Somalias Agonie
von Glen Johnson
Die Gräber liegen auf einer Freifläche neben der von Schlaglöchern übersäten Straße am südlichen Ende von Mogadischu. Es sind kleine Gräber, vielleicht einen Meter lang, bedeckt von einem ovalen Haufen roter Erde, auf die man Wasser gesprenkelt hat, damit sie nicht verweht wird. Manche sind durch Buschwerk, Dornengestrüpp und Akazienzweige geschützt, die in die Erde gesteckt wurden, und von kleinen Steinen gesäumt. Keines trägt einen Namen.
In der Nähe lässt ein Kind einen Drachen steigen, den es aus einer roten Plastiktüte und Schnurresten gebastelt hat. Sein zerzauster Wuschelkopf bewegt sich entlang der Straße und verfolgt die vom Wind himmelwärts gewirbelte Tüte. Ein alter Mann namens Ali, der den behelfsmäßigen Friedhof bewacht, sagt, es gäbe dutzende solcher Gräber in der Umgebung, einzeln unter den Akazien versteckt oder in Gruppen auf anderen Lichtungen. Jeden Tag würden es mehr. „Es sind alles Kindergräber. Es sind vor allem Kinder, die hier sterben“, sagt er. „Es gibt noch mehr, aber ich weiß nicht, wo sie sind.“ Die Kinder sterben an Unterernährung oder an Durchfall, sagt Ali.
Die Toten kommen aus dem behelfsmäßig errichteten Lager Badbaado für Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons, IDP), direkt auf der anderen Straßenseite. Es besteht aus einer ständig größer werdenden, aber zusammengedrängten Ansammlung von Hütten aus Stofffetzen und Stücken von Zeltplanen, in der etwa 5 000 Familien untergekommen sind. Die meisten Leute im Lager sind auf der Suche nach Nahrung und Wasser aus Süd- und Zentralsomalia geflohen und schließlich in einem der vielen Lager in der Hauptstadt Mogadischu gestrandet. Jeden Tag sieht man Neuankömmlinge, die sich langsam in kleinen Grüppchen die kaputten Straßen Mogadischus entlangschleppen oder in den Ruinen kriegszerstörter Hausgerippe sitzen.
Somalia leidet unter einer katastrophalen Dürre. Die zweite Regenzeit (Deyr) von Oktober bis Dezember letzten Jahres hat kaum Niederschläge gebracht, und die erste Regenzeit (Gu) zwischen April und Juni ist weit unter dem Durchschnitt geblieben. Ernten fielen aus, das Vieh ging ein. Laut einem Bericht der Weltbank1 sind die Nahrungsmittelpreise in Somalia massiv gestiegen – in Mogadischu zahlt man für Sorghumhirse 180 Prozent und für Mais 107 Prozent mehr als letztes Jahr –, während die Treibstoffkosten angesichts der dauerhaft instabilen Lage im Nahen Osten unbeständig sind. Frühere Misswirtschaft, Abholzung zugunsten des boomenden Kohlenhandels, rasantes Bevölkerungswachstum, fortschreitende Urbanisierung und politische Unsicherheit haben zur Verschärfung der Krise beigetragen.2
Die Nahrungsmittelknappheit hat das Land völlig lahmgelegt. Etwa 3,7 Millionen Somalier bedürfen der Hilfe, und für 3,2 Millionen von ihnen geht es inzwischen um Leben und Tod. Hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen, die UN haben fünf Landesteile zu Hungergebieten erklärt. Prognosen gehen davon aus, dass sich die Hungersnot in den nächsten zwei Monaten über den gesamten Süden ausbreitet. Man schätzt, dass bereits 29 000 Kinder unter fünf Jahren gestorben sind.
Abdukhadir, ein Viehhirte aus Unter-Shabelle, erzählt mir, dass er nur wenige Habseligkeiten – einen Topf und einige Kleider – eingepackt habe, bevor er sich mit seiner Frau, seinen Kindern und einigen nahen Verwandten auf den einwöchigen Weg nach Mogadischu gemacht habe. Jetzt haben sie im Lager Badbaado ihre Zelte aufgeschlagen und warten, ohne zu wissen, worauf. „Alle Tiere sind gestorben, es gibt keine Tiere mehr. Menschen sind gestorben. Seit drei Jahren ist nichts mehr gewachsen.“ Und er fügt hinzu: „Al-Shabab hat uns nicht gehen lassen. Sie lassen keinen gehen. Ich habe gesagt, ich will zum nächsten Dorf, um Essen zu holen. Dann sind wir hierhergekommen.“
Seit seiner Ankunft in Mogadischu hat Abdukhadir kaum Verbesserungen der Lage bemerkt. Die Nahrungsmittel, über welche die sechs Ausgabestellen in Badbaado verfügen, reichen noch für etwa fünf Tage. Eine lokale NGO namens Humanitarian Initiative Just Relief Aid (Hijra) hat damit begonnen, im Lager eine sanitäre Infrastruktur aufzubauen und saubere Wasserlöcher zu bohren, aber substanzielle Hilfe ist noch nicht eingetroffen. Abdukhadir muss entscheiden, ob er ein anderes Flüchtlingslager suchen oder dort bleiben soll, wo es zumindest sauberes Wasser gibt. Während die internationalen Hilfsbemühungen langsam anlaufen, kann man Geschichten wie diese in Mogadischu an jeder Straßenecke hören.
Laut ersten Schätzungen werden rund 2,48 Milliarden US-Dollar benötigt, um die unmittelbaren Auswirkungen der Krise zu mildern. Doch Fachleute befürchten, dass Somalia gar nicht über die Möglichkeiten verfügt, die Hilfslieferungen an Nahrungs- und Arzneimitteln zu verteilen. Entsprechend wächst die Sorge vor den unbeabsichtigten Folgen, die die massive Einfuhr von Hilfsgütern haben könnte. William Reno, Professor für Politikwissenschaften an der Northwestern University (USA), ist der Ansicht, dass das Ausland sich nicht heraushalten, aber seine Rolle möglichst beschränken sollte. „Wann immer die internationale Gemeinschaft sich einmischt, hat dies alle möglichen perversen Effekte. Dies gilt insbesondere, wenn eine große Menge Geld fließt und von NGOs über undurchsichtige Kanäle verteilt wird. Das ist schon fast eine Aufforderung zur inneren Spaltung.“
Reno, der auf langjährige Erfahrung in vielen afrikanischen Ländern zurückblicken kann, verweist auf das Beispiel Südsudan: „Im Südsudan sieht sich die Southern Peoples’ Liberation Army (SPLA), eine ziemlich durchschnittliche, ehemals straff organisierte leninistische Befreiungsbewegung aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, seit 2005 mit gewaltigen Problemen konfrontiert, weil sie den Fluss an Ressourcen, die aus dem Ausland kommen, nicht mehr kontrollieren kann. Und an der Entstehung – oder vielmehr Wiederauferstehung – der regionalen Milizen kann man erkennen, dass NGOs dabei ein wichtige Rolle spielen. Das ist natürlich nicht ihre Absicht. Aber ein Teil der [von den Milizen] abgezweigten Ressourcen stammt von NGOs und aus staatlichen Hilfsprogrammen.“
Am 15. August meldete die New York Times, dass in Somalia humanitäre Hilfsgüter gestohlen würden.3 Laut Pieter Desloovere von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Nairobi stehen die Hilfsprojekte in Somalia vor zahlreichen Herausforderungen, vor allem was die Sicherheit betrifft, aber die Hilfsorganisationen „arbeiten daran, sicherzustellen, dass die Hilfe auch dort ankommt, wo sie gebraucht wird. […] [Somalische Staatsbürger] sind bei diesen Bemühungen an vorderster Front mit dabei.“
Die Hilfsanstrengungen werden durch die Sicherheitslage in Somalia extrem erschwert. In den frühen Morgenstunden des 6. August zog sich die islamistische Al-Shabab-Miliz nach einer längeren Offensive von Truppen der Übergangsregierung (TFG) und ugandischer und burundischer Amisom-Einheiten aus vielen Stadtteilen Mogadischus zurück. Mehrere strategische Stellungen der al-Shabab – der Bakara-Markt, das Fußballstadion und das Verteidigungsministerium – fielen an die Streitkräfte von TFG und Amisom. Damit haben sich die Fronten verschoben. Im Augenblick sieht es aus, als sei die al-Shabab in unterschiedliche Fraktionen zerfallen und in nationale somalische und internationale Kräfte gespalten, was die Sicherheitslage noch unüberschaubarer macht.4
Eine Fahrt durch die ehedem von al-Shabab gehaltenen Stadtteile offenbart, welches Ausmaß an Gewalt Mogadischu erlebt hat. Alles wurde in Trümmer geschossen und zerbombt. Aus modrigen Häusern recken sich Bäume empor – Unkraut, Kakteen, Gestrüpp und Bäume haben die Stadt erobert. Die Straßen sind weitgehend zerstört, und die Menschen weichen müde den Kratern und Schlaglöchern aus, stets auf der Hut vor unkonventionellen Sprengvorrichtungen und Landminen.
Al-Shabab gegen Übergangsregierung
Al-Shabab hat sich nach der Vertreibung der Union islamischer Gerichte (UIC) Ende 2006 zu einer maßgeblichen Kraft entwickelt.5 Die UIC hatte Mitte 2006 die Kontrolle über Mogadischu übernommen und in den von Clankonflikten heimgesuchten Teilen Somalias ein gewisses Maß an Stabilität und Sicherheit geschaffen, was ihr allmählich breiten öffentlichen Rückhalt sicherte.
Der äthiopische Sicherheitsexperte Medhane Tadesse ist der Ansicht, die UIC habe das durch die Gesetzlosigkeit entstandene Vakuum füllen und dabei Kapital aus 20 Jahren Islamisierung am Horn von Afrika schlagen können. „Die Art und Weise, wie die Union islamischer Gerichte ihre Macht konsolidiert hat, war ein rein politischer Prozess; der somalische Mittelstand ging einen Pakt mit der politischen Elite (in diesem Fall den Islamisten) ein, und gemeinsam schmiedeten sie den ersten politischen Vertrag im Süden Somalias. Man könnte daher zu der Auffassung kommen, es habe hier ein glaubwürdiger, legitimer und substanzieller politischer Prozess unter lokalen Akteuren stattgefunden. Aber es waren daran von Anfang auch andere Akteure beteiligt, die die Gerichte als Instrument zur Errichtung eines islamischen Emirats benutzen wollten, das auch große Gebiete außerhalb Somalias umfassen sollte. Es waren solche extremistischen Elemente …, welche die Bewegung der Gerichte für ihre politischen Ziele vereinnahmt haben – und zwar mit verheerenden Folgen.“6
Durch diesen politischen Makel wurde die Union der Gerichte für Äthiopien und die USA inakzeptabel, während Eritrea, der Sudan und Ägypten die Bewegung aus einer Reihe von geopolitischen Gründen unterstützten. Ende Dezember 2006 begann Äthiopien mehr oder weniger stellvertretend für die USA mit ihrem Angriff auf die Bewegung und überwältigte sie schnell.
Die UIC-Jugendorganisation al-Shabab, die von Scheich Aden Hashi Ayro, einem Veteranen des antisowjetischen Dschihad in Afghanistan, angeführt wurde, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits über 200 Attentate auf ihrem Konto. Sie entwickelte sich in der Folge zu einer einflussreichen Macht. Der zwangsläufige Konflikt zwischen al-Shabab und der Übergangsregierung ist exemplarisch für das größere geopolitische Kräftespiel, das derzeit am Horn von Afrika ausgetragen wird. Die Folgen für das Leben der gewöhnlichen Somalier sind fatal.
Fatuma ist 45 Jahre alt. Sie ist gerade aus Südsomalia in Mogadischu angekommen. Mit ihrer Familie hockt sie am Rand des Bakara-Markts und erklärt mir, dass sie kein Geld hätten. Ihr Mann und seine Brüder seien jetzt ins Geschäftsviertel in der Innenstadt von Mogadischu gegangen, um zu betteln. Ihr letztes Geld hätten sie für die Fahrt auf dem Lastwagen ausgegeben, der sie in zwei Tagen die 400 Kilometer bis zur Hauptstadt gebracht habe. „Wir haben keine Hoffnung. Es war eine Tragödie. Alle unsere Tiere sind gestorben. Die Kinder sind am Verhungern.“
Wie die Gräber in Badbaado beweisen, sind Somalias Kinder am schwersten von der Krise betroffen. Mehr als 450 000 Kinder sind mangelernährt, 190 000 davon leiden bereits an akuter, schwerer Unterernährung und sind vom Hungertod bedroht.7 Akuter Durchfall ist weit verbreitet, 75 Prozent der Fälle betreffen Kinder unter fünf Jahren. Unicef und WHO haben vor dem Ausbruch von Cholera gewarnt.
Im Eingangsbereich der Kinderklinik des Banadir-Spitals in Mogadischu drängen sich die Patienten. Lulu Mohammed, die Chefärztin der kinderärztlichen Abteilung, sagt, dass die Sterblichkeit von Kindern derzeit bei 10 Prozent liege. Sie hoffe jedoch, sie auf 5 Prozent senken zu können. Auf dem Boden sitzen Frauen, die ihre an Infusionen hängenden Kinder an sich drücken. Im Korridor drängen sich 50 Frauen und Kinder. Ein Kind erbricht eine weiße Flüssigkeit. Sie läuft an seinem Kinn hinab, während es die Augen verdreht. Überall surren Fliegen.
Eine knochendürre, in ein rotes Tuch gewickelte Frau namens Amira drückt ihr 19 Monate altes Kind an die Brust. Der Junge hat ein fleckiges gelbes T-Shirt an. Seine Augen rollen von einer Seite zur anderen, während auf seinen Armen und Beinen die Fliegen krabbeln. „Es geht ihm nicht besser“, sagte Amira. „Sie haben ihm Medizin gegeben und ihn geimpft. Er hat schlimmen Durchfall.“
In einem anderen Raum hockt Farhir (der Name bedeutet Glück) mit ihren beiden acht Wochen alten Zwillingen. Der Bauch des einen Kindes ist aufgebläht und hart. Das Baby schreit. Auf dem nächsten Bett putzt eine Mutter den Durchfall von den spindeldürren Beinchen eines Kleinkinds, das weinend in einem blauen Eimer steht. Man kann jede einzelne seiner Rippen sehen, die Beine zittern von der Anstrengung, sich stehend aufrecht zu halten.
In einer Ecke des Zimmers steht über ein Bett gebeugt eine andere junge Mutter. Unter dem rosa gestreiften Überwurf und der blau geblümten Bettdecke kann man die Umrisse eines Kleinkinds erkennen. Die Mutter trägt einen Niqab. Ihre Augen sind trocken und ihr Blick ist leer, als sie sagt: „Es ist ein Mädchen.“ Sie wickelt die Decken um das tote Kind, nimmt das Bündel und verlässt schweigend die Station, um ein Grab für ihr Kind zu suchen.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Glen Johnson ist freier Journalist aus Neuseeland und hält sich zurzeit am Horn von Afrika auf.
© Le Monde diplomatique, Berlin