10.08.2007

Die alten Geister sind zurück

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Die alten Geister sind zurück

Die Versöhnungspolitik in der Ukraine rehabilitiert die Nationalisten des Zweiten Weltkriegs von Jean-Marie Chauvier

An diesem 9. Mai 2007 dominiert auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew nicht das Orange, sondern die Farbe Rot. Gefeiert wird der 62. Jahrestag des „Sieges über den Faschismus“. Auf dem Kreschatik-Boulevard paradieren die ordensgeschmückten Veteranen der Roten Armee und der Partisanenverbände. Aus den Lautsprechern tönt die Hymne des Verteidigungskriegs: „Steh auf, steh auf, du Riesenland; gegen das Dunkel des Faschismus führen wir den Volkskrieg, den heiligen Krieg.“

Inmitten des Rituals aus sowjetischen Zeiten präsentieren sich die Vertreter der jungen ukrainischen Demokratie: die „orangene Bewegung“ mit ihrem Anführer Wiktor Juschtschenko, Staatspräsident und Vorsitzender der Partei „Unsere Ukraine“ (NU), und Julia Timoschenko, „Ikone“ der Bewegung von 2004, die inzwischen eine eigene Partei, den „Block Julia Timoschenko“ (Bjut) gegründet hat. Überall weht die blau-gelbe Nationalflagge, Einheiten der Armee sind aufmarschiert.

Die Huldigung an die UdSSR ist keineswegs eine politische Entgleisung – hier geht es allein um die Tradition. Am Ende der offiziellen Parade erwarten den Präsidenten allerdings weniger willkommene Teilnehmer: Inmitten der kommunistischen roten Fahnen recken Demonstranten die hellroten Banner der Sozialisten (SPU) und die blau-weißen Fahnen der „Partei der Regionen“ (PR) – deren Vorsitzender, Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, wegen Erkrankung fehlt. Unter der Führung des Parlamentspräsidenten, des Sozialisten Olexandr Moros, ist auch die Mehrheit des Parlaments präsent, das Staatspräsident Juschtschenko unter Berufung auf die Verfassung am 2. April aufgelöst hatte, weil Janukowitsch, im Verein mit Moros – der im Sommer 2006 überraschend das Lager zu Janukowitsch übergelaufen war – Abgeordnete des orangenen Lagers mit Posten und Geld auf seine Seite gezogen. Inzwischen haben sich die Gegner für den 30. September auf Neuwahlen geeinigt.

Nach der Parade ziehen die Demonstranten zum Park des Ewigen Ruhmes, um dort die Gräber der gefallenen Helden mit Blumen zu schmücken. Dann steigen sie hinaus zu der gigantischen Gedenkstätte für den „Großen Vaterländischen Krieg“, ganz oben auf dem Hügel. Dort gibt es ein Büffet, ein paar Reden und Musik. An diesem Feiertag sind Tausende auf den Straßen und in den Parks unterwegs. Überall werden die alten Lieder gespielt, die Erinnerungen an Krieg, an die Angst und die Befreiung wachrufen.

Es sind Erinnerungen an eine Zeit, von der wir im Westen wenig wissen: von der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung, von der Massenvernichtung der Bevölkerung zwischen 1941 und 1944, vom Niederbrennen der Dörfer, vom Tod der mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, vom Partisanenkampf und der Rolle der Roten Armee, für die man sich jenseits des Eisernen Vorhangs nie wirklich interessiert hat. Die slawische Heldenlyrik, mit ihrer Mischung aus Pathos und tiefer Empfindung, mit dem aus der sowjetischen Ära überlieferten großen Mythos von Leid und Zusammenhalt ist dem Besucher aus dem Westen fremd.

In diesen Tagen werden in russischen und ukrainischen Fernsehsendern Spielfilme und Dokumentationen gesendet, die nicht nur an die großen Schlachten und glorreichen Siege erinnern. Thematisiert wird auch, was zu Sowjetzeiten tabu war und mehrere Generationen traumatisiert hat: die bis heute andauernde Suche nach „Verschwundenen“, das Schicksal der Menschen, die in Waisenhäusern aufwuchsen oder bei Pflegeeltern, die ihrerseits die Eltern verloren hatten.

Man berichtet auch über die befreiten Kriegsgefangenen, die nach ihrer Rückkehr aus Deutschland als „Verdächtige“ in die Straflager geschickt wurden, oder über die bewaffnete Kollaboration mit Deutschland oder die Verschleppung ganzer Völker, die für den „Verrat“ einiger weniger kollektiv bestraft wurden. So fand am 17. Mai in Kiew ein offizielles Requiem statt zur Erinnerung an zehntausende Tataren, die 1944 von der Krim nach Zentralasien deportiert wurden und unterwegs elendig gestorben sind.1

Und es wird an die Juden der Ukraine erinnert, von denen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion die meisten bereits in den ersten drei Monaten der Besatzung umgebracht wurden. In Lwow, Babi Jar, Berdischew, Rawa-Russka, Kamenetz-Podolsk, Odessa und anderswo wurden auf diese Weise Zentren jüdischen Lebens innerhalb kürzester Zeit ausradiert.

Präsident Juschtschenko nutzt an diesem 9. Mai die Gelegenheit, vor den Veteranen erneut für die Rehabilitierung ihrer einstigen Gegner einzutreten – namentlich der Mitglieder der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und ihres bewaffneten Arms, der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA). Trotz vorsichtiger Proteste von russischer, polnischer und jüdischer Seite hatte man diese Organisationen – und die mit ihnen verbundenen griechisch-katholische Kirche2 – bereits 2002 unter der Präsidentschaft von Leonid Kutschma, offiziell anerkannt. Es sollte der „nationalen Versöhnung“ dienen und alte Feindschaften überwinden.

Unter den „Helden des Widerstands“, die Juschtschenko nannte, war der kommunistische Partisanenführer Sidor Kowpak nicht dabei, wohl aber der UPA-Kommandant Roman Schuchewitsch, dessen 100. Geburtstag am 17. Juli in mehreren Städten groß gefeiert wurde. Und es wurde auch nicht gesagt, dass Schuchewitsch 1941/42 als ranghoher Offizier im „Bataillon Nachtigall“ der deutschen Wehrmacht diente und Mitglied der NS-Hilfspolizei war. Ebenfalls wieder zu Ehren gekommen ist der Nationalist Simon Petljura, der 1918 den Aufstand der Arbeiter im Arsenal von Kiew niederschlug. Er war als Anstifter von Pogromen berüchtigt, weshalb er im Mai 1926 in Paris von einem „jüdischen Terroristen“ erschossen wurde.3 In seiner Geburtsstadt Poltawa hat man am 25. Mai schon den Grundstein zu seinem Denkmal gelegt.

In Galizien, der Hochburg des ukrainischen Nationalismus, wird sogar die SS-Division „Galizien“ (Galitschina) geehrt, allerdings unter dem Namen, den sie seit 1944 trug: „Erste Division der ukrainischen National-Armee“. Ihre Mitglieder beziehen in Galizien die gleichen Pensionen wie Veteranen der Roten Armee oder der UPA. Ein Fackelzug durch Kiew, den ukrainische Nationalisten am 28. April zum Gedenken an die Gründung der Division veranstalten wollten, wurde allerdings untersagt. Kiew ist eben doch nicht Riga, wo am 16. März 2007 lettische Waffen-SS-Veteranen aufmarschieren durften.

Aber die Regierung tut nichts dagegen, dass das bisherige Geschichtsbild einfach umgeschrieben wird. Inzwischen gilt die OUN/UPA, die die nationalistische Propaganda mit dem Namen des berüchtigten Stepan Bandera verbindet, als eine Kraft des „Widerstands an drei Fronten“: Gegen die Nazis, gegen die Sowjets und gegen die Polen.

Antisemitische Literatur an den Bücherständen

Immerhin wird nicht bestritten, dass sich die Bewegung zunächst den Nationalsozialisten anschloss – es sei ihr aber nur um die Unabhängigkeit der Ukraine gegangen, erklärt ein Vertreter dieser Position und verweist auf Parallelen in Kroatien, der Slowakei und Vichy-Frankreich. Es sei damals besser gewesen, ein deutsches Protektorat zu werden als ein besetztes Land. „In Frankreich denkt man heute anders über Marschall Pétain. Er gilt nicht mehr nur als Verräter, weil man begriffen hat, dass er nur versuchte, einen kleinen Rest Unabhängigkeit für die Teile der Bevölkerung zu wahren, die nicht kämpfen konnten: Frauen, Kinder und alte Menschen.“4

Den Feinden von damals die „nationale Versöhnung“ nahezubringen, ist allerdings keine leichte Aufgabe. Wassili Kuk, der letzte noch lebende UPA- Kommandeur, gibt sich konziliant. Der 9. Mai? Kein Problem: „Es ist der Tag des Sieges über den Faschismus. Der Hitlerismus war entsetzlich, ganz Europa hat ihn bekämpft, nicht nur die Rote Armee.“ Und dann betont er noch: „Die UPA hat niemals gegen das ukrainische Volk oder die Rote Armee gekämpft, sondern nur gegen die Truppen des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und gegen die faschistischen Eindringlinge.“

Kommandeur Kuk, der bis 1954 im Untergrund gegen die Sowjetunion kämpfte und bis 1960 in Haft saß, durfte danach unter Aufsicht des KGB am Institut für Geschichte der ukrainischen Akademie der Wissenschaften tätig sein. 1972 trennte man sich im Streit. Seither lebt Kuk im Ruhestand. Er genießt hohes Ansehen und schreibt gerade seine Memoiren.

Sollte Präsident Juschtschenko tatsächlich darum bemüht sein, Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen zu verurteilen, hat er bisher noch nicht den richtigen Ton getroffen. Am 28. 11. 2006 verabschiedete das Parlament auf Drängen des Präsidenten ein Gesetz, in dem die große Hungersnot von 1932/33 als „Genozid am ukrainischen Volk“ (Holodomor) bezeichnet wird. Die Mehrheit der Abgeordneten der „Partei der Regionen“ war gegen den Gesetzentwurf und enthielt sich der Stimme. Die Historiker streiten noch über die damaligen Ereignisse, aber die Abgeordneten hatten ihr Urteil schon gefällt. Wer gegen das Gesetzt stimmte, galt als „Leugner“.5

Im Wald von Bykownia, nahe Kiew, wo Zehntausende von Opfern sowjetischer Hinrichtungen in Massengräbern liegen, gab es am 20. Mai 2007 einen Gedenkakt für die „Opfer des kommunistischen Terrors“ von 1937 bis 1938. Initiator war die Vereinigung Memorial in Kiew, eine kontroverse und von Moskau als „Beleidigung und Provokation“ empfundene Einrichtung, die ein Institut für das nationale Gedenken und ein Museum der sowjetischen Besatzung betreibt und seit Juni 2007 offiziell von der Jugendorganisation der Partei des Präsidenten unterstützt wird.

Juschtschenko hatte bereits 2006 erklärt: „Man sollte der Tragödie von Bykownia ebenso gedenken, wie man sich an Auschwitz, Buchenwald und Dachau erinnert.“ Dass damit die stalinistischen Morde und der Völkermord an den Juden auf eine Stufe gestellt wurden, überging man im Westen mit betretenem Schweigen. In Israel protestierte man aus zwei Gründen gegen die neue Geschichtspolitik: Erstens wegen der Gleichsetzung mit der Schoah und zweitens, weil die Kampagne für das Bykownia-Gedenken unverhohlen antisemitische Töne enthielt. Zum Beispiel wurde immer wieder betont, dass Lasar Kaganowitsch, der für die Kollektivierung in der Ukraine und damit für die Hungersnot verantwortlich gewesen sei, jüdischer Herkunft war.

Auch an einigen Bücherständen in Kiew wird antisemitisches Gedankengut feilgeboten, nach Auskunft der Verkäufer aber bereits seit 1986: So kann man hier „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die Schriften des NS-Ideologen Alfred Rosenberg, Bücher des Historikers Matwei Chapowal über „Die Juden in der Ukraine“ und Pamphlete gegen die „jüdische Diktatur“ erwerben, die einst in der UdSSR geherrscht habe und heute hier. Auf einigen Broschüren prangt sogar das Hakenkreuz. Auch das Hauptquartier des modernen Antisemitismus befindet sich übrigens in Kiew: An der Akademie für Personalführung (Maup), geleitet von Georgi Tschtschekin, einem Verbund von Universitäten und Privatschulen in 32 Regionen, sind 57 000 Studenten eingeschrieben. Maup gibt antisemitische Schriften heraus, ist aber als Bildungsinstitution offiziell zugelassen.

Anfang Mai erreichte die zuvor in Estland, Polen und Ungarn erfolgreiche Protestkampagne gegen Mahnmale für die sowjetischen Befreier auch den Westen der Ukraine. Zuerst forderten in Lwiw (Lemberg) mehrere Organisationen den Abriss eines Denkmals für die Soldaten, in der Mehrheit Ukrainer, die bei der Befreiung der galizischen Hauptstadt gefallen waren.

Dazu gehörte die Gesamtukrainische Vereinigung Swoboda (Freiheit), deren Führer Oleg Tjagnibog für seine Aufrufe zum bewaffneten Kampf „gegen die Moskowiter und die Itzigs“ bekannt ist, die neu gegründete Ukrainische National- und Arbeitspartei (UNTP), deren Emblem stark an das Hakenkreuz erinnert, sowie der Kongress der Ukrainischen Nationalisten (KUN). In der Nacht vom 12. zum 13. Mai wurden in Lwiw Gräber von Soldaten und ein Denkmal beschädigt. Dazu wurden an mehreren Orten jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten geschändet6 und auf die große Synagoge in Dnjepropetrowsk ein Anschlag verübt.

Diese „Revisionisten“ finden immer mehr Unterstützer. Inzwischen haben zahlreiche Gemeinderäte, darunter der Stadtrat von Lwiw, den Abriss von Denkmälern aus der Sowjetzeit beschlossen. Waleri Bobrowitsch, Führer der bekanntesten radikalen (bewaffneten) Organisation UNA-UNSO7 , erklärte, er befürchte, dass russische Panzer innerhalb von zwei Tagen das gesamte Gebiet östlich des Dnjepr überrollen könnten. Seine Organisation zeigt sich gerüstet: Sie hat bereits bewaffnete Einsätze in Georgien, Tschetschenien und Transnistrien durchgeführt.8

Diese radikalen Bewegungen mögen klein und untereinander zerstritten sein, aber sie sind keineswegs isoliert: National-demokratische, liberale und ökologisch orientierte Gruppierungen im rechten Lager greifen ihre Thesen auf – und unterstützen auch die Rehabilitierung der OUN-UPA. Der heutige Swoboda-Führer und frühere Chef der sozial-nationalen Partei, Oleg Tjagnibob, gehörte zu den Strategen der „orangenen Revolution“. Zu den Abgeordneten des orange-oppositionellen Blocks Julia Timoschenko (Bjut) zählt nicht nur der UNA-UNSO Aktivist Andryi Schil, sondern auch Lewko Lukianenko, ein Gründervater der Dissidentenbewegung in der Ära Breschnew und Verfasser antisemitischer Aufrufe im Wahlkampf 2006. Auf den ersten Blick scheinen die an Ordnung und Tradition gebundenen Wertvorstellungen der extremen Rechten dem westlichen Liberalismus fremd, doch inzwischen lassen sich schon Gemeinsamkeiten finden.

Der Unabhängigkeitsplatz von Kiew ist heute der Versammlungsort für Sozialisten, Mitglieder der Partei der Regionen und Kommunisten, deren Partei sich mittlerweile zu einer gemäßigten parlamentarischen Kraft entwickelt hat. Täglich erörtern sie hier öffentlich die Verfassung, die ihrer Meinung nach vom Staatspräsidenten verletzt wurden. Die Redner legen sich ins Zeug, aber die Zuhörer beteiligen sich nicht an der Debatte. Sie wollen vor allem ihre Füße im Brunnen kühlen.

Der kleine Mann auf der Straße und der Streit der Eliten

Im Schatten der Kastanien flanieren sommerlich gekleidete Kiewer. Auf die politische Krise reagiert man hier eher mit Langeweile als Interesse. Immerhin brach sie in einer Phase der ökonomischen Erholung aus: „Die Eliten beider Lager streiten sich um die Aufteilung der Märkte und der Industrien“, meint der kleine Mann auf der Straße. Und erwähnt auch noch das Bemühen der USA, die Ukraine in die Nato zu bringen9: Im aktuellen Wahlkampf mache sich vor allem Verteidigungsminister Anatoli Grytsenko für das Atlantische Bündnis stark. Damit wäre der russische Marinestützpunkt in Sewastopol bedroht. Der liege ja auf der Krim, von der aus die Amerikaner ihre Vorherrschaft über das Schwarze Meer etablieren wollten, das bekanntlich eine Schlüsselrolle in den Plänen für den „Greater Middle East“ spiele. Angeblich seien Estland und Kanada bereit, Programme zur Wiedereinführung der ukrainischen Sprache auf der Krim zu finanzieren.

Es ist immer wieder das Gleiche: In der Ukraine spiegeln die politischen Auseinandersetzungen auch die regionalen und kulturellen Konflikte wider. Alle träumen von Europa und von neuen Freiheiten. Dabei können die einen, die Russisch sprechen oder zweisprachig sind, einen ukrainischen Patriotismus auch mit einem Zugehörigkeitsgefühl zur russischen Hemisphäre vereinbaren. Während die anderen an einer ethnischen Identität festhalten und auf engere Beziehungen zu Polen und zu den USA setzen.

Die mit Russland verknüpfte antifaschistische Tradition wird immer weniger geschätzt. Stattdessen hofft man auf die Erneuerung jener Beziehungen des Westens zur OUN, die nach 1945 während des Kalten Kriegs geknüpft wurden, im Rahmen der World Anti-Communist League (WACL), und zum antibolschewistischen Block, der noch 1943 in der besetzten Ukraine entstanden war.

Bei der Verbreitung der neuen ethnisch-nationalen Botschaft kommt der ukrainischen Diaspora eine Schlüsselrolle zu. Vor allem aus Galizien wanderten 1943/44 viele Ukrainer nach Kanada, den USA und Australien aus, von denen viele vor den „Roten“ flüchteten. Nicht wenige waren Anhänger der OUN, deren Kinder die alte Tradition weiter pflegten. Die sahen dann 1989 nach dem Untergang der Sowjetunion die Chance, im Land der Väter die alte Botschaft erneut zu verbreiten. Diese Auslandsukrainer predigten die „freie Welt“, ohne ihren alten „integralen Nationalismus“ aufzugeben. Ihr Einfluss wirkte anfangs über die Sender von Radio Free Europe – Radio Liberty10 , heute aber werden sie von kanadischen und US-amerikanischen Stiftungen unterstützt. Mit ihrem Auftritt in den ukrainischen Medien und auf Internetseiten füllen sie ein ideologisches Vakuum, das die alte sowjetische Elite hinterlassen hat.

Die jüngere Geschichte der Ukraine wird im „Factbook“ der CIA mit dem Satz abgehandelt: „Im Zweiten Weltkrieg forderte der Einmarsch der deutschen und der sowjetischen Armee sieben bis acht Millionen Tote“.11 Hier wird nicht mehr unterschieden zwischen dem Angriffskrieg und dem Genozid der Nazis einerseits und dem Widerstand nicht nur der sowjetischen Truppen (mehrheitlich getragen von Ukrainern), sondern auch der USA, Großbritanniens, des gaullistischen Frankreichs und aller europäischen Widerstandsgruppen.

Eine demokratisch gesinnte ukrainische Journalistin meint zu dieser neuen Tendenz, die Befreier des Landes als „Besatzer“ zu bezeichnen und die Engländer und Amerikaner zu den eigentlichen Siegern zu erklären: „An die Stelle der Erinnerung treten neue Klischees vom Kampf zweier totalitärer Systeme“, schreibt Irina Tschubatenko in einer Kiewer Tageszeitung. „Man kann die Verbrechen eines Regimes nicht durch die Verbrechen eines anderen rechtfertigen. Mein Großvater hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Er war Gefangener in deutschen und sowjetischen Lagern, und er hat unter beiden Regimen gelitten. Aber für ihn war es keine Frage, wer der Feind war.“12

Fußnoten:

1 Siehe Alexandre Billette, „TV Tatar geht auf Sendung“, Le Monde diplomatique, Dezember 2006. 2 Die griechisch-katholische oder „unierte“ Kirche folgt der orthodoxen Liturgie, erkennt aber den Papst als oberste Autorität an. Sie ist vor allem in der Westukraine verankert und war zu Sowjetzeiten unterdrückt. 3 Siehe www.France-Ukraine.com, 24. Mai 2007. Petljuras Einheiten verübten zahlreiche Pogrome, eine persönliche Verantwortung konnte ihrem Führer aber nicht nachgewiesen werden. 4 Zitiert nach Ruslan Tschastii, „Stepan Bandera“, Charkow (Folio) 2006. 5 Das Gesetz wurde mit 233 gegen eine Stimme angenommen. Die Partei der Regionen und die Kommunisten hatten den Antrag abgelehnt und stattdessen vorgeschlagen, die Ereignisse Anfang der 1930er-Jahre als „Tragödie“ zu bezeichnen. 6 Es handelte sich um Gräber in Tschernowtsy und Gedenkstätten in Chmelnitsky und Iwano-Frankiwsk (im Westen). 7 UNA steht für Ukrainische Nationale Vereinigung, UNSO für ihren bewaffneten Arm Ukrainische Nationale Selbstverteidigung. 8 Mitte Mai trafen sich Nationalisten aus den baltischen Staaten und dem Nordkaukasus zu einem „Antiimperialistischen Kongress“. 9 Nach den jüngsten Umfragen sind 70 Prozent der Ukrainer gegen den Beitritt zum Nordatlantikpakt. 10 Diese Sender werden bis heute vom US-Kongress finanziert und sind in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion noch immer aktiv. 11 Siehe www.cia.gov/cia/publications/factbook. 12 Zitiert nach Gazeta po-kievskii, 10. Mai 2007.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Jean-Marie Chauvier ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Jean-Marie Chauvier