10.08.2007

Medikamente als Waffen

zurück

Medikamente als Waffen

Der Mythos von den nichttödlichen Pharmakampfstoffen verführt Polizei und Armee von Steve Wright

Die pharmakologische Forschung hat viele Innovationen hervorgebracht, die auch militärisch nutzbar sind. Das macht die Entwicklung gänzlich neuer Waffen möglich. Einige werden bereits auf dem Kriegsschauplatz Irak eingesetzt, an anderen wird intensiv geforscht. Der britische Ärzteverband, die British Medical Association (BMA), hat im Mai eine neue Studie mit dem Titel „Der Einsatz von Medikamenten als Waffen“ vorgelegt1 , die vor der Militarisierung der Medizin und ihrer potenziellen Nutzbarkeit für ganz neue Formen der Kriegsführung warnt. Ist der Aufstieg der taktischen Pharmazie ein Grund zur Sorge?

Seit mindestens 40 Jahren werden Medikamente auf ihre militärische Nutzbarkeit untersucht. In den USA gab es staatliche Programme mit Experimenten an Menschen, denen die halluzinogene Droge LSD oder der Kampfstoff Benzilsäureester verabreicht wurden. Im Vietnamkrieg kam in großem Umfang das Reizgas CS zum Einsatz. In der Sowjetunion lief das Geheimprogramm Bonfire, das darauf abzielte, menschliche Hormone als Waffen zu nutzen. Und bei Verhören wurden die verschiedensten Psychochemikalien eingesetzt: Lähmungsstoffe, die Nervenimpulse unterbrechen; Stoffe, die Schmerzen und andere physische Beschwerden auslösen oder erzeugen oder geistige Verwirrung auslösen sollten. Diese Stoffe basieren auf Substanzen, die beispielsweise von Giftefeu oder gewöhnlichen Kröten produziert werden.2

Aber da es sich hier um hochspezialisierte Forschung handelt, blieb die Debatte auf die Expertenzirkel von Organisationen beschränkt, die Erkenntnisse über unkonventionelle Waffen sammeln. Dazu gehören etwa das Internationale Rote Kreuz, das universitäre Netzwerk des Harvard-Sussex-Programms über chemische und bakteriologische Waffen oder die Pugwash-Konferenz.3 Je mehr Möglichkeiten die Revolution in den Biowissenschaften jedoch eröffnete, umso stärker wurde auch das Interesse der Militärs an Gegenmitteln gegen biologische und chemische Kampfstoffe. Diese Forschung legte nach dem 11. September 2001 noch an Tempo zu. Seitdem fließen enorme Summen in die Entwicklung von Technologien und Waffen, die in den neuen asymmetrischen Konflikten, wo sich Freund und Feind immer schwerer auseinanderhalten lassen, einen strategischen Vorsprung bedeuten könnten.

Die moderne Neurowissenschaft und die Genforschung eröffnen ungeahnte Perspektiven und lassen die einst klaren Grenzen zwischen Chemie und Biologie verschwinden. Wissenschaftler können Moleküle umprogrammieren und gezielt in Prozesse der Bioregulation – wie neurologische Funktionen oder den Kreislauf – eingreifen. Früher waren solche Experimente mit langwieriger Laborarbeit verbunden, heute machen es Computertechnologien viel rascher möglich, erfolgversprechende biologische Substanzen zu ermitteln, ihre mutmaßliche Wirkung zu simulieren und sie zu testen. Die neuen Forschungsmethoden helfen der pharmazeutischen und medizinischen Industrie, bislang unheilbare Krankheiten zu behandeln und das menschliche Leben zu verlängern. Aber sie interessieren auch das Militär.

Der Missbrauch der Neurowissenschaft zu Kriegszwecken hat nicht nur die gegnerischen Kräfte im Auge. Im Irak benutzen die Koalitionstruppen Medikamente, um sich länger wachzuhalten und ihre Aufmerksamkeit zu schärfen. Schon bald könnten wir erleben, dass Truppen ins Gefecht ziehen, die mit chemischen Mitteln ihre Aggressivität steigern oder ihre Angst-, Schmerz- und Ermüdungsgrenzen erweitern. Vielleicht wird es sogar auf pharmakologischem Wege gelingen, unangenehme Erinnerungen oder das sogenannte posttraumatische Stresssyndrom auszuschalten oder auch Schuldgefühle zu unterdrücken. Für solche Forschungen gibt es einen starken wirtschaftlichen Anreiz, denn bei Soldaten sind psychische Erkrankungen nach Kampfeinsätzen fünfmal so häufig wie körperliche Verwundungen.

Mit Beunruhigung verweist der BMA-Report auf das große Interesse von Regierungen, trotz aller internationalen Konventionen gegen die Entwicklung chemischer und biologischer Waffen „Medikamente oder Drogen als Waffen einzusetzen“. Zum Teil beruht dieses Interesse auf dem Bedürfnis, „nichttödliche“ Waffen zu entwickeln (siehe Kasten).

1999 forderte der Ausschuss des EU-Parlaments für auswärtige Angelegenheiten, Sicherheits- und Verteidigungspolitik „ein weltweites Verbot jeglicher ziviler wie militärischer Forschung und Entwicklung von Waffen, die das Wissen über chemische, elektrische oder durch Schallwellen ausgelöste Hirnfunktionen ausnutzen und die Beeinflussung von Menschen ermöglichen. Auch jede Bereitstellung solcher Waffen soll untersagt sein.“5

Die Attentate des 11. September 2001 haben innerhalb der EU die Bereitschaft zur demokratischen Kontrolle solcher Sicherheitstechnologien stark gedämpft. Seither hat der sicherheits-industrielle Komplex mit seinen unbegrenzten Finanzmitteln das Kommando übernommen. Und das gilt für die EU wie für die USA. Aber auch China betreibt laut BMA biotechnologische Waffenforschung.

Diagnose: ethisch äußerst bedenklich

Für den Ärzteverband ist die Idee nicht-tödlicher pharmakologischer Waffen ethisch höchst problematisch, denn „ihr Einsatz ist schlicht nicht möglich, ohne dass es bei der Zielpopulation eine erhebliche Anzahl von Toten gibt. Ein Wirkstoff, der Menschen kampfunfähig macht, ohne ihren Tod zu riskieren, existiert einfach nicht, und es wird ihn in absehbarer Zeit auch nicht geben.“

Der Bericht zählt ein breites Spektrum von ethisch bedenklichen Aspekten auf. Dazu gehören die Beteiligung von medizinischem Personal an der Planung und Ausführung eines Angriffs mit Medikamenten als Waffen, das Sammeln von Daten über die Wirkung eines solchen Angriffs, die Nutzung der Medizin und medizinischer Kenntnisse mit dem Ziel, solche Waffen zu entwickeln, das Dilemma für die Ärzte, deren Pflicht ja in der Gesunderhaltung besteht, die aber auf der anderen Seite der nationalen Sicherheit dienen sollen, und schließlich die Verpflichtung des medizinischen Personals, internationales Recht einzuhalten.

Wie berechtigt diese Sorgen sind, erwies sich beim Angriff russischer Spezialtruppen auf das von Tschetschenen besetzte Musical-Theater in Moskau am 23. Oktober 2002. Damals wurde ein Betäubungsgas eingesetzt, das die Geiseln retten sollte, dann aber 130 der 912 Festgehaltenen das Leben kostete. Die russischen Behörden wurden beschuldigt, die Totenscheine der Opfer manipuliert zu haben, bis heute haben sie keine genauen Angaben gemacht, welche chemische Substanz bei dem Angriff zum Einsatz kam. Nach Medienberichten war es Fentanyl. Vertreter von Opfergruppen gaben die Zahl der Todesopfer sogar mit 174 an, außerdem hätten zahlreiche Geiseln durch das Gas bleibende Gesundheitsschäden erlitten.7 . Da alle tschetschenischen Geiselnehmer getötet wurden, sei offensichtlich geworden, dass der Einsatz solcher angeblich „nichttödlichen Waffen“ nicht bewirkt, dass die Täter einen fairen Prozess bekommen, sondern eher einer mutwilligen Hinrichtung gleicht.

Der BMA-Report weist auch auf die Gefahr hin, dass im Fall einer engen Zusammenarbeit der Waffenproduzenten mit der pharmazeutischen Industrie die derzeit noch hohen Standards bei der Qualitätssicherung und Erprobung von Medikamenten gesenkt würden. Zum Beispiel könnten zahlreiche Substanzen, die von der Industrie wegen unerwünschter Nebenwirkungen in die Giftschränke verbannt wurden, wieder hervorgeholt werden. Man könnte neue Forschungsprojekte wieder aufnehmen und Patiententests in Länder mit niedrigeren Standards auslagern. Falls niemand dem Argument entgegentritt, dass der Kampf gegen den Terrorismus neue Waffen erfordere, wird sich der Markt für solche Praktiken rapide erweitern.

Auch die Darreichung der Pharmakampfstoffe ist Gegenstand neuer Forschungen: Man entwickelt Spritzen, die auf stabilisierten Flugbahnen ins Ziel gelenkt werden, oder Granaten, die große Mengen chemischer Kampfstoffe ausstreuen können, modifizierte Paintball-Luftpistolen9 , mit chemischen Wirkstoffen gefüllte Kapseln, die beim Drauftreten zerplatzen, oder Roboterfahrzeuge, die gefährliche Kampfstoffe transportieren. Fragt sich nur, wer vor Gericht gestellt wird, wenn ein Passant stirbt, weil er von einem autonom agierenden Roboter eine Überdosis Lähmungsgas abbekommen hat. Ein Geständnis der Maschine ist kaum zu erwarten.

Die Wirkungen solcher Waffen können von unmittelbaren Verletzungen bis zu einer Krebserkrankung reichen, die erst nach 20 Jahren ausbricht. Denkbar sind Programme zur absichtlichen Schmerzerzeugung, zur Kontrolle von Emotionen und zur Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit oder des Immunsystems großer Bevölkerungsgruppen. Das Sunshine-Projekt, in dem Experten in den USA und in Deutschland Aufklärungsarbeit über biologische Waffen betreiben (www.sunshine-project.de), dokumentierte kürzlich, dass die US-Luftwaffe vor 13 Jahren 7,5 Millionen Dollar Forschungsförderung beantragte, um einen Kampfstoff zu entwickeln, „der unangenehm, aber mit Sicherheit nicht letal wäre“. Gemeint sind „stark aphrodisierende Drogen, die vor allem homosexuelles Verhalten induzieren“ und damit Disziplin und Moral der gegnerischen Einheiten untergraben sollen.10 Diese sogenannte „Gay Bomb“ blieb allerdings Theorie, nachdem sie 2005 dank der Sunshine-Publikation in die Schlagzeilen geraten war. Weitere Projekte auf der Wunschliste der US-Luftwaffe waren damals Waffen, die Soldaten überempfindlich gegen Sonnenlicht machen oder Ratten und anderes Ungeziefer in die Stellungen des Gegners locken. Wie würde die Welt wohl reagieren, wenn eine Militärdiktatur solche Wirkstoffe einsetzen würde?

Solchen Forschungen einen Riegel vorzuschieben, scheint um so dringlicher, als niemand garantieren kann, dass solche Waffen in den Händen „verantwortungsvoller“ Staaten bleiben. Aber sind sie nicht ohnehin durch die Konvention gegen chemische Waffen verboten? Im Prinzip ja – doch Artikel II(9)d erlaubt Ausnahmen: Die Polizei darf chemische Wirkstoffe gegen Aufrührer einsetzen, die Justiz darf sie für Hinrichtungen mit der Giftspritze verwenden. Der Begriff „Polizei“ ist in der Konvention allerdings nicht klar definiert, und die Debatte über eine Anwendung lähmender Kampfstoffe gegen Terroristen macht die Umgehung des Verbots möglich.

2008 wird die Staatengemeinschaft über eine Verlängerung oder Aktualisierung der Chemiewaffen-Konvention beraten. Das ist eine große Verantwortung, nicht zuletzt weil diese Forschungen neue Techniken der Unterdrückung ermöglichen. Wenn man diesen Aktivitäten keine engen und präzisen Grenzen zieht, werden sich viele Forschungslabors auf die Herstellung neuer pharmakologischer Waffen stürzen. In einer Zeit, in der internationale Normen zunehmend missachtet werden, riskieren Zivilisten wie Kämpfer, demnächst ins Visier solcher Waffen zu geraten. Und dann ist es nicht mehr weit zu Spezialkommandos, die inmitten einer in Schockstarre versetzten Menge an bestimmten Personen gezielte außergerichtliche Exekutionen vollziehen.

Fußnoten:

1 British Medical Association, „The Use of Drugs As Weapons: The concerns and responsibilities of healthcare professionals“, 2007, www.bma.org.uk/ap.nsf/Content/drugsasweapons. 2 Julian Perry Robinson: „Disabling Chemical Weapons: A Documentary Chronology of Events 1945–2003“ (unveröffentlichter Entwurf), Harvard Sussex-Programm 2003. 3 Pugwash ist eine 1955 von Bertrand Russell mit Unterstützung Albert Einsteins ins Leben gerufene Organisation, die vor den Gefahren des nuklearen Wettrüstens und kriegerischer Konflikte warnt. Sie erhielt 1995 den Friedensnobelpreis. www.pugwash.org. 4 Marc Wheelis und Malcolm Dando, „Neurobiology: A case study of the imminent militarisation of biology“, International Review of the Red Cross, Genf, Nr. 859, 2005. 5 Europäisches Parlament, Auswärtiger Ausschuss, „Report on the environment, security and foreign policy“, 14. Januar 1999. 6 Vgl. Ben Hayes, „Arming Big Brother: The EU’s Security Research Programme,“ TNI/Statewatch, Amsterdam, April 2006. 7 „Investigation Unfinished“, hg. von Regional Public Organization for Support of Victims of Terrorist Attacks, 26. April 2006, Moskau. pravdabeslana.ru/english.htm. 8 Joan M. Lakoski, W. Bosseau Murray, John M. Kenny, „The Advantages and Limitations of Calmatives For Use as A Non-Lethal Technique“, College of Medicine Applied Research Laboratory, Pennsylvania State University, 3. Oktober 2000. 9 Mit solchen Pistolen kann man Teilnehmer einer unerlaubten Demonstration mit Farbe markieren, damit man sie später festnehmen kann. 10 „Harassing, Annoying and ‚Bad Guy‘ Identifying Chemicals“, Forschungsantrag des Wright Laboratory von 1994, www.sunshine-project.org/incapacitants/jnlwdpdf/wpafbchem.pdf.

Aus dem Englischen von Stefan Schaaf

Steve Wright ist Professor an der Fakultär für angewandte globale Ethik, Leeds Metropolitan University.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Steve Wright