10.08.2007

Es steht in deinem Gesicht

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Es steht in deinem Gesicht

Alexandra aus Kursk, nachgezeichnet von John Berger

Erscheinungen lassen sich wie Worte lesen, aber unter allen Erscheinungen ist das menschliche Gesicht vielleicht der längste Text.

In diesem Frühling hat Alexandra zum ersten Mal Paris gesehen – mit dreiundachtzig. Sie stammt aus Kursk, 800 Kilometer südlich der Hauptstadt, und noch vor ein paar Jahren hat sie in Moskau als Ärztin praktiziert. Dank russischer Freunde konnte ich sie kennenlernen. Nun saßen wir gemeinsam um einen Tisch in einem Vorstadtgarten im Süden von Paris und aßen zu Abend.

Ich fragte sie, warum sie sich zum Medizinstudium entschlossen habe. Die vielen Opfer bei der Schlacht von Kursk, erwiderte sie. Nach Stalingrad machte erst diese Schlacht den Weg für den Vorstoß der Roten Armee auf Berlin frei.

Unser Gespräch im Garten setzte sich langsam fort. Alexandra sah entschieden jünger aus, als man vermutete, und ihr Sprechen hatte etwas Schwebendes, Beiläufiges und gleichzeitig Überlegtes. Es wurde dunkel, und wir holten Kerzen. Beim Zuhören kam mir Heideggers Satz, die Sprache sei „das Haus des Seins“, in den Sinn. Alexandra machte aus dem Haus ein Heim.

In den Fünfzigern schickte man sie gleich nach bestandener Prüfung als Ärztin in eine Uranmine nach Turkmenistan. Die Männer in den Minen waren Zeks, politische Gefangene aus dem Gulag. Zu der Zeit brauchte die UdSSR das Uran für Bomben, um das „Gleichgewicht der Abschreckung“ herzustellen, das bis 1989 galt.

Wie vorauszusehen, waren nach wenigen Jahren alle Kumpel an Krebs erkrankt. Mir ging es nicht anders, sagte Alexandra. Ich betete, es wurde besser, und ich kehrte nach Moskau zurück, wo ich weitere vierzig Jahre als Kinderärztin arbeitete.

Während sie sprach, aß und im Garten lachte – „Wie erklärst du dir deine Kraft und Energie?“ „Menschen! Das ist so einfach: Ich liebe die Menschen“ –, und während sie fortfuhr, hatte ich plötzlich den Drang, sie zu zeichnen. Ich suchte ihren Blick, und sie nickte.

Bevor sie aufstand, um zu gehen, bat ich sie, sich eine der beiden Zeichnungen auszusuchen. Sie wählte die schwächere, ich glaube, absichtlich, sie wollte, dass ich die bessere für mich behalte.

Als ich sie am nächsten Morgen ansah, schien es mir, als verlangten die Spuren in ihrem Gesicht nach einer Spur aus Worten.

*

In der gleichen Woche war in der internationalen Presse ein Foto von Bernard Kon zu sehen, einem in Warschau lebenden 97-jährigen Ingenieur, dem – nach einem neuen Gesetzentwurf – der Verlust seiner kleinen Staatsrente drohte, weil er sich 1937 als Freiwilliger für die Internationalen Brigaden gemeldet und aufseiten der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte.

Der Ausdruck in seinen Augen glich dem Alexandras. Vielleicht weil beide dieselben Dinge gesehen hatten. Hält man die Gesichter nebeneinander, erzählen sie von persönlichen Erfahrungen (und Schmerzen), die nicht erst beglaubigt werden müssen, denn beide geben einem auf je unterschiedliche Art – mal tragisch, dann triumphierend – zu verstehen, dass sie sich entschieden hatten, auf die Geschichte zu achten, etwas zu ihr beizutragen und ihr anzugehören. Merkwürdigerweise ist es gerade diese Zugehörigkeit, die ihre so unterschiedliche Identität prägt und hervorhebt.

Glücklicherweise wurde das neue Gesetz, das Bernard Kon und tausende andere bedrohte, für verfassungswidrig erklärt. Aber der Versuch der Zwillingsvogelscheuchen Kaczynski, alle Spuren des Kommunismus zu tilgen, geht weiter und kennzeichnet heute viele politische Vorstöße.

Indem sie vermeiden, in den verschlungenen Erfahrungen der Geschichte zu lesen, zielen diese Bestrebungen darauf, die Vergangenheit zu tilgen und so alle politischen Optionen auf das zu reduzieren, was jetzt gerade im Angebot ist.

Um es drastisch auszudrücken: Der lange Text des menschlichen Gesichts schnurrt zu seiner Grimasse zusammen!

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Die Zeichnung von Alexandra lag immer noch auf meinem Tisch, als ich die Druckfahnen von Naomi Kleins unschätzbar wichtigem Buch „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ las. In ihm analysiert Naomi Klein die Karriere des berüchtigten Ökonomen Milton Friedman. In den 1950er-Jahren unterrichtete er an der University of Chicago und entwickelte die Theorie eines neuen, globalen, von allen Staats- und Regierungsauflagen freien Kapitalismus, eines Kapitalismus, von dem die multinationalen Konzerne und Offshore-Investoren träumten. In den 1970ern wurde Friedman Wirtschaftsberater von Pinochet und stellte, indem er seine Theorien in die Praxis überführte, die chilenische Wirtschaft auf den Kopf. Danach wurde er zum Mentor und Propheten für Thatcher, Reagan, beide Bushs, Blair, Sarkozy …

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Wenn wir das Uran nicht aus den Schächten geholt hätten, um Atomwaffen herzustellen, meinte Alexandra im Garten, wären wir zu einer amerikanischen Kolonie geworden.

Als Theoretiker hat Milton Friedman etwas von Dr. Strangelove: Seine Lebensgeschichte ist ein Gemisch aus Dogmatismus, Unschuld, Zynismus und dem Traum, als Retter anerkannt zu werden. (Den Nobelpreis hat er schon verliehen bekommen.) Er behauptete, dass „reine“ Wirtschaftssysteme ohne Beschränkung alles regeln könnten! Er hat das Gesicht eines lächelnden Onkels, der nie, niemals vor der Tür gewesen ist und mit dir ans Fenster geht, um dir zu erklären, was im Leben wichtig ist und was nicht.

Doch war er auch ein praktizierender Politiker, der gern und oft zu unbarmherzigen Maßnahmen griff. Er erkannte von Anfang an, dass seine „reine“ Lösung aller menschlichen Notlagen nie von denen angenommen werden wird, auf deren Rücken man sie austrägt – falls sie sich nicht schon im Zustand der Schockstarre befänden.

Damit sich die Menschen aber mit dem Abbau des sozialen Netzes einverstanden erklärten, mit der Abschaffung des Mindestlohns, der Preisgabe jeder Kontrolle der Arbeitsbedingungen, der Privatisierung der Sozialleistungen, mit der gleichen Besteuerung für Arm wie Reich, der Aufgabe jeglicher Form effektiven legalen Protests (eben dem Gegenteil von Roosevelts „New Deal“), musste die Bevölkerung erst eine wirtschaftliche Katastrophe erleiden, die sie in lähmende Panik versetzte.

Diese „Schockstrategie“ hat eine Zeit lang die globalen Entscheidungen der G 8 vorgezeichnet und bestimmt, ebenso die der Weltbank, des Weltwährungsfonds, die Strategien der CIA und gelegentlich sogar die der US-Armee (siehe Kuwait oder Irak). Manchmal wurde die Schockstrategie wie in Chile (1973) vollständig umgesetzt und manchmal opportunistisch abgewandelt, so in Russland (1991) und Südafrika (1996).

Die verstörende Enthüllung in Naomi Kleins Buch ist, dass sich die Fürsprecher und Anstifter von Friedmans „ökonomischem Schock“ in der Vergangenheit wie in der Gegenwart eng mit den Teams der CIA verbanden, die (vergleiche das Kubark Manual) bei Kreuzverhören Zwangsmethoden und physische Schocks anwendeten – das heißt, sie folterten ihre Gefangenen.

Einen Monat bevor er einem Mordanschlag zum Opfer fiel, zog mein Freund Orlando Letelier, Allendes Verteidigungsminister, genau dieselbe Parallele zwischen der Ökonomie Chiles und dem, was mit seinen Kameraden im Gefängnis geschah.

Die zwei Arten des Schocks sind verschieden, und ihre Verwüstung fällt unterschiedlich aus. Die eine ist einsam und zielt auf den Körper, die andere kollektiv und betrifft das Sein. Die erste Art wird erbarmungslos durch Elektroschocks (die die CIA seit den 1950ern eifrig studierte) und den Entzug der Sinneseindrücke hergestellt. Die zweite wird durch einen planmäßig inszenierten wirtschaftlichen Kollaps herbeigeführt, der jede vorherige wirtschaftliche Struktur aushebelt und peinlich genau eine Zeit hoffnungsloser Armut und Panik bestimmt, aus der man dann mit zynisch falschen Versprechungen herausgeführt wird. Beide Schockstrategien werden angewandt, um Widerstand zu brechen – und das geschieht zunächst immer, indem man die Identität eines Subjekts unterminiert.

Die Leute, die diese Schocks anwenden – seien es Folterer, Ökonomen oder Vogelscheuchen –, haben in den letzten fünfzig Jahren in vielen Experimenten beobachtet, dass man die Identität eines Volkes am effektivsten brechen kann, indem man seine Geschichte, in die der Einzelne die Erzählung seines Lebens einbettet, demontiert und zerschlägt und so die Vergangenheit ausradiert. Ist die Vergangenheit erst einmal getilgt, kann jene Spielart politischer Slogans benutzt werden, die trotz ihrer angeblichen Unschuld zutiefst korrupt ist: Bruch, Schnitt, Neustart. So funktioniert die Demagogie des Neoliberalismus.

*

Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs saß Alexandra im Garten. Der Stil beider Kandidaten war von der Zurückweisung jeglicher Erklärung geprägt. Keiner legte dar, was in der Welt geschah, welche Auswirkungen das auf Frankreich haben würde und welche Konsequenzen oder Möglichkeiten sich daraus voraussichtlich ergäben. Keiner besaß eine Landkarte, wohl weil sie es nicht wagten, von der Geschichte zu sprechen. Eine Handvoll demagogischer Fingerzeige, ein oder zwei Debatten über kürzlich erstellte Regionalstatistiken, aber keine Lektüre der Geschichte, keine Anerkennung der gelebten Historie, keine Achtung für die Geschichten, die die Menschen sich erzählen, um ihrem Kampf, den Kopf über Wasser zu halten, einen Sinn zu geben. Und das angesichts der bis vor kurzem noch politisch aktivsten Wählerschaft Europas!

Solch eine Verschwörung des Schweigens ändert den Charakter einer Wahl grundlegend. Das oberste demokratische Prinzip lautet, dass der Gewählte sich vor seinen Wählern zu verantworten hat: Wie sie regierten, wird später von jenen bewertet, über die sie regierten. Oder, um es anders auszudrücken: Die Rückbindung des Gewählten an die Nachfragen des Wählenden spielt auf lange Sicht eine wichtige Rolle im Prozess der Entscheidungsfindung. Die Dialektik des Arguments ersetzt blinden, undemokratischen Gehorsam.

Wenn die Kandidaten nicht ihre Sicht auf die Zeit, in der sie leben, und auf die von ihnen vorgeschlagenen Überlebensstrategien darlegen, wenn dies ungesagt und ungehört bleibt, dann kann die Wählerschaft ihre dialektische Aufgabe nicht erfüllen, weil von vornherein kein Dialog über das Wesentliche stattgefunden hat. Wenn der Kandidat vorgibt, ohne Karte zu navigieren, oder es sogar tut, macht er die Wählerschaft zum bloßen Zugpferd.

Das Schweigen der beiden Kandidaten wirkte ganz so, als hätten sie es insgeheim verabredet. Wenn jeder Zuschauer zum Kunden wird, reduziert sich die Debatte auf den Wettbewerb zwischen verschiedenen Stilen, zählen die letzten Umfrageergebnisse mehr als die gemeinsame Vision einer Zukunft, und wird es Pflicht, nur noch für sich selbst zu werben.

Beide Kandidaten sprachen vereinzelte Ängste an oder den Schreck, der je verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Gliedern steckte. Sie versprachen, das nie zu vergessen. Aber keinen Augenblick lang bezogen sie sich auf das Ganze und fragten sich oder die Menschen: Was geschieht hier und jetzt auf der Welt?

Verkaufsgespräche sind selbstgewiss, folgenlos und wiederholen sich ständig, denn sie wissen immer, worauf sie hinauswollen. Beide Kandidaten zielten auf das Gleiche: Vertrau mir und meinen Versprechungen.

Was ich „eine Lektüre der Geschichte“ nenne, setzt im Gegensatz dazu voraus, dass man Ereignisse, ihre Gründe und Folgen gemeinsam betrachtet und eine Diskussion über mögliche Handlungsspielräume führt (die Geschichte ist selten großzügig) – und erst dann einen politischen Standpunkt erklärt und einnimmt. Ohne das ist jedes Versprechen sträflich.

Vor fünfzig Jahren, sagte Alexandra, hatte das Leben eines Menschen noch einen anderen Wert.

Und schließlich: Warum hat keiner der beiden Hauptkandidaten gewagt, über Geschichte zu sprechen? Ich habe meine eigene knappe Antwort. Madame Royal, weil sie nicht weiß, was sie zu Rosa Luxemburg sagen soll. Und Monsieur Sarkozy, weil er die Schockstrategie bereits im Ärmel hatte.

Ich betrachte wieder Alexandras Gesicht, wie sie da im Garten sitzt, und erinnere mich an einen Satz von Anton Tschechow, der ebenfalls Arzt war. „Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, eine Situation so wahrheitsgetreu zu beschreiben […], dass der Leser ihr nicht mehr länger ausweichen kann.“ Wir heute mit unserer historischen Erfahrung, die die politische Maschinerie zu tilgen versucht, müssen beides sein: Leser und Schriftsteller – es liegt in unserer Hand.

Fußnote:

1 Naomi Kleins Buch „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ erscheint im Herbst bei S. Fischer.

Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes

John Berger, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Kunstkritiker, lebt in Frankreich. Auf Deutsch erschien u. a.: „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens“, Berlin (Wagenbach) 1981, „Gegen die Abwertung der Welt. Essays“, München (Hanser) 2003, und zuletzt „Hier, wo wir uns begegnen“, München (Hanser) 2006.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von John Berger