Die Kunst, mit der Malerei Musik zu machen
Jean-Luc Godards monumentale Videoarbeit „Histoire(s) du cinéma“ gibt es jetzt auf DVD von Guy Scarpetta
Es ist schon seltsam: Jeder kennt ihn, doch wenn ein neuer Film von Jean-Luc Godard herauskommt, scheint sich niemand dafür zu interessieren. Die breite Öffentlichkeit sieht in ihm eine Art Sokrates des Kinos, der in Interviews und Pressekonferenzen Sentenzen von sich gibt, etwa: „Das Kino produziert Gedächtnis, das Fernsehen Vergessen“ oder „die Kultur ist die Regel, die Kunst ist die Ausnahme“.
Um Godard ranken sich beinahe mythische Legenden: Er hat in den 1960er-Jahren die Techniker der französischen Gewerkschaft CGT dazu aufgerufen, die Fernsehansprachen General de Gaulles zu sabotieren. Er hat, just als die Gaullisten Henri Langlois, den Gründer und Leiter der Cinémathèque française, hinauskomplimentieren wollten, die Führung einer spektakulären Gegenoffensive übernommen und dem damaligen Kultusminister André Malraux in einem berühmt gewordenen Appell vorgeworfen, er lasse „das freie Frankreich“ im Stich.1 Er hat eines Tages im Mai 1968 mit befreundeten Filmemachern und Schauspielern die Filmfestspiele von Cannes gestürmt, um auf die Affäre Langlois aufmerksam zu machen. Er hat den streikenden Arbeitern der Textilfabrik Rhodiaceta in Workshops gezeigt, wie man eine Kamera bedient. Und er hat einem Fernsehansager das Geständnis entlockt, dass er die Nachrichtenbilder, die er kommentierte, tatsächlich gar nicht sah, weil er mit dem Rücken zu ihnen saß, usw.
Trotz all dem heißt es immer, Godard hätte seine bedeutenden Filme eigentlich alle in den 1960er-Jahren gedreht. Am bekanntesten sind wohl: „À bout de souffle“ („Außer Atem“, 1960), „Le Mépris“ („Die Verachtung“, 1963) oder „Pierrot le fou“ („Elf Uhr nachts“, 1965). Danach seien seine schöpferischen Kräfte erschlafft, seine Filme nur noch zögerliche Versuche gewesen, irgendwie unfertig und angestrengt.
Man ist versucht, an Picasso zu denken: Auch er galt in den 1960er-Jahren als ein Künstler „der Vergangenheit“ – manche meinen sogar, nach „Guernica“ (1937) sei nichts Bedeutsames mehr entstanden. Dabei könnte man gerade seine letzte Schaffensperiode – er starb im April 1973 – zu einer der faszinierendsten in der gesamten Geschichte der Malerei zählen.
Wie sahen Godards 1960er-Jahre aus? Ein großartiges neues Buch von Alain Bergala2 entführt uns in die große Zeit eines jungen Filmemachers, der mit den Konventionen des „französischen Qualitätskinos“ brach, das heißt mit dem Primat des Dialogs vor der bildlichen Erzählung und dem des Castings vor der Inszenierung. Godard erfand das moderne Kino neu. Er verzichtete auf die konventionelle Rhetorik. Er setzte nicht mehr auf die Wirkung der Illusion, sondern machte die Montage zum bestimmenden kreativen Element, arbeitete mit Verfremdungen, Collagen und Zitaten.
Das Erstaunlichste dabei ist, dass die formale Kühnheit in keiner Weise das Lyrische, beispielsweise in „Le Mépris“, oder das Romantische, wie in der Aussteigergeschichte „Pierrot le fou“, ausschließt und sich auch nicht in formalistischer Belanglosigkeit verliert. So entsteht ein Kino, das gewissermaßen einen erweiterten Realismus schafft, und, wie damals üblich, die Schattenseiten der Gesellschaft erkundet, wie in „2 ou 3 choses que je sais d’elle“ („Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“, 1967), wo 24 Stunden aus dem Leben einer jungen Frau gezeigt werden. Godard hatte sich zu diesem Film von einer Zeitungsreportage über Hausfrauenprostituierte inspirieren lassen. Der Autofilm „Weekend“ entlarvt das latent Barbarische der Gesellschaft und der Fragefilm „Masculin – féminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola“ (1966) ihre Konsumfixierung. Der Kommune-Film „La Chinoise“ von 1967 nimmt sogar die politischen Ereignisse des Mai 1968 vorweg. Etliche Filme Godards aus dieser Periode sind zu den wichtigsten Werken der Pop-Art zu zählen.
Wenn nun Godard nach 1968 mit dem System bricht, seine Autorschaft hintanstellt und bis 1972 im Kollektiv3 dreht, dann gibt er damit noch lange nicht die doppelte Aufgabe auf, die dem Kino seiner Meinung nach zukommt: nämlich zu erfinden und zu enthüllen. Das Kino hat zur Geltung zu bringen, was sonst nicht gesehen werden könnte. Er verweigert lediglich jedwede Komplizenschaft mit dem Spektakel. Das erklärt auch seine „militante“ Periode Anfang der 1970er-Jahre: Auch wenn manche dieser Filme mit ihrer asketischen Grundhaltung enttäuschen oder aufgrund ihrer steifen Diskurse überholt wirken mögen, verfolgt Godard in ihnen nicht minder hartnäckig – man braucht sich nur den Film zum Nahostkonflikt „Ici et ailleurs“ („Hier und anderswo“) von 1970/74 wieder anzusehen – die wesentliche Idee weiter, der zufolge man die etablierte Ordnung nicht bekämpfen kann, ohne ihre Repräsentationsweisen und die von ihnen aufrechterhaltene „Weltsicht“ umzustürzen.
Als wäre es immer wieder das erste Mal
Und wie verhält es sich mit Godards „experimenteller“ Periode während der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre? Damals probierte er neue Techniken, vor allem Video, und hinterfragte hartnäckig und geduldig, was Bilder offenbaren können, wenn man sie aus ihrem gewohnten audiovisuellen Kontext herauslöst. In seinem Versuchslabor besteht Godard darauf, Entfremdung nicht nur ideologisch zu deuten. Er regt vielmehr dazu an, darüber nachzudenken, inwiefern sie auch mit Wahrnehmungsgewohnheiten zusammenhängt, denen wir unterworfen sind, ohne es zu merken (weshalb das Fernsehen von da an zu seinem Hauptgegner wird).
Als Godard zu Beginn der 1980er-Jahre scheinbar ins System zurückkehrt, sind die Zeiten des siegesgewissen Optimismus vorbei. Überall triumphiert das Spektakel, das uns vormachen will, das Reale sei identisch mit den domestizierten und manipulierten Bildern, die es uns von ihm liefert. Angesichts dessen geht es darum, eine Strategie des Widerstands auszuarbeiten. So entstehen überbordende, gegen den Strom gerichtete Filme wie „Sauve qui peut (la vie)“, („Rette sich, wer kann (das Leben“), 1980), „Passion“ (1982), „Prénom Carmen“ („Vorname Carmen“, 1983) – die gleichsam vom Schiffbruch gerettet und einer Welt entrissen scheinen, in der, wie damals Serge Daney sagte, „die Bilder ganz auf die Seite der Verkaufsförderung, der Werbung, das heißt der Macht übergelaufen sind“.
Laut Godard besteht der Widerstand darin, gegenüber dieser Welt am künstlerischen Anspruch des Kinos festzuhalten, indem man den Anteil der Erzählung, der Story, auf ein Minimum reduziert, neue Geschwindigkeiten erfindet, Filme nach dem Modell der „großen Form“ komponiert (mit einer Architektur der Bilder, einem Spiel ferner Echos, rhythmischer Kontraste und Dissonanzen) und das Kino mit der großen Kunst (von El Greco über Delacroix bis hin zu Beethoven) konfrontiert, es als „die Kunst, mit der Malerei Musik zu machen“ begreift.
Danach berührt Godards filmische Befragung heilige Themen, als müsste er dem Unsichtbaren abringen, was die Religionen im Mysterium belassen: die Menschwerdung in „Je vous salue, Marie“ („Maria und Joseph“, 1983), die Auferstehung („Nouvelle Vague“, 1989), die Reinkarnation („Hélas pour moi“ („Weh mir“, 1993), nach dem Mythos des Amphytrion. Die Worte auf der Tonspur sind aus Werken von Antonin Artaud, Hermann Broch („Der Tod des Vergil“) oder William Faulkner („Absalom! Absalom!“) – sprich: aus Texten, die das Kino herausfordern, weil sie ganz und gar unadaptierbar sind.
Das Kino Jean-Luc Godards ist in diesen Jahren äußerst paradox: einerseits ganz neu, als müsste man die Realität filmen, bevor die Worte sie vereinnahmen, als wäre es immer wieder das erste Mal, und andererseits reich an Erinnerungen (die Kunst des Kinos behauptet sich in einer Menge angesammelter Bilder und Töne, die mit abzuhandeln sind). Das ist auch das Programm der Mammutarbeit, die sich Godard in den 1990er-Jahren vornimmt und die in ein unvergleichliches Meisterwerk vom Ende des 20. Jahrhunderts mündet: Die „Histoire(s) du cinéma“.
Fiktion und sinnende Betrachtung über das Medium Kino waren bei Godard stets ineinander verwoben. Mit den „Histoire(s)“ wagt der Filmemacher den Sprung und erfindet ein Genre, das man aus der Literatur kennt, das aber aus den Kinogattungen bislang ausgeklammert war: den Essay. So erklärt sich diese Meditation in Bildern über das Kino, über seine Geschichte und über sein Verhältnis zur Geschichte, wodurch dieses gewissermaßen das erste Mal zum Bewusstsein seiner selbst gelangt. Godard geht es weder darum, einen ausgearbeiteten Gedanken zu illustrieren, noch darum, „über die Bilder“ nachzudenken. Vielmehr will er mit den Bildern und ausgehend von ihnen denken, bis man den Gedanken aus den Bildern selbst hervorgehen sieht.
Es heißt oft, im Augenblick des Todes würde unser Leben wie im Zeitraffer vor unserem inneren Auge vorbeiziehen. So ähnlich zieht sich hier alles, als ginge es um das Kino als Person, durch Godard hindurch, der in dem Moment, da das Kino als Kunst stirbt, diese unaufhaltsame Flut aus vorhandenen, verdichteten und aufeinanderprallenden Bildern auslöst. Es ist der Moment, in dem das Kino seinem einstigen Ruhm begegnet (Hitchcock wird als „größter Schöpfer der Form des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet) und sich mit seinen Niederlagen konfrontiert sieht (es hat nicht vermocht, die Vernichtungslager zu filmen, das schwarze Loch oder der blinde Fleck des Kinos: „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung“).
Tausende von Einstellungen also, aus der gesamten Kinogeschichte (einschließlich der Filme von Godard selbst), aber auch Dokumentaraufnahmen und gefilmte Gemälde (Godard hält die Malerei für die stärkste Rivalin des Kinos). Die Bilder überlagern sich, gleiten vorüber, treten in einen Dialog, stoßen aneinander, geraten durcheinander, stürzen aufeinander zu, zersplittern und fügen sich wieder zusammen – um der Frage auf den Grund zu gehen, wie das Kino sowohl Geschichte aufgebrochen als auch in sie eingegriffen hat, und um zu zeigen, wie das Kino die Würde einer echten Kunstform erreicht hat und sie allmählich verliert.
Ist der Tod des Kinos nur ein Phantasma des Jean-Luc Godard? Oder sollten wir seine Diagnose nicht doch sehr ernst nehmen? Von Italiens großartigem Kino (sagen wir zwischen 1945 und 1975), dem außergewöhnlichen tschechoslowakischen und polnischen Kino (der 1960er-Jahre) und dem fantastischen deutschen Kino der 1970er-Jahre ist praktisch nichts übrig geblieben. Vielleicht ist es an der Zeit, sich zu fragen, warum.
In Frankreich ist man stolz darauf, jährlich zweihundert Filme zu produzieren: Doch handelt es sich dabei noch um Kino mit einem künstlerischen Anspruch, wie ihn Eisenstein, Dreyer, Buñuel, Renoir, Mizoguchi, Welles, Hitchcock oder Pasolini hatten? Werden nicht inzwischen auch Produktionen als Kino bezeichnet, die in Wirklichkeit nur Fernsehfilme sind, von TV-Kanälen für ihre Zwecke und nach ihren Kriterien produziert? Wenn man so etwas „Kino“ nennt und durch seine Vorführung im Kinosaal den Anschein des Kinos erweckt, geht es dann nicht vor allem um Subventionen und Profite? Es gab einmal ein Kino, das sich darauf verstand, eine spezifische, reiche und vielfältige Sprache zu entwickeln, eine Ästhetik und Schönheit zu erschaffen und unser Verständnis der Welt zu erweitern: All dies scheint es nicht mehr zu geben, seit das Kino mehr und mehr zur Ware wurde. Jean-Luc Godard ist der letzte Streiter für eine große Kinokunst, deshalb passt er der Marktlogik nicht ins Konzept. Aber er bleibt einer der wenigen schöpferischen Geister, die nicht klein beigeben.
Sein neuester Coup war eine Installation im Centre Pompidou im letzten Jahr, als er es wieder einmal schaffte, eine Institution herauszufordern. Seine „Ausstellungsruine“4 lieferte den Beweis für den Gegensatz zwischen Kultur und Kunst, zwischen Regel und Ausnahme. Dabei hat er das Chaos auf seine Weise organisiert – und so meiner Ansicht nach alle „Installationen“ in den Schatten gestellt, die uns dieses Museum bisher geboten hat. Godard sagte einmal: „Kunst ist das, was uns erlaubt, uns umzudrehen und Sodom und Gomorrha zu sehen, ohne zu sterben.“5
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Till Bardoux
Guy Scarpetta ist Schriftsteller. Er schrieb unter anderem „L’impureté“ (1985), „L’Age d’or du roman“ (1996), „Variations sur l’érotisme“ (2004).