullah die Gültigkeit der Wahl. Es folgte ein fast dreimonatiges Patt, das Afghanistan an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Jetzt musste Obama notgedrungen einschreiten: Damit er die US-Truppen wie versprochen nach Hause holen konnte, mussten seine Unterhändler eine behelfsmäßige Demokratie zusammenzimmern.
Die Blitzlösung lief auf eine Teilung der Macht hinaus. Nach zwei Besuchen von US-Außenminister John Kerry, mehreren telefonischen Interventionen Obamas und intensiven Bemühungen des Kabuler US-Botschafters kam zwischen den rivalisierenden Kandidaten eine Übereinkunft zustande: Ghani wurde Präsident und Abdullah eine Art Regierungschef.3 Diese Lösung erwies sich sogleich als äußerst fragil: Noch vor der Amtseinführung brach ein Streit über Büroräume aus; Abdullah drohte, dem Zeremoniell fernzubleiben. Und diese wacklige Balance soll fünf Jahre halten!
Abdullah war ein Kampfgefährte von Ahmed Schah Massud, dem Kommandeur der Nordallianz, der am 9. September 2001 einem Attentat von al-Qaida zum Opfer fiel. Abdullah ist ein Politiker von nationalem Format. Der ehemalige Außenminister (2001–2005) genießt die Unterstützung der meisten Stämme und ethnischen Gruppen, zu denen er gute Kontakte hat. Sein Vater ist Paschtune (aus Kandahar), seine Mutter Tadschikin, er selbst hat sein ganzes Leben in Afghanistan gelebt.
Der Zustand der einheimischen Streitkräfte ist Geheimsache
Ghani ist ebenfalls Paschtune (aus Logar) hat aber einen Großteil seines Lebens im Westen verbracht. Für die meisten Afghanen war er, obschon Finanzminister unter Karsai, bis zur zweiten Runde der Präsidentschaftswahl kein Begriff. Bekannter ist er im Ausland: von seiner Tätigkeit bei der Weltbank und als Kandidaten für den Posten des UN-Generalsekretärs nach der Amtszeit von Kofi Annan.
Die Rivalen sollen nun – ausgerechnet in der schwierigsten Zeit Afghanistans seit dem Sturz der Taliban (2001) – gemeinsam die Geschicke des Landes lenken. Und das mit begrenzten Sicherheitskräften von 352 000 Polizisten und Soldaten, die selbst nicht genau wissen, was sie können. Die Ergebnisse einer Evaluierung der afghanischen Streitkräfte im Auftrag des Pentagon und der Nato wurde im Juli, nur wenige Monate vor dem Abzug der US-Truppen, plötzlich zur Geheimsache erklärt. Über den Befund macht sich allerdings niemand Illusionen.
Obwohl die Steuerzahler der USA seit 2001 mehr als 50 Milliarden Dollar für Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte bezahlt haben, ist immer noch fraglich, ob diese willens und in der Lage sind, die Sicherheit des Landes auf Dauer zu gewährleisten. Seit dem Abzug der britischen Truppen aus dem Süden haben die Taliban-Kämpfer in der Provinz Helmand schon wieder an Boden gewonnen.
Gleichwohl sind die USA fest entschlossen, aus Afghanistan abzuziehen. Im Mai erklärte Obama: „Amerikas Kriegsmission wird Ende dieses Jahres beendet sein.“ Ab dem 1. Januar 2015 werde man sich auf „die Ausbildung afghanischer Kräfte und die Unterstützung von Anti-Terror-Operationen gegen die Überreste von al-Qaida“ beschränken. Allerdings hat Obama angeordnet, dass die verbleibenden US-Truppen angesichts des Ernstes der Lage noch bis 2016 zu Kampfeinsätzen herangezogen werden dürfen.4 Die 9 800 Soldaten sollen jedoch vor Ende 2016 vollständig abgezogen werden.
Die Afghanen fühlen sich im Stich gelassen. Sie können auf die westlichen Mächte nicht mehr zählen, die jetzt mit dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) beschäftigt sind. Kabul wird sich wahrscheinlich in Richtung Asien und insbesondere nach China orientieren, damit es dem Land nicht ähnlich ergeht wie dem Irak. Viele Afghanen haben Angst um ihre Zukunft. An einen Erfolg der Regierung Ghani und Abdullah glaubt kaum jemand.
Ein böses Omen ist, dass die Leute, die in den 13 Jahren der internationalen Militärpräsenz reich geworden sind, eifrig dabei sind, ihre Vermögen außer Landes zu bringen. Und ihre Geschäfte gleich mit: Ein afghanischer Geschäftsmann zog mit seiner Sicherheitsfirma nach Dubai, um von dort aus mit ausländischen Partnern Projekte im Irak und am Arabischen Golf zu betreiben. Und das ist kein Einzelfall. Diese Leute haben die Lektion des Irak gelernt. Sie schaffen ihr Geld in die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich zum beliebten Zufluchtsort für die Neureichen Afghanistans und ihre Familien entwickelt haben. Wie von Mitarbeitern mehrerer Immobilienbüros in Dubai zu erfahren ist, hat die Anzahl afghanischer Kunden seit der Präsidentschaftswahl spürbar zugenommen.
Für Präsident Obama wird der Krieg demnächst vorbei sein. Dann kann er sich dazu gratulieren, sein Wahlversprechen, aus Afghanistan abzuziehen, gehalten zu haben. Dagegen sehen die meisten Bewohner von Kabul und den anderen größeren Städten der Übergangsperiode mit Bangen entgegen, zumal ungewiss ist, ob und wann die neue Regierung Tritt fassen kann.
Aus dem Englischen von Robin Cackett Camelia Entekhabifard ist Journalistin und Autorin von „Save Yourself by Telling the Truth: A Memoir of Iran“, New York (Seven Stories Press) 2007.