10.08.2007

Der Marquis und der Markt

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Der Marquis und der Markt

De Sade und seine Vision von der Unersättlichkeit der Begierden von Patrick Vassort

In seinem Hauptwerk „Die 120 Tage von Sodom“ (1785) schildert der Marquis de Sade die „perfekte Welt“ einer totalitären Gesellschaft. Diese hat Pasolini in seinem letzten Film „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ (1975) in das Jahr 1944 und in die faschistische Republik Salò versetzt. De Sade malt sich in seinem unvollendeten Episodenroman aus, wie einige wollüstige Libertins eine Gruppe junger und älterer Menschen beiderlei Geschlechts, die alle möglichen Laster und Tugenden haben, entführen. Er konstruiert die „perfekte Welt“ der Sexproduktion zum Zweck des „absoluten Lustgewinns“, wobei dieser Lustgewinn letztlich nur das Phantasma und das Abbild einer maximalen Produktivität ist.

So liefert de Sade, Zeitgenosse der beginnenden Industrialisierung, eine radikalere Vision als die physiokratischen Wirtschaftsexperten seiner Zeit, die in der Rationalisierung der Landwirtschaft die einzige Zukunft der ökonomischen Entwicklung sahen.1 Die von ihm beschriebene Beziehung zum Körper nimmt den Taylorismus gewissermaßen vorweg. Denn sie erfüllt die Anforderungen der sexuellen und körperlichen Produktion im Sinne der höchstmöglichen Produktivität und des größtmöglichen Gewinns, genau wie beim neurotischen Streben des Kapitals nach Produktion, Reproduktion und Entwicklung.

In den „120 Tagen von Sodom“ erfolgt die Rationalisierung hauptsächlich auf drei Ebenen: im Raum, in der Zeit und in Bezug auf den Körper als Produktionsapparat. Drei Ebenen der Rationalisierung, die auch der politischen Ökonomie kapitalistischer Gesellschaften zugrunde liegen.

Das Schloss stellt den Produktionsraum dar: ein Ort, der starke Affekte auslöst, Stätte der Begierden, Lüste, Freuden, Ängste, Verdrängungen und Schmerzen – unterteilt in mehr oder weniger sakrale Räume. Das Produktionszentrum par excellence ist der große Versammlungsraum. Hier werden durch Erzählen aufreizende Situationen evoziert, um die Wollust der Libertins und Zeremonienmeister anzuregen. Die anderen Räume ergänzen die Vorkehrungen im Sinne der de-Sade’schen Produktivitätssteigerung. Sie bieten die Möglichkeit, das Verhältnis der handelnden Personen angesichts der Aufgabe, die sie erwartet, zu „verbessern“. Im Gesellschaftssaal bahnen sich die Beziehungen, die Produktionen und die sozialen Strukturen an. Hier bildet sich der reale Status jedes Einzelnen heraus, hier gewinnt er seine Daseinsberechtigung im Mechanismus der Sexproduktion mit ihren Formen der Herrschaft und Unterwerfung.

Diese Strukturierung des Raums beruht auf der Dialektik von Inklusion und Exklusion. Boudoir und Schloss sind Orte der Inklusion, wie es später das Bergwerk, die Fabrik oder das Geschäftsviertel sein werden. Für den Leser ist der Raum außerhalb des Schlosses neutral. Er verbirgt ein mögliches „Anderswo“, einen Ort, von dessen Existenz die gewinnorientierte Logik eines de Sade nichts weiß.

Durch diese räumliche Konstruktion schafft de Sade eine Welt, in der die einzige Daseinsberechtigung der Personen im Streben nach optimaler Produktivität – dem Orgasmus – besteht. Hier ein Beispiel, wie er einen einfachen Kerker beschreibt: „Eine Art gewölbter, durch drei Eisentüren verschlossener Raum, in welchem sich alles befand, was die grausamste Kunst und die raffinierteste Barbarei an Schrecklichstem erfinden konnten, um die Sinne zu entsetzen und Grässliches zu verüben. Und hier, welche Ruhe! […] Wehe, hundertmal wehe über jene unglücklichen Kreaturen, die in solcher Verlassenheit einem Schurken ohne Rechtsgefühl und Religion ausgeliefert waren, den das Verbrechen amüsierte, der kein anderes Interesse kannte als seine Passion, keinen anderen Maßstab als die selbstherrlichen Gesetze seiner perfiden Lüste.“2

Der Lebensraum dieser Helden ist so gestaltet, dass außer dem von den Libertins gesetzten Interesse jeder andere mögliche Fokus verschwindet. Er ist somit in der gleichen Weise durch und für die „industrielle“ Produktion der sexuellen Lust organisiert wie der Raum im Industriebereich für die industrielle Produktion von Konsumgütern.

De Sade hatte begriffen, dass Produktivitätssteigerung nur durch eine Aufgabenverteilung zu erzielen ist, die eine „wissenschaftliche Arbeitsorganisation“ erlaubt. Im Umfeld des für die Massenproduktion rational organisierten Raums, der die anderen Räume – die der Freiheit und der Autonomie – nach und nach verschwinden lässt, hat die Industriegesellschaft mit Sadismus das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt durch deren Rationalisierung verändert.

Aber mehr noch als der Raum ist die rationalisierte Zeit zum Symbol des Kapitalismus geworden. Bei de Sade beruht die Lebensorganisation im Schloss auf dem ewigen Neubeginn. Zirkulär strukturiert, ist diese Zeit periodisch, eine permanente Rückkehr zu den Anfängen. Jeder Tag wird zwanghaft durchorganisiert, nach dem gleichen Muster wie der vorherige, um keinen der sexuellen Genüsse zu vernachlässigen, egal ob dieser auf Sanftmut oder auf Gewalt beruht, ob er durch Ekel, Lust, Schmerz, durch Schmecken oder Riechen, durch Zurschaustellung oder Zuschauen hervorgerufen wird; nichts an diesem Produktionsmechanismus bleibt dem Zufall überlassen.

De Sade schreibt: „Nach Beschluss werden die acht Jungfernschaften der Fötzchen der jungen Mädchen erst im Dezember, die ihrer Popos sowie der Ärsche der jungen Knaben erst im Laufe des Januars geraubt werden, damit die Wollust durch das Anwachsen einer Begierde unaufhörlich entflammt und niemals gesättigt werde.“3 In diesem Sinne sind „Die 120 Tage von Sodom“ ein langer Marsch durch eine rationalisierte Zeit, der zur äußersten Produktivität, nämlich dem Zu-Tode-Lieben führt: Nur sechzehn der sechsundvierzig Personen überleben.

Auch die kapitalistische Warenproduktion beruht auf der Rationalität der Arbeitszeit. Im Namen der Produktivitätssteigerung muss in einer gegebenen Zeit immer mehr produziert werden. Und damit sind wir bei der Philosophie des Rekords. Die Beschleunigung der Produktion von Kultur- und Konsumgütern geht mit einer Qualitätsminderung, dem Verlust von Komplexität und letztlich mit der Unterordnung des Menschen einher. Ist es nicht dieses Organisationsmodell, das den Informationsfluss charakterisiert? Ist das nicht das Modell für unsere Eventkultur?

Streben nach mechanischem Lustgewinn

Ebendieses Schema liegt dem Taylorismus zugrunde. Die Wiederholung der gleichen Handgriffe, der gleichen Fabrikationsabläufe mit ihren Riten, ihren Pausen, der Wiederherstellung der Arbeitskraft, all das entspricht auch der produktivistischen Weltsicht de Sades. Im Rahmen der kapitalistischen Warenproduktion gilt der Ruhestand nicht als wohlverdiente Erholung, sondern sozusagen als Abfall, als die den erschöpften Körpern verbliebene Restzeit. Bei de Sade gibt es keinen Ruhestand. Das Ende der Produktivität führt zum Tod.

Und was die Rationalisierung der Körper betrifft, so bedeutet sie Verdinglichung, Versachlichung. Die Körper durchlaufen eine von den Libertins diktierte Umwandlung. Damit wird der Körper zu einem Produktionsinstrument, das auch totalitären Ansprüchen genügt, während der empfindsame Körper verschwindet.

Jede Körperöffnung, ob männlich oder weiblich, jede Mulde, jede Rundung kann Objekt eines spezifischen sexuellen Begehrens werden, wenn sie nur der Intensivierung der Sexproduktivität dient. De Sade stellt sich daher besonders gern Menschen mit einer außergewöhnlichen Körperlichkeit vor, sei es in ihrer Schönheit oder in ihrer Hässlichkeit, in ihren Proportionen oder ihren Missbildungen. Das Streben nach hemmungslosem, eher mechanischem denn sinnlichem Lustgewinn wirft die Frage nach der Menschlichkeit in einem rationalen, nur auf Produktivitätssteigerung ausgerichteten Prozess auf.

Die Riten der de-Sade’schen Produktion machen den Körper zum Werkzeug einer verdinglichten Lust, die als Ware erscheint. Die Hybridisierung der Körper oder die Versachlichung des Lebendigen bei de Sade finden ihren modernen Ausdruck in der Industrialisierung des Lebendigen durch die „Rückverfolgbarkeit“ gefrorenen Spermas, die Stammzellenkonservierung oder den Organhandel.

Dennoch bleibt die de-Sade’sche Produktion unvollkommen und frustrierend. Die tayloristischen Wiederholungen der sexuellen Spiele und Aggressionen sind, wie in der zeitgenössischen Ökonomie, Zeichen eines Misserfolgs, der Unmöglichkeit, das Absolute zu erreichen. Denn das Bewusstsein oder das Verlangen, mehr zu besitzen und eine bessere „Leistung“ zu erzielen, wird nie verschwinden.

Wie wir von Freud und Lacan wissen, bleibt das Begehren per definitionem unbefriedigt. So entdeckt de Sades Heldin Justine immer wieder, wie sie zum Lustobjekt anderer wird, ohne jemals selbst in den Genuss dieser Lust zu kommen. Für die Helden der „120 Tage von Sodom“ besteht der Sinn der Defäkation, der Sodomie oder des Auspeitschens einzig in der Kunst vielfältiger Wiederholungen.

Das Streben nach größtmöglichem Gewinn führt unvermeidlich zur Auslöschung des Menschen und der Menschlichkeit. Der Film „Im Reich der Sinne“ (1976) von Nagisa Oshima symbolisiert diese Suche nach dem Absoluten, dem Wahnsinn und dem Tod. Der letzte und schönste Orgasmus wird durch die Strangulierung des Helden erreicht, dessen Erektion auf diese Weise nach der Ejakulation anhält und seine Partnerin endlich zum ersehnten Orgasmus bringt.

De Sades Werk läuft auf die Frage hinaus, ob diese Arbeitsorganisation nicht Vorbote einer totalitären Herrschaft ist. Erinnern wir uns an die Worte Hannah Arendts: „Worum es ihnen [den totalitären Regimen] geht, ist nicht, ein despotisches Regime über Menschen zu errichten, sondern ein System, durch das Menschen überflüssig gemacht werden. Totale Macht ist zu leisten und zu gewährleisten nur, wenn es auf nichts anderes mehr ankommt als auf absolut kontrollierbare Reaktionsbereitschaft, auf restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten.“4

Sind diese „überflüssigen Menschen“ nicht all die ökonomisch, politisch und kulturell Deklassierten unserer Zeit (wie die Gefangenen der Libertins in den „120 Tagen von Sodom“)? Jene, denen im Namen des ökonomischen und sozialen „Realismus“, der Flexibilität, der Unsicherheit, der technologischen Innovation, der Haushaltsdisziplin, des internationalen Wettbewerbs oder der neuen internationalen Arbeitsteilung ihre Subjektivität abgesprochen wird? Ihrer Persönlichkeit beraubt, werden sie zu Erfüllungsgehilfen der Automatisierung.

Hinzu kommt, dass die Unterdrückung in dieser neuen Gesellschaft nicht nur durch Polizeigewalt erfolgt, sondern schleichend auch in Selbstunterdrückung übergeht. Wie bei de Sades Helden, die nie zu fliehen versuchen und das verheißene Leid schließlich hinnehmen. Wieder ist es Hannah Arendt, die in „Vita activa“ schreibt: „In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht.“5

Sie weist ferner darauf hin, dass der Totalitarismus überall dort, wo er an die Macht kam, völlig neue politische Institutionen geschaffen und sämtliche sozialen, juristischen oder politischen Traditionen des Landes zerstört habe. War es nicht auch die erste Sorge der de-Sade’schen Libertins, die bestehenden Institutionen auszuschalten, um sie durch solche zu ersetzen, auf die eine totalitäre Macht bauen kann? Manche meinen sogar, Parallelen zwischen de Sade und der damals erst im Entstehen begriffenen kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen.

Fußnoten:

1 Die Physiokratie (Herrschaft der Natur) ist eine ökonomische Denkschule, die sich 1768 in Frankreich herausgebildet hat und von dem Prinzip ausgeht, dass die Quelle des Reichtums im Bodenertrag liegt und Landarbeit die einzig produktive Arbeit ist. 2 Marquis de Sade, „Die 120 Tage von Sodom“, in: „Gesammelte Werke“, Paderborn (Voltmedia) 2006, S. 211–521, S. 259 f. 3 Ebd., S. 261. 4 Hannah Arendt, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, München (Piper) 1986, S. 937. 5 Hannah Arendt, „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, München (Piper) 1967, S. 410.

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Patrick Vassort lehrt an der Universität Caen.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Patrick Vassort