Einvernehmliche Zähmung
Nach den Wahlen im September will die marokkanische Regierung die Islamisten einbinden von Wendy Kristianasen
In der marokkanischen Staatsführung ist man gründlich verstimmt über die Politik der USA. „Die Vereinigten Staaten ermutigen unsere Islamisten und hofieren sie mit Einladungen. Das ärgert uns schon“, klagt ein Regierungsmitarbeiter. „Marokko macht ihnen Freude und Sorge zugleich. Es gefällt ihnen zwar, dass wir uns modernisieren, aber die Tatsache, dass bei uns schon Demokratie herrscht, zerstört die Basis für ihre Theorien à la Huntington, wonach die arabisch-islamische Welt insgesamt erst noch demokratisiert werden muss. In Wirklichkeit wollen sie unsere Fortschritte gar nicht wahrhaben.“
Die Verstimmung in Rabat wurde in letzter Zeit durch Spekulationen genährt, dass die Islamisten bei den Wahlen am kommenden 7. September einen Erdrutschsieg erringen könnten. Werden sich diese Prognosen bewahrheiten? Alle Menschen, die man dieser Tage auf den Straßen von Casablanca oder Rabat fragt, ob sie wählen werden, antworten lachend und fast stolz: „Ich gehe niemals wählen! Warum auch? Die Parteien sind doch alle gleich, haben dieselben Programme. Ist doch alles ein abgekartetes Spiel.“
In Marokko liegt die politische Macht nicht beim Parlament, sondern in den Händen von König Mohamed VI. Er ernennt den Regierungschef und das Kabinett, nur er kann das Parlament auflösen. Doch ab und zu hört man Aussagen wie: „Die PJD ist besser als die anderen.“ Gemeint ist die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, derzeit die drittstärkste Kraft des Landes.
Noch mutigere Stimmen bekennen sich zu der Bewegung al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit). Die führende politische und religiöse Kraft des Landes ist bei den ärmeren und marginalisierten Schichten populär, unter denen sie für eine utopische Vision auf sufistischer Grundlage wirbt. Die al-Adl wal-Ihsan ist strikt gegen Gewalt und damit ein Gegengewicht zu den Extremisten. Sie bestreitet allerdings auch die Legitimität der Monarchie und ist deshalb verboten. Ihre Führung kann sich zwar noch öffentlich äußern, aber als Nadia Yassine, die Tochter des 79-jährigen Gründers Scheich Abdessalam Yassine, im Juni 2005 öffentlich für eine republikanische Verfassung warb, brachte ihr das eine Klage ein (das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen).
Die Jugend scheint die Wahlen kalt zu lassen. Nicht mehr als ein Drittel der potenziellen Erstwähler hat sich in die Wahlverzeichnisse eintragen lassen, trotz aller gezielten Bemühungen, die jungen Leute – wie auch die Frauen – an die Wahlurnen zu bekommen. Ungeachtet der allgemeinen Wahlmüdigkeit erwartetet man die PJD als die große Gewinnerin. Lahcen Daoudi vom PJD-Generalsekretariat, ein glatt rasierter Endfünfziger, erklärt optimistisch: „Wir bekommen die Stimmen unserer überzeugten Anhänger, die gegen die verbreitete Korruption sind, dazu die Protestwähler und schließlich die Leute, die sagen: Lasst sie doch mal machen.“
Ähnlich sieht es Mustafa Sabik, Rechtsanwalt aus Casablanca: „Beim Thema Transparenz liegt die PJD vorn, und ihr Programm ist weitaus attraktiver als das der anderen Parteien. Sie ist diszipliniert und zumindest bislang nicht korrupt. Zudem zählt es in diesem stockkonservativen Land, wenn jemand sagt: ‚Wähle mich, ich bin Muslim.‘ “
Bei den letzten Wahlen am 27. September 2002 hielt sich die PJD zurück und trat nur in 55 von 91 Wahlbezirken an. Mustafa Ramid, der Hardliner in der PJD-Führung, erinnert sich: „Das war erst die zweite Wahl, an der wir teilnahmen. Nach dem 11. September und dem Krieg gegen den Terror war die Situation sehr angespannt. Das Regime wie auch der Westen beäugten uns äußerst misstrauisch, und Teile der Wirtschaft hatten ihre eigenen Bedenken.“
Al-Adl wal-Ihsan rief die Marokkaner damals zum Wahlboykott auf, was auf die Basis der PJD zielte. Trotz dieses Aufrufs und der selbst verordneten Zurückhaltung verdreifachte die Partei die Zahl ihrer Parlamentssitze und wurde zur drittstärksten Partei des Landes. Mit einem Stimmenanteil von über 10 Prozent und 42 von 325 Abgeordneten lagen sie nicht weit hinter den traditionellen Parteien zurück.1
Niemand in Marokko wünscht sich ein zweites Algerien
Die PJD operiert angesichts der politischen Zwänge zurückhaltend: Sie will kein Wahlergebnis, das Marokko nicht verkraften kann. Niemand wünscht sich ein zweites Algerien, das 1992 nach der Absage der Parlamentswahlen, deren erste Runde an die Islamisten der Islamischen Heilsfront FIS gegangen war, in den Bürgerkrieg schlidderte. Doch seit den Selbstmordattentaten vom 16. Mai 2003 in Casablanca, mit 45 Toten und über 100 Verletzten, fühlt sich das Land durch den Terrorismus bedroht. Eine geschockte Gesellschaft wandte sich plötzlich gegen die Islamisten, erwog sogar ein Verbot der PJD.
Mustafa Ramid erinnert sich: „Der Innenminister sorgte damals dafür, dass ich den Vorsitz der PJD-Fraktion verlor. Das stürzte uns in eine Krise.“ Weitere Selbstmordattentate in Casablanca im März und April 2007 signalisierten, dass al-Qaida sich auch im benachbarten Algerien festgesetzt hat und Marokko als wichtige Rekrutierungsregion für den Irakkrieg betrachtet. In Marokko scheint al-Qaida derzeit nicht zuschlagen zu wollen. Beobachter räumen jedoch ein, dass die PJD im konservativen und fast ausschließlich muslimischen Marokko als Puffer gegen die Versuche von Extremisten dienen kann, die ärmsten und hoffnungslosesten Schichten aufzuputschen.
Auch in Washington scheint man das so zu sehen. Nach Mustafa Khalfi, Politikwissenschaftler und Mitglied des Parteirats der PJD, müssen die USA demonstrieren, dass sie kein Problem mit dem Islam haben: „Also sehen sie die moderat islamistische PJD als Vorbild für andere arabische und muslimische Länder.“ Abdelwahed Moutawakil, Führer des politischen Arms von al-Adl wal-Ihsan, berichtet von ähnlichen Erfahrungen: „Die Amerikaner besuchen uns regelmäßig. Sie sind intelligenter als die Franzosen, die regelmäßig ihre Leute bedrängen, Treffen mit uns abzusagen. Die Amerikaner wissen, das wir in Marokko etwas zum Kampf gegen die Ausweitung des Terrors beitragen können.“
Gespannt blicken westliche Regierungen auf Marokko als Testfall für die Demokratie in arabischen Ländern. Der Sieg der Hamas in den Palästinensergebieten und der Erfolg der Muslimbruderschaft bei den ägyptischen Parlamentswahlen von 2005 haben Washington gezwungen, moderatere Töne anzuschlagen, was die Demokratisierung der arabischen Welt betrifft. Ende 2005 ließ das den Republikanern nahestehende Internationale Republikanische Instituts (IRI) in Marokko anonyme Umfragen durchführen. Sie ergaben einen überwältigenden Wählerzuspruch von 47 Prozent für die PJD, die damit noch vor der USFP lag.
Als diese sensationellen Zahlen im März 2006 in der Zeitschrift Le Journal hebdomadaire publiziert wurden, warnte die gesamte Presse Marokkos vor der „islamistischen Bedrohung“ – made in USA. Zu dem Zeitpunkt befand sich der Generalsekretär der PJD, Saadeddine al-Othmani, zufällig in Washington. Dann wurde auch noch entdeckt, dass das IRI den Besuch einer Delegation der islamischen türkischen Regierungspartei AKP bei der PJD finanziert hatte. Vor dem Hintergrund diverser Verschwörungstheorien waren sich damals alle Marokkaner einig, dass sich die USA einer groben Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten schuldig gemacht hatten.2
Der Ärger über die Einmischung Washingtons hielt lange an. Am 3. April reagierte das Innenministerium auf die IRI-Zahlen, indem es seine eigene Umfragen veröffentlichte, die für unveränderte Kräfteverhältnisse sprachen: 62 Prozent der Wähler würden für eine der vier größten Parteien stimmen (USFP, Istiqlal, Volksbewegung und PJD), 38 Prozent für den Rest. Auch die PJD, die fürchtete, dass ihr diese Debatte schaden könnte, machte ihre eigenen, bescheideneren Prognosen bekannt. Sie taxierte ihren Stimmanteil auf 26 bis 30 Prozent. Erneut versicherte sie, kein Ergebnis anzustreben, das dem Land zu viel zumuten würde.
Um die Wahlergebnisse zu beeinflussen, hat die Regierung bereits im Februar die Wahlkreise neu zugeschnitten. Damit wird die Zahl der Parlamentssitze verringert; entscheidende städtische Wahlkreise, wo die PJD ihre Anhängerschaft hat, werden aufgeteilt; dazu erhöht sich die Zahl der Sitze für ländliche Regionen, wo die PJD nicht so stark ist und die Wähler sich an ihrer traditionellen oder ethnischen Zugehörigkeit orientieren.3 Mit dieser Wahlkreisarithmetik wollte man eindeutig das Gewicht der PJD verringern – und damit Wahlmanipulationen überflüssig machen. Das Königshaus würde es zweifellos vorziehen, die Partei – als Minderheit – in eine Koalitionsregierung einzubinden, doch die insgesamt 27 Parteien, zumal auf der Linken, zögern offenbar, sich mit der PJD zu verbünden.
Nabil Benabdallah, Informationsminister und Sprecher der Regierung, die von dem Technokraten Driss Jettou geführt und von der USFP und Istiqlal dominiert wird, ist Mitglied der Partei für Fortschritt und Sozialismus, einer indirekten Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei. Der Minister nimmt kein Blatt vor den Mund: „Ihr Westler sprecht immer nur von den Islamisten! Für mich sind die alle gleich, egal ob moderat oder extremistisch. Bei uns gibt es einen Konsens: Die Wahlergebnisse werden nichts ändern. Dieselben Parteien werden die absolute Mehrheit haben.“ Am Ende meint Benabdallah, die linken Parteien würden kein Bündnis mit der PJD eingehen, und seine eigene Partei auf keinen Fall.
Die Parteizentrale der PJD liegt in dem ruhigen Viertel Les Orangers, nicht weit vom Parlamentsgebäude in Rabat. In der adretten weißen Villa sieht man keine religiösen Symbole. Nur das Logo der Partei, eine Petroleumlampe, ist allgegenwärtig, wie auch eine Karte Marokkos und die rote Nationalfahne mit dem fünfzackigen Stern.
Der Generalsekretär der Partei, Saadeddine al-Othmani, ein Monarchist mit guten Verbindungen zum Königshaus, reicht mir die Hand, was für einen Islamisten schon mal ungewöhnlich ist, und sagt sofort: „Ich mag den Begriff Islamist nicht. Wir legen Wert auf die Formulierung ‚auf islamischer Grundlage‘ wie bei den Christdemokraten. Wir sind liberal, wenn auch nicht übertrieben. Wir sind für freie Märkte innerhalb gewisser Grenzen. Unser großes Problem besteht darin, dass wir für eine wirtschaftliche Öffnung die Verwaltung und die Justiz reformieren und ein gutes Bildungssystem aufbauen müssen. Wir brauchen die nötige Infrastruktur und ausgebildete Leute, wenn wir einen lukrativeren Tourismus haben wollen, wir brauchen Menschen, die zu uns kommen und hier Häuser kaufen. Hier hat Marokko bislang zu wenig getan.“
Nur wenige bestreiten die Legitimität der Monarchie
Dem Land geht es nicht schlecht. In den vergangenen fünf Jahren erreichte das Wirtschaftswachstum im Durchschnitt fünf Prozent (2006 dank einer guten Ernte sogar acht Prozent), Straßen werden gebaut, der Staat treibt Projekte wie einen Hochgeschwindigkeitszug voran, aber auch im Wohnungsbau und im Tourismus, oder den großen, 2003 begonnenen neuen Tiefseehafen Tanger-Méditerranée.
Der Tourismus und besonders die Überweisungen von Marokkanern aus dem Ausland bringen erhebliche Deviseneinnahmen. Das Sozialsystem bleibt hinter dieser Entwicklung jedoch völlig zurück. Es gibt bittere Armut und Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und soziale Ausgrenzung, das Gesundheits- wie das Bildungswesen sind völlig unzureichend. Die Fakten werden von niemandem bestritten. Weitgehende Einigkeit herrscht auch darüber, dass das Land eine stabile, von einem wohlwollenden Monarchen überwachte Übergangsphase benötigt. Lediglich al-Adl wal-Ihsan bestreitet die Legitimität der Monarchie und hat nach den Worten von Abdelwahed Moutawakil, „die Vorstellung aufgegeben, dass der König wirklich Reformen anstrebt, die diesen Namen verdienen. Er kann nicht gleichzeitig König und Anführer der Gläubigen (Amir al-Muminin) sein. Das ist, als würde ich sagen: ‚Ich bin Muslim, aber an den Islam glaube ich nicht.‘ “
Die PJD wäre mit einer allmählichen Veränderung der Rolle des Monarchen einverstanden. Doch in dieser Frage ist sich die Führung der Partei uneins. Denn die darf es sich weder mit ihrer Anhängerschaft verderben, die nach Reformen verlangt, noch mit dem Königshaus, das die gemäßigten Islamisten kooptieren will. Generalsekretär Othmani gibt zu: „2002 haben wir intern diskutiert, ob wir uns an der Regierung beteiligen sollten. Ich dachte damals, es sei besser, draußen zu bleiben; es gab bereits sieben Regierungsparteien. Was hätte eine achte bringen sollen? Heute haben wir die gleiche Diskussion. Es ist keineswegs ausgemacht, dass wir bei der nächsten Koalition dabei sind. Alles hängt von den Ergebnissen ab, wer überhaupt mit uns eine Regierung bilden könnte, auf welches Programm man sich einigen, welche Ministerien man uns anbieten würde.“
Abdelilah Benkirane, der PJD-Führer mit den engsten Verbindungen zum Palast, ist anderer Meinung: „Wir sind bereit für eine Koalition: Wir sind offen und flexibel. Wir hätten das schon 2002 machen sollen, wie ich damals deutlich gesagt habe. Es war ein schwerer Fehler. Vielleicht hätte es dann keinen 16. Mai gegeben [die Attentate von 2003]. Oder wir hätten sie wesentlich besser verkraftet, durch Konsens statt im Zwist. Heute wird es schwieriger, eine Allianz zustande zu bringen. Seit dem 16. Mai sehen uns die Menschen in einem anderen Licht – mit Angst. Der Staat tritt uns aggressiv gegenüber.“
Auch Benkirane glaubt, dass sich die Partei nicht wie 2002 heraushalten kann: „Wir sind keine Anfänger mehr. Die Leute fordern uns. Da könnten wir nur schwer begründen, warum wir nicht alle unsere Kandidaten aufstellen. Im Unterschied zu 2002, als wir stark waren, haben wir jetzt keine Wahl mehr.“
Othmani wie Benkirane glauben, dass nach den Wahlen eine Verfassungsreform fällig wäre. Die politischen Parteien sind sich darüber einig, dass der Ministerpräsident (der gegenwärtig vom König ernannt wird) und die Regierung mehr Macht bekommen müssen. Und dass die zweite Kammer, der Senat, abgeschafft werden oder eine neue Funktion bekommen soll, etwa als Vertretung der Regionen.
Ganz anders schätzt Mustafa Ramid die Lage ein: „Ich glaube, unsere Zeit ist noch nicht reif. Es wird ein Problem geben, wenn wir alle unsere Kandidaten aufstellen. Wenn wir die meisten Sitze gewinnen, sollten wir in einer Demokratie auch den Ministerpräsidenten stellen. Dazu wird es aber nicht kommen, weil in unserer konstitutionellen Monarchie der König entscheidet. Ich möchte nicht, dass wir regieren, bevor wir eine Verfassungsreform haben – wir dürfen nicht in eine Falle gehen.“ Und er fügt hinzu: „Der König sollte herrschen, nicht regieren. Diesen Übergang müssen wir schrittweise hinbekommen, dabei sollte der König den Schiedsrichter spielen. Was ja auch geschieht – nur zu langsam.“
Wie viele in Marokko will die PJD die politischen Mauscheleien und die Korruption bekämpfen, die bis in die höchsten Ränge herrschen. Sie will den Stimmenkauf abschaffen wie auch Minister, die ihr Amt als Versorgungsposten begreifen. Auch die türkische AKP, die den gleichen Namen wie die PJD hat (A steht für Gerechtigkeit, K für Entwicklung), feierte ihre ersten Erfolge mit einer Politik der „sauberen Hände“. Othmani sagt: „Die türkische AKP macht uns Mut. Sie beweist, dass eine Partei mit islamischen Wurzeln in die Politik gehen und spektakuläre Erfolge erzielen kann. Wir haben gute Beziehungen zu ihr und tauschen uns aus. Nur ist unsere islamische Verankerung stärker, und natürlich ist Marokko kein säkulares Land.“ Marokko ist vielmehr ein islamischer Staat, dessen König das politische wie religiöse Oberhaupt ist, während die Türkei erklärtermaßen säkular ist, mit einer mächtigen Armee, die sich als Wächter der von Atatürk geprägten Staatsform versteht.
Die AKP hat sich von ihrer islamistischen Vorgängerorganisation, der Wohlfahrtspartei (Refah) distanziert, die noch ihre islamisch-nationalistische Vision (Milli Görüs) von der Türkei als Führungskraft der muslimischen Welt pflegte. Ein Jahr lang regierte die Refah unter Necmettin Erbakan, bis die Armee am 18. Juni 1997 dessen Rücktritt erzwang. Diese Krise führte zur Gründung der AKP.
Für diese konservative demokratische Partei ist die Religion „auf individueller Ebene ein zentrales Recht, aber nur eines unter mehreren“, wie es der türkische Außenminister Abdullah Gül formuliert.4 Bei den Wahlen vom 3. November 2002 gewann die AKP eine Zweidrittelmehrheit, ohne dass sie das gesetzliche Verbot islamischer Kleidung für Staatsbedienstete und in den Universitäten aufgehoben hätte. Stattdessen führte sie wichtige Reformen des Familienrechts durch: Der Ehemann ist nicht länger Familienoberhaupt, die Ehefrau kann ohne die Erlaubnis ihres Mannes arbeiten. Im Juli feierte die AKP bei den vorgezogenen Parlamentswahlen einen triumphalen Wahlsieg, als sie ihren Stimmanteil auf fast 48 Prozent erhöhte.
Benkirane meint über die türkische AKP: „Sie ist viel weiter als wir, wir sammeln noch unsere Kräfte. Die AKP könnte ein Vorbild sein, wenn sie auch viel vom Islam preisgibt: Auf ihren offiziellen Empfängen gibt es sogar Alkohol!“ Das findet selbst der gemäßigte Benkirane skandalös.
Die Neigung der PJD zu Moralpredigten wird in der Presse lebhaft diskutiert und sorgt für einige Nervosität. Auch Mustafa Ramid wird eine zu puritanische Haltung zugeschrieben, was er jedoch vehement abstreitet: „Ich habe überhaupt nichts gegen Festivitäten, solange dabei nicht der Alkohol- und Drogenkonsum gefördert wird. Und ich sage auch nicht, dass marokkanische Frauen nicht an gemischte Strände gehen sollen, sondern nur, dass sie eine islamische Alternative haben sollten. Wie auch im Bankwesen sollten wir ein duales System haben. Mehrere Wahlmöglichkeiten, das ist Demokratie.“
Bassimi Hakkaoui, ein 47-jähriger Parlamentsabgeordneter, der dem Generalsekretariat der PJD angehört, sieht Gefahren für die marokkanische Gesellschaft heraufziehen: „Wie kommt es, dass Menschen, die den Islam immer respektiert haben, sich nicht länger auf seine Werte verständigen? Sie können ihre Identität verlieren, und das ist gefährlich.“
Mehr oder weniger willkommene Touristen
Hakkaoui geht es nicht allein um Radikalisierung, sondern um moralische Rechtschaffenheit. „Nehmen Sie den Tourismus. Ich persönlich glaube nicht, dass uns der Tourismus viel bringt, solange wir nicht unseren eigenen Laden in Schuss bringen und die sozialen Strukturen verbessern. Es ist schön, Touristen zu sehen, es ist aber nicht schön zu sehen, wie sie Aids nach Marokko bringen und Marrakesch in eine Stadt der Pädophilie und Prostitution verwandeln. Wir wollen doch kein zweites Thailand werden.“
Um die Ängste derer zu zerstreuen, die diese Sorgen nicht teilen, verweist Othmani auf das Verhalten der PJD auf kommunaler Ebene. In den von ihr kontrollierten Gemeinden wurde weder der Alkohol verboten noch ging der Tourismus zurück. Doch derzeit muss sich die PJD um dringendere Fragen kümmern. Ihre Basis, die zu Mustafa Ramid aufschaut und glaubt, die Führung habe dem Regime zu viele Zugeständnisse gemacht, verweigerte vier führenden PJD-Politikern einen Listenplatz für die kommenden Wahlen. Einer von ihnen war Abdelilah Benkirane.5
Die Parteiführung musste ihrer Basis Zugeständnisse machen und fand im Juli einen internen Kompromiss: Die vier Kandidaten wurden ordnungsgemäß bestätigt, dafür kündigte die Partei an, mit einem Programm anzutreten, das vor allem soziale und wirtschaftliche Reformen fordert.
Wird die PJD ihre politischen Ziele überdenken? Und welchen Spielraum hat sie überhaupt? Bereits beschlossen ist eine Zusammenarbeit mit der liberalen Partei Forces Citoyennes, die über zwei Abgeordnete im Parlament verfügt. Denen wird die PJD mit Casablanca-Anfa einen ihrer entscheidenden Wahlkreise abtreten. Derweil muss sich die Partei einer neuen Herausforderung stellen: Erstmals werden bei den Septemberwahlen zwei weitere islamistische Parteien antreten: die al-Badil al-Hadari (Kulturalternative) mit einem progressiven Religionskonzept sowie die Fazila (Islamische Wiederauferstehungs- und Tugendpartei), in deren Führung sich ehemalige PJD-Politiker befinden.
Die Entwicklung in Marokko ist paradox. Auch nach den Attentaten von 2003 haben gewaltfreie Islamisten an Boden gewonnen. Gleichzeitig bestimmt weltweit der islamistische Dschihadismus die Debatte. Vor diesem Hintergrund lautet die entscheidende Frage: Kann die PJD als Barriere gegen die Dschihadisten fungieren? Oder muss Marokko einen grundlegenden Wandel innerhalb der al-Adl wal-Ihsan abwarten, der nach dem Ableben ihres gegenwärtigen Führers zur Beteiligung am politischen Prozess führen würde.
Benkirane macht sich Sorgen: „Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, die Gefahr abzuwehren. Jeder ungerechte Schlag im Irak oder anderswo ist Wasser auf die Mühlen der Salafisten. Was sie sagen, ergibt zwar meist keinen Sinn, manches aber schon. Und sie können sagen, was sie wollen, weil in Marokko Freiheit und Demokratie herrschen – natürlich innerhalb gewisser Grenzen. Wenn wir den Terrorismus verurteilen, gehen wir ein politisches Risiko ein.“
Auch Lahcen Daoudi von der PJD hat seine Bedenken: „Die Erschütterungen vom 16. Mai sind noch immer zu spüren. Wenn wir scheitern, könnten sich die Menschen den Extremisten zuwenden. In Anbetracht dessen können wir uns ein Scheitern kaum leisten.“
Fußnoten:
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Wendy Kristianasen betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique in London.