10.08.2007

Für eine neue Internet-Regierung

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Für eine neue Internet-Regierung

Das Grundrecht auf Kommunikation muss erst noch erkämpft werden von Armand Mattelart

Die internationalen Verhandlungen über den Status von Information, Kommunikation und Kultur sind deshalb so bedeutsam, weil die künftige Architektur der Telekommunikationsnetzwerke die Grundlage einer neuen Weltordnung bildet. Deshalb ist der Kampf um die Worte so wichtig. Wer die offizielle Sprachregelung kontrolliert, kann Vorschriften, Ordnungs- und Bezeichnungssysteme einführen und damit Wahrnehmungen und Deutungen vorgeben – und so die Voraussetzungen für Handlungsmodelle und politische Strategien bestimmen.

Die Verarmung der Begriffe, mit denen wir die Gegenwart und die Zukunft der Welt beschreiben, wird besonders deutlich, seit sich der Markt der Sprache immer mehr auf die Sprache des Markts reduziert. Der mechanistische Begriff der Information als reine Datenmenge, wie ihn die Telekommunikationsingenieure geprägt haben, fungiert dabei als trojanisches Pferd.

Diese Definition trennte die Information als neuen, „immateriellen“ Rohstoff von der Kultur ab, in der Bedeutung und Gedächtnis produziert werden, und verschob dadurch auch den Sinn ihrer beiden Schwesterbegriffe Kultur und Kommunikation. Nur indem sie Kultur als „Dienstleistung“ definierte, konnte die Welthandelsorganisation (WTO) das Recht beanspruchen, über „Kultur“ zu verhandeln, und auf diese Weise den zweiteiligen Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in Genf 2003 und Tunis 2005 mit kontrollieren.

Auf die Erosion der ursprünglichen Wortbedeutungen folgte ein Schwall vernebelnder Neologismen, die mittels der Handlungsmodelle, die sie ausgebildet und als einzig mögliche dargestellt haben1 , auf die Realität einwirken konnten. Das jahrhundertealte Bestreben zur Vereinigung der Welt wurde so auf ein seit höchstens zwei Jahrzehnten existierendes Phänomen reduziert und damit um seine Geschichte und alle geopolitischen Konflikte verkürzt.

Im Mittelpunkt dieses Neusprechs stehen die Begriffe der „Informationsgesellschaft“ respektive „globalen Informationsgesellschaft“, die als mächtige Paradigmen des sozialen Wandels und Garanten einer transparenteren Welt verkündet werden. Die Vorläufer dieses Begriffspaars finden sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert, als man die Idee der universellen Bezifferbarkeit und Messbarkeit zur Grundlage jedes wahren Diskurses erhob. 1945 begann dann die jüngere Geschichte der beiden Begriffe, die etwa 20 Jahre dauerte. Die allerjüngste Geschichte spielt in der unmittelbaren Gegenwart.

Niemand hat die aufklärerische Idee einer „globalen Informationsgesellschaft“ so treffend beschrieben wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges. Er greift den Mythos einer von allen geteilten Kunstsprache auf, die das Fundament einer universellen Gemeinschaft bilden sollte.2

Der Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, ernannte im Jahre 1948 den Philosophen Leibniz zum Schutzpatron seiner neuen Wissenschaft – nicht allein, weil dieser den binären Code und die Differenzialrechnung erfunden hatte, sondern weil auch Leibniz für sein Unternehmen, Denkprozesse zu automatisieren, eine „lingua characteristica“ entwickeln wollte: eine künstliche Sprache ohne all die Fehler der natürlichen Sprachen, die stets Missverständnisse und Zwietracht auslösen, und die zur Entstehung einer universellen Gemeinschaft beitragen könnte.

Die jüngere Geschichte der „globalen Informationsgesellschaft“ ist im Kontext des Kalten Krieges zu sehen. Seit den 1950er-Jahren bildeten sich in den USA die theoretischen Prämissen einer „postindustriellen“ Gesellschaft heraus, die sich seit Beginn der 1970er-Jahre in eine „Informationsgesellschaft“ verwandelte. Ein neuer soziologischer Kampfdiskurs entstand, der sich am Primat der Naturwissenschaft und der künstlichen Intelligenz orientierte und auf der Ankündigung dieses und jenes „Endes“ beruhte: des Endes der Ideologie, der Politik, des Klassenkampfs, der kritischen Intelligenz und ihres Engagements. An ihre Stelle trat der „positive Intellektuelle“, der vor allem Entscheidungen zu treffen hat.

Die zentrale These lautete seit den 1960er-Jahren, die Konvergenz von Telefon, Fernsehen und Computer werde den Planeten in eine „globale Gesellschaft“ verwandeln. Doch nur in den USA wurde diese Vision Wirklichkeit, wo die Kulturindustrie und ihre Informations- und Kommunikationsnetze die Werte eines neuen Universalismus transportierten. Die globale Gesellschaft war offenbar ein nach dem Vorbild der USA gestalteter Archetyp. Die Konfrontation der Supermächte hat sich damit völlig verändert: An die Stelle der „Kanonenbootpolitik“ trat eine „Netzpolitik“, die natürliche Anziehungskraft des „American way of life“ ersetzte die früheren Zwangsmittel.3

Per Datenautobahn in den Wissenskapitalismus

In den 1970er-Jahren wurde der Diskurs über die „Informationsgesellschaft“ in konkrete Politik übersetzt, insofern er die Umstrukturierung des öffentlichen Dienstes legitimieren half. Im Gefolge der ersten Ölkrise (1973) entstanden Szenarien, die den Ausstieg der großen Industrieländer aus den öffentlichen Dienstleistungen programmierten. In den 1980er-Jahren unterminierten Deregulierung und Privatisierung die Idee staatlicher Verwaltung. Die Jahre 1984/85 stellen dabei einen Wendepunkt dar. Von den USA ausgehend, erreichte die Schockwelle der Deregulierung der öffentlichen Telekommunikationsdienste zunächst Großbritannien unter der neoliberalen Regierung Margaret Thatcher und bald auch den Rest der Welt.

Das Ende des Kalten Krieges im Jahre 1989 und der Siegeszug des Internets seit 1994 machten die Informationstechnologie zum zentralen Bestandteil US-amerikanischer Pläne, die auf eine globale Hegemonie zielen. Die Geostrategen erklärten, die neue Technologie ermögliche Revolutionen in den drei Bereichen Militär, Diplomatie und Wirtschaft: Die Kontrolle der Netze (global information dominance) bestimme die neuen Formen der Kriegführung („sauberer Krieg“) ebenso wie die neuen Strategien zur Anbindung aller Nationen an den Weltmarkt.

Auf ihrem Brüsseler Gipfel von 1995 adoptierten die G-7-Mächte den Begriff der „globalen Informationsgesellschaft“. Sie beschlossen „Datenautobahnen“ zur Durchsetzung einer „globalen Informationsinfrastruktur“, die „der gesamten Menschheit nutzt“, wie es in einer messianisch anmutenden Rede des damaligen US-Vizepräsidenten Al Gore hieß. Erst im Jahre 2001 entdeckte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den „digital divide“ (die digitale Kluft zwischen den Menschen mit und ohne Internetzugang) und forderte eine entsprechende Studie, die ausdrücklich die gesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien thematisieren sollte. Zuvor hatte bereits der G-8-Gipfel von Okinawa im Jahr 2000 die Einsetzung der Expertengruppe „dot force“ beschlossen und eine „Charta über die globale Informationsgesellschaft“ verabschiedet.

Der Begriff und das Projekt der „Informationsgesellschaft“ bekamen damit den Nimbus „historischer Evidenz“, ohne dass die Bürger je Gelegenheit gehabt hätten, ihr Recht auf eine echte öffentliche Diskussion über diese Entwicklung auszuüben.

Zu Beginn dieses Jahrtausends wurden die Karten jedoch neu gemischt. Das gilt vor allem für drei Entwicklungen. Erstens entdeckte man ein neu entstandenes „Cognitariat“, das neue Proletariat des „Wissenskapitalismus“.4 Zweitens stellte der globale Kampf gegen den Terrorismus die Technikgläubigkeit stark in Frage, und zwar zuallererst auf militärischem Gebiet. Die Idee einer vom immateriellen Rohstoff Information gesteuerten Globalisierung wird unhaltbar angesichts der Wiederentdeckung langfristiger geopolitischer Interessen, wobei die Kontrolle über die Energievorräte eine wichtige Rolle spielt. Das ewige Lied vom Ende des staatlichen Einflusses, des Nationalstaats und seiner Hoheitsrechte, verliert damit an Glaubwürdigkeit.

Die obsessive Sorge um unser aller Sicherheit verweist auf die Schattenseite der Omnipräsenz von Informationstechnologien: die Überwachung. Die Annahmen, auf denen das Konzept einer globalen Hegemonie und damit des neuen Universalismus beruhte, sind hinfällig geworden. Stattdessen tritt die Gewalt als zentrales Werkzeug der globalen wirtschaftlichen Integration in den Vordergrund: shaping the world, die Welt formen, wie das in der Sprache der Strategen heißt. Die von der „Netzpolitik“ abgeleitete soft power wird durch die Rückkehr einer Politik der harten Hand verdrängt.

Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung haben sich die USA zur Kontrollmacht der globalen Finanz-, Verkehrs- und Informationsströme aufgeschwungen. Beim Weltinformationsgipfel von 2005 lehnten sie daher jede Reform der bestehenden „Internetregierung“ strikt ab.

Das Internet wird von der Icann (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) verwaltet, die mit einem Sonderstatut (als gemeinnützige Gesellschaft kalifornischen Rechts) den Zugang zu allen Web-Domains kontrolliert und nationale wie funktionsabhängige Adressen (.com, .org, .gov, .edu und so weiter) vergibt. In letzter Instanz untersteht diese Organisation dem US-Wirtschaftsministerium. Die große, von ganz unterschiedlichen Interessen getragene Koalition zwischen den Regierungen des Südens und der Europäischen Gemeinschaft konnte den Grundsatz der Netzkontrolle durch die USA nicht infrage stellen, da Letztere auf ihrer Doktrin der globalen Kontrolle der Information beharren.

Die dritte neue Entwicklung besteht darin, dass Wissenschaftler, Kulturschaffende und zivilgesellschaftliche Organisationen begonnen haben, den neuen immateriellen Rohstoff Information dem Zugriff der herrschenden Doktrinen und Strategien zu entwinden. Die grundlegenden Unterschiede treten inzwischen klar zutage: Auf der einen Seite steht das plurale Projekt einer „Wissensgesellschaft“ von und für alle, das sowohl den Austausch wie die Produktion von Wissen umfasst, auf der anderen Seite das abstrakte, einseitige Konzept einer „globalen Informationsgesellschaft“, das die Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kulturen und Ökonomien unterschlägt.

Die Kritik an der Marktlogik, die einen Schutz der geistigen Eigentumsrechte fordert, geht von zwei Prinzipien aus. Das erste formuliert die (noch in ihren Anfängen steckende) Theorie der öffentlichen Güter. Diese Güter umfassen nicht nur Kultur, Information, Wissen und Bildung, sondern auch Gesundheit, Umwelt, Wasser, Radiofrequenzen und so weiter, also alle Bereiche, die von den Gesetzen des freien Markts ausgenommen sind.

Es handelt sich um Güter, auf die Menschen und Völker ein Anrecht haben, die in Freiheit und Gleichheit hergestellt und verteilt werden sollen, die definieren, was der öffentliche Dienst leisten muss – ganz gleich, wie die Statuten der Firmen aussehen, die diese Aufgabe erfüllen. Die universellen Menschen- und Umweltrechte sind ihr Gesetz, ihre Garanten sind die international anerkannten Institutionen, die Demokratie ist ihre ständige Herausforderung und ihr Ursprung sind die sozialen Bewegungen.5

Das zweite Prinzip ist das „Grundrecht auf Kommunikation“. Damit wird – Ironie der Geschichte – ein Konzept von 1969 wiederbelebt. Jean d’Arcy, der damalige Leiter der Radio- und Fernsehabteilung beim Informationsdienst der Vereinten Nationen (UNIS), hatte es zu der Zeit entworfen, als gerade in der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) die Diskussion um Informationsfreiheit begann. In einem Artikel, der in der Publikation der Union européenne de radiodiffusion (UER) erschien, erklärte Jean d’Arcy damals: „Die universelle Erklärung der Menschenrechte, die vor 21 Jahren zum ersten Mal im Artikel 19 das Recht des Menschen auf Information erwähnte, wird eines Tages ein weitergehendes Recht anerkennen müssen: das Recht des Menschen auf Kommunikation. (…) Denn heute wissen die Völker – und wenn sie schwerer zu regieren sind, dann ist dies vielleicht der Grund –, dass die Werkzeuge zur Verständigung, Information und Beteiligung, die man ihnen anbietet, der heutigen Welt und ihrem technischen Fortschritt nicht mehr angemessen sind.“6

Im Laufe der 1970er-Jahre gelangte die Unesco zu der Überzeugung, dass das vertikale Modell eines einseitigen Informationsflusses veraltet sei, und kritisierte die hierarchische Kommunikation von den Eliten an die Massen, des Zentrums an die Peripherie, der (kommunikativ) Reichen an die Armen. Mit Beginn der 1980er-Jahre drängte die Deregulierung dieses noch nicht ausgereifte Konzept eines „Grundrechts auf Kommunikation“ zurück. Doch seit 2001 stehen seine vier Schlüsselbegriffe – Vielfalt, Freiheit, Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten – im Zentrum der Diskussionen zur kulturellen und medialen Vielfalt, die von den sozialen Bewegungen eröffnet wurden. Das ist es, worum es heute geht.

Fußnoten:

1 Armand Mattelart, „Kleine Geschichte der Informationsgesellschaft“, Berlin (Avinus-Verlag) 2003, und ders., „Diversité culturelle et mondialisation“, Paris (La Découverte) 2007. 2 In Borges Erzählung „Das Sandbuch“ organisiert Don Alejandro Glencoe einen Kongress, „in dem alle Menschen aller Länder vertreten wären“; in seinem Essay „Die analytische Sprache John Wilkins‘ “ geht es um die Konstruktion einer idealen Sprache. 3 Zbigniew Brzezinski, „Between Two Ages. America’s Role in the Technotronic Era“, New York (Viking Press) 1969. 4 Geert Lovink, „Dark Fiber. Auf den Spuren einer kritischen Internet-Kultur“, Opladen (Leske & Budrich) 2004, 1. Ausgabe, Wien (Triton) 2002. 5 www.bpem.org. 6 Jean d’Arcy, „Direct Broadcast Satellites and the Right to Communicate“ (1969), in: L. S. Harms (Hg.), „The Right to Communicate. Collected Papers“, Honolulu (University of Hawaii Press) 1977.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Armand Mattelart lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Paris VIII. In deutscher Übersetzung erschien unter anderem sein Buch: „Kultur und Globalisierung. Marktmacht gegen Vielfalt“, Zürich (Rotpunktverlag) 2006.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Armand Mattelart