Ist Gordon Brown der letzte Brite?
von Neal Ascherson
Gordon Brown hat es geschafft. Seit dem 27. Juni ist er britischer Premierminister. Der Charmeur Tony Blair mit seiner hektischen, leicht anbiedernden Eloquenz ist von den Bildschirmen verschwunden. Stattdessen nun das kantige Gesicht eines Mannes, der Übertreibungen und Effekthascherei hasst. Und im Radio die ernste schottische Stimme, die nicht imponieren, sondern etwas erklären will.
Kurz nach seinem Amtsantritt hielt der neue Premier vor dem Unterhaus eine lange Rede über eine Verfassungsreform. Die meisten Reformschritte, die er vorschlug, betreffen kleine demokratische Korrekturen des antiquierten britischen Regierungssystems. Aber Brown will mehr, nämlich eine öffentliche Diskussion über die Grundrechte und -pflichten der Bürger, ja sogar über eine geschriebene Verfassung.
Das bedeutet nun keineswegs, dass Brown dem Vereinigten Königreich ein „Grundgesetz“ bescheren will, dem selbst das Parlament zu gehorchen hätte – was für britische Verhältnisse eine echte Revolution wäre. Sein Ziel ist vielmehr ein neuer britischer Patriotismus, der Engländer, Schotten und Waliser, Bürger afrokaribischer und asiatischer Abstammung, Muslime, Christen und andere Glaubensrichtungen vereinen soll. Als Fundament dieses Patriotismus sieht er die Loyalität gegenüber den britischen Institutionen und vor allem gegenüber „britischen Werten“.
Brown hat sich dafür einen merkwürdigen Zeitpunkt ausgesucht. Denn der multinationale Staat namens „Vereinigtes Königreich“ zeigt derzeit erste Anzeichen von Desintegration. Seit gut drei Monaten wird die Regionalregierung in Edinburgh von der Scottish National Party (SNP) gestellt, die am 3. Mai die Wahlen zum schottischen Parlament knapp gewinnen konnte. Im walisischen Parlament hat sich die Labour Party zähneknirschend zu einer Koalition mit der Plaid Dymru, der Partei der Waliser Nationalisten, bereitgefunden.
So mancher Engländer will jetzt ein eigenes Parlament
Und in England artikuliert sich ein wachsendes Unbehagen über die gesamte Verfassungsstruktur des neuen, dezentralisierten Großbritannien. Da hört man Fragen wie: Warum haben wir kein englisches Parlament? Warum dürfen die schottischen Unterhausabgeordneten über englische Belange abstimmen? Und wieso kann der in einem schottischen Wahlkreis gewählte Schotte Gordon Brown überhaupt britischer Premierminister werden?
Die Londoner Medien bringen derzeit drei Behauptungen unter die Leute: Erstens breiten sich angeblich die Ressentiments der Engländer gegen die Schotten rasant aus. Zweitens müsse der schwindende Stolz auf die britische Nation und britische Werte wiederhergestellt werden. Und drittens würden immer mehr Menschen damit rechnen, dass die Schotten früher oder später aus dem Staatsgebilde ausscheiden, das sich immer noch „United Kingdom“ nennt.
Beginnen wir mit der Scotophobie. Seit letztem Jahr muss jeder vernünftige Schotte angesichts der Londoner Presse und Fernsehsendungen zu dem Schluss kommen, im Süden Britanniens habe die Abneigung gegen Schottland und die Schotten ein Ausmaß erreicht, wie es zuletzt im 18. Jahrhundert herrschte. Etliche der journalistischen Machwerke waren unfassbar perfide und ignorant. So konnte man im Daily Telegraph lesen, bis vor kurzem habe ein englischer Wähler bei Gordon Browns Akzent automatisch gedacht: Aha, Labour! Heute komme ihm sofort der Gedanke: Ha, ein Schotte! Und warum? Weil die „einseitige Dezentralisierung“ den Eindruck verstärkt habe, dass die Schotten „ihr Stück vom Kuchen behalten und es gleichzeitig verdrücken würden“.
Andere Londoner Zeitungen entdeckten eine schottische Mafia, die in Blairs Kabinett den Ton angegeben haben soll. Diese schottischen Minister hätten Dinge beschlossen, die den Engländern verhasst sind – etwa die Gebühren für höhere Schulen (die Brown neuerdings übrigens reduzieren will). Im Übrigen werfe man den Schotten das Geld der englischen Steuerzahler hinterher – kein Wunder, dass die immer noch mehr verlangen.
Auf der Website des Daily Telegraph wird deutlich, dass die antischottischen Ressentiments eng mit dem Hass auf die Europäische Union verwoben sind. Hier sieht man die Beendigung der älteren Union, des United Kingdom, als Voraussetzung für den Ausstieg aus der jüngeren, der EU: „Höchste Zeit, die Union von 1707 aufzulösen. Sollen die Schotten dem Euro nachlaufen und sich bei den Franzosen anbiedern, um noch mehr Subventionen abzukassieren – dann kann sich England endlich auf seine wahre Bestimmung konzentrieren …“ Einige konservative Parlamentarier und ihre Kumpane von den Meinungsseiten sehen sogar das parlamentarische Regierungssystem geschändet, weil ihr neuer Premier einen schottischen Wahlkreis vertritt.
Reflektieren solche publizistischen Ausfälle tatsächlich die Vorstellungen, die man in England von Schottland und den Schotten hegt? Ich glaube nicht. Die Menschen im Süden begegneten den Schotten in den letzten hundert Jahren zwar mit leichter Skepsis – sie gelten als „langweilig, humorlos, verschlossen“ –, aber insgesamt eher wohlwollend. Die meisten Engländer haben inzwischen sogar Verständnis für gewisse schottische Empfindlichkeiten. Die Zeiten jedenfalls, da man im Süden von den schottischen Highlands als dem „schönsten Teil Englands“ sprechen konnte, sind lange vorbei. Und laut Umfragen haben die meisten Engländer zur schottischen Unabhängigkeit seit den 1970er-Jahren die Einstellung: „Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben, täte uns die Trennung leid, aber wenn sie auf ihrer Unabhängigkeit bestehen, ist das ihr gutes Recht.“
Das jüngste Aufflackern der Scotophobie war also zunächst kaum mehr als eine Medienkampagne der Konservativen. Die Motive waren allzu durchsichtig: Das im Sommer 2006 eröffnete Sperrfeuer zielte eindeutig auf Gordon Brown. Man wollte den künftigen Widersacher der Konservativen zur Strecke bringen, bevor er in Downing Street number 10 einziehen konnte. Aber die ständigen antischottischen Frotzeleien taten ihre Wirkung. Als der Glasgower Journalist Ian MacWhirter auf der Website des linksliberalen Guardian den Versuch unternahm, die grundlegenden politischen und finanziellen Fakten zur schottischen Frage darzulegen, hagelte es über 1 300 zornige bis beleidigende Briefe und Mails mit den üblichen Klagen: Die Schotten jammern, während sie unser Geld einsacken, sie missbrauchen unser parlamentarisches System, und sie wollen in England an die Macht.
Das Interessanteste an diesen Mails war allerdings, dass nur vereinzelte Schreiber das Ende der Union mit Schottland forderten. Was wie Scotophobie erscheint, ist in Wahrheit Anglophilie: Es geht weniger um Schottland als um den Zustand Großbritanniens. Die antischottische Kampagne hat bei den Engländern den Hang zu nationalen Wehklagen verstärkt und die Entstehung eines englischen Nationalbewusstseins beschleunigt, das sich kulturell und politisch erstmals vor gut zehn Jahren bemerkbar machte.
War diese Wirkung von der neuen Führung der Konservativen beabsichtigt? Schwer zu sagen. Gewiss können die Tories mit der Forderung, die schottischen Mitglieder des Unterhauses sollten bei englischen Angelegenheiten nicht mitstimmen dürfen, südlich des Hadrianwalls kurzfristig ein paar Stimmen gewinnen. Und langfristig wäre der Gewinn, den die Konservative Partei mit der Vertreibung der Schotten aus der britischen Politik verbuchen würde, sogar enorm, weshalb das für viele Tory-Abgeordnete eine durchaus verführerische Idee wäre.
Seit den Wahlen von 2005 verfügt die Labour Party im Unterhaus über 286 von 529 Sitzen – eine klare Mehrheit. Doch dieses Wahlergebnis, das auf dem reinen Mehrheitswahlrecht beruht, verdeckt die Tatsache, dass die Konservative Partei mehr englische Stimmen gewonnen hat als Labour. Ein mögliches Comeback bei den nächsten Wahlen könnte den Tories eine fast unangreifbare Dominanz über die englische Politik bescheren – vorausgesetzt, es gäbe keine schottischen Parlamentarier mehr, die ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Das klingt verführerisch, aber welcher Konservative würde es wagen, daraus praktische Politik zu machen? Die Frage: „Wünschen Sie die Auflösung Großbritanniens“? wird in den nächsten Jahren gewiss noch nicht von einer Mehrheit bejaht werden.1
In dem Film „Monty Python und der Heilige Gral“ reitet König Arthur auf eine völlig verdreckte Bauersfrau zu und teilt ihr mit: „Ich bin der König der Briten.“ Fragt die Frau: „König von wem? Wer sind diese Briten?“ Antwortet der König leicht irritiert: „Wir sind alle Briten!“ Demnächst könnte es so weit sein, dass wir alle wie diese Bauersfrau sind, denn das Wort „Britain“ verliert ständig an Überzeugungskraft. Die jüngste Studie über „British Social Attitudes“ zeigt, dass sich 2005 im Vergleich zu 1995 rund 8 Prozent weniger Engländer als Briten fühlen, dagegen 9 Prozent mehr sich vorwiegend als Engländer sehen.2 Inzwischen empfindet nur noch eine Minderheit der englischen Bevölkerung eine britische Identität.
Die Rückkehr des englischen Nationalismus zeigte sich erstmals vor zehn Jahren. Während der „Diana-Woche“ wurde das Zentrum von London zu einem Meer von rot-weißen englischen Fahnen. Der Union Jack war dagegen kaum zu sehen. Heute ist das rote Georgskreuz auf weißem Grund für Millionen englischer Familien die „Flagge des Herzens“, ein Symbol der Zugehörigkeit, das weit über die Fußballstadien hinaus Verbreitung findet.3 Die Zukunft dieses partikularen Nationalismus wird sich daran entscheiden, ob er in der englischen Mittelklasse und bei den Selbstständigen eine ernsthafte und wirksame Führungsgruppe findet. Und ob er sich von einem „ethnisch“ beschränkten Gefühl dumpfer Fremdenfeindlichkeit zu einem „zivileren“, emanzipatorischen Reformprojekt entwickeln kann. Das sind wichtige Fragen, denen die Brown-Regierung ausweicht. Was nicht weiter verwundert, denn das aufs Englische verengte Bewusstsein stellt die Britishness genau in dem Moment infrage, da Gordon Brown auf deren Vertiefung setzt. Unter den Engländern wächst dennoch die Überzeugung, dass die Struktur des Vereinigten Königreichs sie, obwohl sie 90 Prozent der britischen Bevölkerung ausmachen, zu Opfern und Verlierern dieses Staatsgebildes macht.
Natürlich bieten sich hier historische Parallelen an. Man denke etwa an die späte Habsburger Monarchie, in der die imperiale Kerngruppe – die deutschsprachigen Bewohner des heutigen Österreichs – angesichts des wachsenden Nationalismus ihre Identität zu verlieren begann. Robert Musil hat diesen Prozess glänzend beschrieben: Die Tschechen wussten, dass sie Tschechen, die Ungarn, dass sie Ungarn innerhalb der Doppelmonarchie waren, aber die Österreicher waren nur – ja was eigentlich? Habsburger? Ich musste an Musil denken, als ich kürzlich im offiziellen Report über „Diversity and Citizenship“ folgende Episode las: Ein dreijähriges Mädchen, das einzige englische Kind in seiner Vorschulklasse, sagte zum Autor der Studie, nachdem alle anderen Kinder über ihre Herkunft gesprochen hatten, mit verzagter Stimme: „I come from nowhere.“4
Aber natürlich gibt es auch Unterschiede. Im Habsburger Reich waren die Deutschen die Minderheit, im Vereinigten Königreich dagegen sind die Engländer die überwältigende Mehrheit. Und ethnisch war die Donaumonarchie ein so merkwürdiger Flickenteppich, dass der Unterschied zwischen Nation und Staat allen klar war. Auch Iren, Schotten und Waliser können diese beiden Ebenen seit einiger Zeit problemlos auseinanderhalten. Die meisten Engländer dagegen haben den Unterschied bis heute nicht begriffen. Erst seit etwa zehn Jahren trifft man im Londoner Regierungsviertel Leute an, die das Vereinigte Königreich als „multinationalen Staat“ bezeichnen.
Dieses begriffliche Durcheinander ist typisch. Historisch war es aber keineswegs eine englische Eigenheit: Im 18. und 19. Jahrhundert stellten sich erfolgreiche Schotten außerhalb des Königreichs gern als Engländer vor und waren durchaus nicht empört, wenn die Leute im Süden von England sprachen, wenn sie die ganze Insel meinten. Erst Ende des 20. Jahrhunderts begannen Beamte und Pädagogen darauf hinzuwirken, dass sich die Menschen in England höflicherweise als „britisch“ bezeichneten, um die Waliser und Schotten nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Engländer, die sich daran hielten, erlebten dann häufig, wie sich Schotten und Waliser nach wie vor Engländer nannten und nicht verstanden, was das Getue um „Britishness“ sollte.
Was als Akt politischer Korrektheit gedacht war, verbrämte also letztlich nur, dass die Engländer dank ihrer zahlenmäßigen und materiellen Überlegenheit im Vereinigten Königreich noch immer das Sagen haben. Und so konnte es nicht ausbleiben, dass die dominante Gruppe sich zu widersetzen begann: Was wollten all diese Eierköpfe, Eurokraten und schottischen Postenjäger, die uns vorschreiben wollen, wer wir sind und wie wir in unserem eigenen Land zu denken haben? Warum sollen wir, die Mehrheit, uns Leuten unterordnen, die unsere Steuergelder ausgeben, ohne von uns gewählt zu sein? Können nicht auch wir unser eigenes Parlament haben?
Dass die Engländer aggressiv auf ihre „angestammten Rechte“ pochen, ist die subtilste Bedrohung für die Machtstruktur des Vereinigten Königreichs. Die Britishness-Kampagne soll dieser Bedrohung entgegenwirken. Doch das wird kaum gelingen. Offenbar gibt es immer noch zu wenig Leute, die das Fazit der Historikerin Linda Colley zur Kenntnis nehmen: „Britishness entstand als überwölbende Ideologie, die eine Reihe interner Differenzen kitten musste, wann immer es zu Kontakten – und Konflikten – mit ‚dem Anderen‘ kam“. Wobei dieses „Andere“ zunächst das katholische und später das republikanische Frankreich war. Britishness funktioniert also immer dann, wenn die Nationen des Vereinigten Königreichs sich einer gemeinsamen Bedrohung oder Herausforderung von außen gegenübersehen, also in einem Krieg oder bei einem kolonialen Unternehmen wie zum Beispiel dem in Britisch-Indien. Aber müssen solche Herausforderungen immer von außen kommen? Könnte ein Bedürfnis nach Britishness auch als Reaktion auf eine innere Krise entstehen – zum Beispiel als unwiderstehlicher Ruf nach sozialer Gerechtigkeit?
Als Finanzminister in der Blair-Regierung hatte Gordon Brown anfangs versucht, die leeren New-Labour-Parolen über die „Einheit“ des Landes mit etwas Substanz anzureichern. Eines seiner „patriotischen“ Projekte war das staatliche Gesundheitssystem. Für Brown war der National Health Service (NHS) ein großes moralisches Reformprojekt im Namen von Fairness und Gerechtigkeit, auf das alle Bewohner des Vereinigten Königreichs stolz sein und für dessen Erhaltung sie kämpfen sollten. Es war die eindrucksvollste, weil subversivste Idee, die Brown je formuliert hat. Ein Patriotismus, der sich an einem Reformprojekt festmacht, das dem Volk zugutekommen soll, ist ein republikanisches Konzept – und kein klassisch britisches.
Doch seitdem ist Brown in Sachen Britishness auf den Mainstream eingeschwenkt. 2006 lobte er in einem Interview mit dem konservativen Daily Telegraph den Patriotismus von Margaret Thatcher und Winston Churchill. Und dann rühmte er als etwas spezifisch Britisches – jenseits universaler Werte – „die Verquickung von Freiheit mit gesellschaftlicher Verantwortung und mit dem Glauben an das, was Churchill ‚fair play‘ nannte“. Das klingt hübsch, aber nicht solide genug, um einen neuen Patriotismus zu tragen.
Auch Jack Straw, langjähriger Außenminister unter Blair und jetzt Browns Justizminister, beschwört für Großbritannien so allgemeine Prinzipien wie Freiheit, Fairness, Toleranz und Pluralität. Aber würden das die Norweger anders definieren oder die Slowenen? Auch der offizielle Bericht „Diversity and Citizenship“, der für Schüler zwischen 11 und 16 Jahren einen obligatorischen Unterricht über britische Werte empfahl, stellt den Respekt für andere Kulturen, die Tolerierung unterschiedlicher Religionen und Diskussionen über Freiheit und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Was die Times zu dem empörten Kommentar veranlasste: „Was immer ‚Britishness‘ beinhaltet, ganz sicher ist es nicht der Mischmasch, der hier vorgeschlagen wird.“
Dieser Mischmasch entspricht allerdings genau dem Mischmasch in den Köpfen Briten. In der oben zitierten Untersuchung über „British Social Attitudes“ wusste kaum jemand zu sagen, was die erfragten britischen Werte denn sein mochten. Auf die Frage, welche Institutionen für die britische Identität am wichtigsten seien, nannten die Leute am häufigsten die Monarchie und das Schöffengericht; die Redefreiheit schien ihnen nicht so bedeutsam, und auch das Regierungssystem imponierte ihnen nicht besonders.
All das lässt sich unterschiedlich interpretieren. Auffällig ist jedoch, dass in keiner der Aussagen über britische Werte die „Gleichheit“ auftaucht. Die Befragten haben „Pluralität“ und „Fair Play“ im Kopf, nicht aber die Gleichheit, die für die radikalen Denker im England des 17. Jahrhunderts, aber auch für die britische Arbeiterbewegung der 1920er-Jahre noch von enormer Bedeutung war.
Was sind nun aber die sogenannten britischen Werte, und wo kommen sie her? In der Rezension eines Buchs über den englischen Nationalcharakter schreibt Rafael Behr: „Die Viktorianer blickten leicht verächtlich auf den europäischen Nationalismus herab; der roch für sie nach Bauern, Heugabeln und Revolutionären in verdreckten Hosen. Sie wollten nicht nur irgendeine Nation sein, deshalb reklamierten sie für sich den höheren Status einer ‚Zivilisation‘.“ Für Behr sind viele der Eigenschaften, die heute als „britisch“ gelten, in Wahrheit viktorianisch.5
Wenn aber die sogenannten britischen Werte lediglich das Wertesystem einer gesellschaftlichen Klasse in einer bestimmten Epoche repräsentieren, wie schafft man es dann, sie als „nationale“ darzustellen? Oder war vielleicht die viktorianische Bourgeoisie eine Art Nation für sich, eine weitgehend uniforme, über das britische Territorium verstreut lebende Schicht, die sich deutlich abhob vom Rest der Bevölkerung? Gibt es also ein Wesen namens Homo britannicus, das womöglich irgendwo tief in den Wäldern bis heute überlebt hat.
Ein Mensch wird als Däne oder Waliser identifizierbar, wenn er Bindungen zu einem Ort unterhält, den er als seine Heimat anerkennt. Zu dieser geografischen tritt stets eine kulturelle Komponente hinzu, also Merkmale, die die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft als mehr oder weniger gemeinsame identifizieren. Das können äußerliche und physische Attribute sein – eine spezielle Tracht oder Jagdausrüstung –, oder sprachliche Eigenheiten, Essensgewohnheiten oder Tabus, aber auch typische Formen der sozialen Interaktion und der Gunstbezeugung. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ist weitgehend durch Geburt und Familienstammbaum festgelegt, doch in der Praxis bewahrt die Gruppe ihre Vitalität über einen permanenten Prozess der Blutauffrischung durch kulturelle Assimilation von Außenseitern.
Der Gentleman als klassischer Brite
Die Rede ist – vielleicht hat der Leser es schon gemerkt – vom britischen Gentleman. Im Lauf des 19. Jahrhunderts produzierten die britischen Privatschulen eine Führungselite, die sich durch eine gemeinsame Kultur auszeichnete. Diese Kultur imitierte anfangs die Umgangsformen des englischen Landadels, getragen wurde sie später jedoch vor allem von Kindern aufsteigender Industriellen- und Bankerfamilien. Der ganze Mechanismus ist gut erforscht; doch für uns ist es wichtig, zu klären, wie die kulturelle Identität dieser Gruppe ihre lokalen Besonderheiten hinter sich lassen konnte.
Bis vor kurzem war es wahrscheinlich, dass der Wanderer – egal ob im äußersten Südwesten von Cornwall oder an der Nordostspitze Schottlands unterwegs – mit demselben höflichen „Can I help you?“ angesprochen wurde. Der landbesitzende Gentleman, der sich mit der finstersten Drohung der englischen Sprache gegen den Eindringling verwahrt, mochte MacGregor, Griffiths, Penhaligon oder Smith heißen. Doch der Ton seiner Ermahnung verwies unverkennbar auf den Public-School-Absolventen, egal ob sein Großvater noch mit gälischem, walisischem oder Yorkshire-Akzent gesprochen hatte. Seine Kleidung, seine Esskultur, die Art, sein Gewehr zu tragen und seine Hunde anzuherrschen, die Frisur seiner Frau, seine Zeitungslektüre, all das waren ortsübergreifende kulturelle Merkmale einer universalen Klasse, in der das schottische oder das irische Element wie auch der familiäre Hintergrund einer Grundbesitzer- oder Händlertradition in einer höheren hegelschen Synthese aufgehoben waren – in jenem globalen, aus zahllosen Rassen und Sprachen und Sitten zusammengesetzte Empire, dem der besagte Gentleman oder seine Anverwandten als Offiziere oder Gouverneure dienten.
Wenn unser Wanderer aber die naheliegende Gegenfrage stellte „Where are you from?“, traf ihn die tiefe Verachtung seines Gegenübers. Denn ein universaler Gentleman „kommt“ nicht aus irgendeinem Ort. Er mag ein Stadthaus und ein Landhaus besitzen, aber deshalb kommt er nicht aus London oder aus dem nahen Landstädtchen. Nein, ein Gentleman ist. Das genügt ihm völlig – anders als dem kleinen englischen Mädchen, das nicht von „nirgendwoher“ sein wollte.
Wie sollte man diese Gentleman-Kultur bezeichnen, wenn nicht als „britisch“? Und doch ist sie durchaus nichts Einmaliges. Die meisten multinationalen Reiche haben Ähnliches hervorgebracht. Die Sowjetunion existierte nur siebzig Jahre, aber sie schuf massenhaft den Homo sovieticus: Von der Ostsee bis zum Pazifik saßen Frauen und Männer europäischen, kaukasischen, türkischen oder mongolischen Aussehens in denselben Büros, unter den Porträts derselben Autokraten, schlürften Tee aus Einheitsteegläsern, rauchten die gleichen Zigaretten, griffen zum gleichen schwarzen Telefonhörer und sagten mit der gleichen tonlosen Stimme: Njet. Auch sie hatten die Unterschiede ihrer ethnischen und familiären Herkunft in die Universalität eines Großreichs überführt. Nur dass der Homo sovieticus als geistloser Roboter verachtet wurde, während der Homo britannicus als Wesen mit leidlich fairem Verhalten und willkürlichen Anfällen von Großzügigkeit in Erinnerung blieb.
Ist diese Spezies ausgestorben? Nein, aber sie ist bedroht, seit die Eton-Zöglinge angefangen haben, mit einem lokalen Akzent – dem des englischen Südostens – zu sprechen. Und sie stellt schon längst nicht mehr die geborene Herrschaftsklasse. Mit dem Rückzug des Homo britannicus verschwindet freilich der letzte lebende Beweis dafür, dass „britisch“ nicht nur eine Staatsangehörigkeit bezeichnet, sondern eine Zeit lang auch eine greifbare, vollkommen distinkte Kultur darstellte – man könnte fast sagen: eine transnationale Nationalität.
Wir sprechen hier von einem Land, in dem die reichste und mächtigste Bevölkerungsgruppe sich in ihrem Verhältnis zu den anderen Nationen des multinationalen Staats immer unbehaglicher fühlt. Diese anderen Nationen dringen zwar auf mehr Autonomie und einen größeren Anteil an den staatlichen Reichtümern. Doch trotz einiger erstaunlicher Meinungsumfragen ist es nach wie vor wenig wahrscheinlich, dass diese anderen Nationen schon bereit sein könnten, per Referendum die Auflösung dieses Staats anzustreben.
Diese Beschreibung passt auch auf ein anderes multinationales Land: auf die Tschechoslowakei des Jahres 1992. Und das sollte uns zu denken geben. Könnte es sein, dass die Frage, ob die Schotten ihren Auszug aus dem Vereinigten Königreich vorbereiten, falsch gestellt ist? Vielleicht ist es viel realistischer, uns auf die Geschichte der „samtenen Scheidung“ zu besinnen, die von den Tschechen und Slowaken 1992 vollzogen wurde.
Wenn sich ein Londoner die schottische Unabhängigkeit vorstellt, mag er sich ausmalen, wie eine halbe Million Bravehearts in Edinburgh auf die Straße gehen und „Freiheit“ brüllen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich London und Edinburgh über Geld und bestimmte Sonderrechte in die Haare geraten, womit der schwache Dezentralisierungsmechanismus zum Stillstand käme. Dann könnten die Politiker in London die Geduld verlieren und den Schotten nahelegen, doch ihren eigenen Staat aufzumachen, statt dauernd weitere Gelder von ihnen abzustauben.
Am Beispiel der Tschechoslowakei
Somit könnten die institutionellen Mängel ihre eigene, nämlich am Ende separatistische Logik entfalten, was dem einen oder anderen Londoner Politiker gerade zupasskäme. Ein genauerer Blick auf das Beispiel Tschechoslowakei wäre hier sehr lehrreich. Nachdem der Kommunismus 1989 zusammengebrochen war, meldete sich der slowakische Nationalismus zurück, der allerdings in erster Linie auf größere Autonomie und nicht auf die volle Unabhängigkeit zielte. Doch mittlerweile hatte die Öffentlichkeit in beiden Ländern eine Skepsis gegenüber den föderativen Regierungsstrukturen entwickelt, die man nach der Invasion des Warschauer Pakts von 1968 noch einmal umgestaltet hatte. Die treibende Kraft, die auf die Teilung hinarbeitete, war jedoch der tschechische Politiker Vaclav Klaus.
Dieser clevere und ehrgeizige Neoliberale ging davon aus, dass die Bedürfnisse und Forderungen der Slowaken seinen Plänen innerhalb einer Föderation immer in die Quere kommen würden. In einem unabhängigen tschechischen Staat dagegen würde er relativ frei agieren können. Sein Problem war, dass weder die Tschechen noch die Slowaken ihre Föderation auflösen wollten. Sie wollten nur eine bessere, da sie mit den alten Strukturen unzufrieden waren.
Bis Ende 1992 hatte Klaus es geschafft, beide Seiten zu einer Reihe unannehmbarer Vorschläge zu provozieren, die zur Trennung führen mussten, an der dem Anschein nach die unnachgiebigen slowakischen Nationalisten schuld waren. Seinen Partner für den letzten Tango fand der Tscheche in dem Slowaken Vladimir Meciar, der ursprünglich keineswegs die Unabhängigkeit anstrebte, dann aber fast in jede der von Klaus gestellten Fallen tappte. „Es war“, schrieb damals Theodore Draper, „als hämmerte Meciar gegen die Haustür von Klaus, ohne sie wirklich einschlagen zu wollen, doch als Klaus die Tür aufmachte, war Meciar so überrascht, dass er über die Schwelle fiel.“ Und der Historiker Abby Imes kommt in seiner vorzüglichen Darstellung der „samtenen Scheidung“ zu dem Schluss: „Unerbittlich zur Trennung entschlossen waren die Tschechen und nicht etwa die Slowaken.“6
Beide Seiten erklärten die Verhandlungen über eine neue Föderation oder Konföderation für gescheitert. So blieb als einzige Lösung die Unabhängigkeit. Wobei sich beide Seiten skandalöserweise weigerten, ein Referendum über die slowakische Unabhängigkeit oder über die Auflösung der Föderation abzuhalten, denn sie wussten genau, dass sie die Abstimmungen verlieren würden. Am 1. Januar 1993 existierte die Tschechoslowakei nicht mehr.
Das lässt die üblichen Prognosen über das Schicksal der englisch-schottische Union in einem anderen Licht erscheinen. Die Parallelen zwischen der Geschichte der tschechisch-slowakischen Scheidung und den oben erörterten Fragen liegen auf der Hand. Und das alte Klaus-Meciar-Szenario könnte im heutigen Großbritannien mit neuer Besetzung wieder aufgelegt werden. Das erste Stadium ist schon absolviert, mit dem Versuch von Politikern und Journalisten, eine allgemeine Scotophobie zu entfachen. Der ging zwar schief, stärkte aber bei den Engländern das ethnische Identitätsgefühl und lenkte ihren Blick auf gewisse Konstruktionsfehler der Union. Im zweiten Stadium entstand beiderseits der Grenze eine Unzufriedenheit mit dem Dezentralisierungsabkommen von 1997. Seitdem sieht man in England die Union von 1707 nicht mehr als tragenden Pfeiler der parlamentarischen Demokratie.
Jetzt scheint ein drittes Stadium erreicht, in dem sich die Bindungskraft der Begriffe „Großbritannien“ und „britisch“ in dem Maße abschwächt, in dem sich auch in England eine Identitätspolitik entwickelt, die in Schottland und Wales bereits fest verwurzelt ist. Das „Britische“ als gemeinsame Kultur einer gesellschaftlichen und politischen Führungsgruppe ist heute kaum noch greifbar. Die Gentleman-Klasse ist von der politischen Bühne abgetreten, und der Versuch, die Ethik der viktorianischen Bourgeoisie als „britische Werte“ zu etikettieren, ist dafür nur ein schlechter Ersatz.
Das Großbritannien von heute und die Tschechoslowakei der 1990er-Jahre zeigen also verblüffende Ähnlichkeiten, aber natürlich sind beide Fälle nicht völlig identisch. Angesichts dessen stellt sich eine delikate Frage: Hat England einen Vaclav Klaus? Und steht er womöglich bereits an der Spitze einer Partei? Implizit kommt die Rolle von Klaus auf David Cameron zu. Aber noch zeigt der neue Führer der Konservativen noch nicht den Machthunger oder die politische Fantasie, die für diese Rolle nötig wären. Und doch entfalten sich im Vereinigten Königreich schon die ersten Voraussetzungen für das Szenario, das Klaus vor 15 Jahren mit der täppischen Beihilfe Meciars umgesetzt hat. Zum Beispiel sind seit Mai dieses Jahres in London und Edinburgh unterschiedliche Parteien an der Macht. Und in ein paar Jahren könnte es eine schottische SNP-Regierung mit einem britischen Premierminister namens David Cameron zu tun bekommen. Die Bühne für das Endspiel ist vorbereitet.
Fußnoten:
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Neal Ascherson lebt als Autor und Publizist in London. Auf Deutsch erschien zuletzt: „Schwarzes Meer“, Berlin (Berlin Verlag) 1996.
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