Marokkos Frauen
2004 führte Marokko eine bahnbrechende Reform des Personenstandsrechts (mudawana) ein. Nach Tunesien ist Marokko erst das zweite arabische Land, in dem es für Frauen eine so fortschrittliche Gesetzgebung gibt.1 Die Frauen erkämpften mit energischem Auftreten und der Unterstützung des Königs mehr Gleichheit – vor allem das Recht, ohne die Zustimmung eines männlichen Familienangehörigen eine Ehe einzugehen. Scheidungsverfahren werden nunmehr vor Gericht und nicht vor einem Geistlichen durchgeführt.
Zunächst hatte es viele Zweifel gegeben, ob diese Reformen die Realität spürbar verändern würden. Drei Jahre später resümiert Dr. Nouzha Guessous, Bioethikerin, Bürgerrechtlerin und Mitglied der Mudawana-Kommission: „Die Reformen waren ein Erfolg. Jedes Jahr im März berichtet das Justizministerium über die Umsetzung, und einige Frauenverbände veröffentlichen eigene Untersuchungen. Wir wissen also, was geschieht.“
Nach dem neuen Gesetz können Frauen wie Männer die Scheidung aufgrund „unüberbrückbarer Gegensätze“ (chiqaq) beantragen, ohne diese irgendwie belegen zu müssen.2 Die Gerichte müssen dem Antrag binnen sechs Monaten stattgeben. Nach altem Recht konnte sich das Scheidungsverfahren über 10 bis 15 Jahre hinziehen, so lange brauchten die Frauen häufig, den Nachweis einer Misshandlung zu erbringen. Oft endeten solche Verfahren mit einer gekauften Scheidung (kholaa), die sie um ihr gesamtes Vermögen und manche Rechte brachte.
Das neue Scheidungsrecht ist höchst populär: 2006 wurden nach ihm 73 Prozent aller Anträge gestellt – 77,7 Prozent davon von Frauen. Aber auch viele Männer geben dem neuen Recht den Vorzug, weil es im Normalfall nicht so hohe Kosten verursacht wie die traditionelle Verstoßung (talaq). Scheidungsgeschichten auszutauschen ist ein neuer Trend in den schicken Cafés an den Boulevards von Casablanca, wo man hören kann, wie sich Männer beklagen, mit welcher Leichtigkeit sie von ihren Frauen entlassen wurden.
Der Druck der Frauen lässt indes nicht nach. Zahlreiche Verbände fordern eine gerechtere Anwendung der neuen Regeln. Artikel 49 des Personenstandsgesetzes erlaubt eine schriftliche Vereinbarung über den während der Ehe erworbenen Besitz und dessen Aufteilung. Existiert eine solche Vereinbarung nicht, richtet sich das Gericht nach dem Beitrag jedes Ehepartners. Die Frauen fordern nun, dass diese Regelung automatisch greift und dass ihre Tätigkeit im Haushalt als vollwertige Arbeit anerkannt wird.
Eine der Organisationen, die sich für diese Änderung einsetzt, ist die von Fouzia Assouli geleitete Demokratische Liga für Frauenrechte (LDDF), die derzeit die zehn größten politischen Parteien Marokkos auffordert, diese und 15 weitere zivilrechtliche, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen für Frauen in ihre Wahlprogramme aufzunehmen. Die unter der Bezeichnung citoyenneté responsable (verantwortungsbewusstes Bürgertum) bekannte Initiative fordert die Wählerinnen dazu auf, nur für solche Kandidaten zu stimmen, die sich alle 16 Punkte zu eigen machen. Die Bewerber von sechs der großen Parteien haben dies bereits zugesagt.3
Die LDDF bietet im ganzen Land medizinische Hilfe und Rechtshilfe an und betreibt Jugendarbeit. In manchen Regionen herrscht bittere Armut; die Analphabetenrate liegt bei 43 Prozent. Doch obwohl viele Frauen nach wie vor ländlichen und oftmals Stammestraditionen verhaftet sind, hat es frappierende Fortschritte gegeben. Zwischen 1982 und 2004 ist die Geburtenrate von 5,5 auf 2,5 Kinder pro Jahr und 1 000 Einwohner zurückgegangen. Der Soziologe Emmanuel Todd verweist darauf, dass es in Frankreich von 1760 bis 1910 gedauert hat, bis man ähnliche Fortschritte erzielen konnte.4
In den Moscheen wurde den Frauen mehr Verantwortung zugebilligt, vor allem bei der religiösen Unterweisung weiblicher Imame (murchidates). Diese Initiative der Regierung, die nach den Anschlägen von 2003 und als Reaktion auf den salafistischen Extremismus gestartet wurde, hat die volle Unterstützung der PJD, die sich noch viel mehr murchidates wünscht. Den Islamisten von al-Adl wal-Ihsan geht die Initiative nicht weit genug.
All diese Veränderungen kann man auch auf den Straßen von Casablanca und Rabat beobachten. Traditionelle Dschellabas ohne Kopftuch sind schwer in Mode; Mädchen im Hidschab bevorzugen einen moderneren „islamischen“ Look (Hosen kombiniert mit einer figurbetonten Tunika); Schleier sind eher selten und gelten als provinziell. Und kein Mann dreht sich beim Anblick eines ärmellosen, tief ausgeschnittenen T-Shirts um.
Fußnoten: