Die breiten Straßen von Chile
Die Studentenbewegung und Allendes Vermächtnis von Víctor de la Fuente
Hunderttausende Jugendliche demonstrieren auf den Straßen – das hat es seit den letzten Jahren der Diktatur nicht mehr gegeben. Chiles Studenten haben mit ihren Protesten das Gesicht des Landes verändert und die rechtsgerichtete Regierung Piñera in eine unangenehme Lage gebracht. Nach zwei Jahrzehnten, in denen es zum Neoliberalismus keine Alternative gab, bewegt sich wieder etwas in der chilenischen Gesellschaft.1
Was ist aus dem vorbildlichen „chilenischen Modell“ geworden, dem „Jaguar Lateinamerikas“? Vor vierzig Jahren, als das Land wesentlich ärmer war, war die Ausbildung kostenlos. Was ist aus dem Fortschritt geworden, aus den hohen Wachstumsindices? Wo ist das ganze Geld geblieben, fragen sich die Studenten. Am 28. April gingen zum ersten Mal landesweit Studenten auf die Straße, um gegen die hohe Verschuldung zu protestieren, die sie für ihr Studium auf sich nehmen müssen.2
Im Mai begann dann ein schärferer Wind zu wehen, als in Santiago 30 000 und in anderen Städten mehrere tausend Menschen gegen das Hidro-Aysén-Projekt demonstrierten, den geplanten Bau von Staudämmen und fünf großen Wasserkraftwerken in Patagonien.3 Umweltschützer schlugen Alarm, und die Kritik an dem Projekt, das von der Regierung wie vom oppositionellen Mitte-links-Bündnis der Concertación4 unterstützt wird, häufte sich. Für den Energiemulti Endesa-Enel und die beteiligte chilenische Firmengruppe Colbún ist es ein gigantisches Geschäft, beschlossen wurde es am Willen der Bürger vorbei. Die Mehrheit der Chilenen ist dagegen.
Zuvor war es in mehreren Regionen zu Protesten gekommen: In der südlichen Provinz Magallanes setzten sich die Menschen gegen die Erhöhung der Gaspreise zur Wehr; in der Stadt Calama im Norden Chiles kämpften sie für mehr Beteiligung an den Einkünften aus den dortigen Kupferbergwerken; dazu kommen die seit Jahren andauernden Hungerstreiks der Mapuche und ihre Forderungen nach Rückgabe ihres Landes.
Plötzlich machten alle ihrem Unmut Luft: Die Opfer des Erdbebens vom Februar 2010 verlangten Entschädigungen nach ihrem zweiten Winter in Notunterkünften; die Bergarbeitergewerkschaft legte die Kupferminen lahm; es gab Demonstrationen für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Zweifellos aber waren es die Schulabgänger und Studenten mit ihren Streiks, Demonstrationen und Besetzungen, ihrer Forderung nach kostenfreier und qualifizierter Bildung, die der Protestbewegung eine neue Dimension gaben. Sie haben mit ihrem Ruf nach staatlich garantierter Bildung und der Forderung, Bildung nicht länger als Ware zu betrachten, den Neoliberalismus frontal angegriffen.
Das Prinzip Bildung gegen Geld ist eine Hinterlassenschaft der Militärdiktatur. Die bekannteste Parole der Studenten lautet: „Nieder mit, nieder mit / dem Schulsystem von Pinochet!“ Um grundlegende Veränderungen in Gang zu setzen, wollen sie eine Versammlung initiieren, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Sie schlagen außerdem vor, die Ausbildung statt mit Schulgeld und Studiengebühren über die Wiederverstaatlichung des Kupferabbaus und eine Steuerreform zu finanzieren.5 Zur Lösung des Konflikts setzen sie auf mehr Demokratie und verlangen ein Referendum, in dem die Bürger direkt über das künftige Bildungssystem des Landes entscheiden.
Sie ärgern sich darüber, dass viele Zeitungen und Fernsehsender ihre Demonstrationen kriminalisieren, und greifen sowohl die Regierung Piñera als auch die Concertación scharf an. Und sie haben den dem Präsidenten gehörenden Fernsehsender Chilevisión besetzt, ebenso die Parteizentralen der ultrarechten UDI und der Sozialistischen Partei. Gleichzeitig erlebt der einstige sozialistische Präsident Salvador Allende eine Art Wiederauferstehung: Jugendliche verkleiden sich auf Demonstrationen als Allende und ernten Applaus. Auf Transparenten steht: „Allendes Träume können wahr werden“. Die alten Reden des Märtyrerpräsidenten,6 die dieser vor vierzig Jahren über das Bildungswesen und die Verstaatlichung der Kupferminen gehalten hat, werden im Internet so oft aufgerufen wie nie zuvor.
Die neue Studentenbewegung zeichnet eine klare politische Haltung sowie ihre Vehemenz und Ausdauer aus. Unter den Oberschülern und Studenten herrscht Einigkeit, unterstützt werden sie von Lehrern, Professoren, Elternvereinigungen, NGOs und Gewerkschaften.7 Wie anderswo auf der Welt nutzen sie die neuen Technologien und fällen Entscheidungen basisdemokratisch.
Und sie haben sich einiges einfallen lassen: Verkleidungen, Tänze, gespielte kollektive Selbstmorde, exzessive Küssereien, nackte, bemalte Körper, tagelange Märsche um den Präsidentenpalast, Parodien von Predigern, zu Statuen Erstarrte mitten auf der Straße und vieles mehr. Damit wollten sie nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen einbeziehen und gewalttätige Eskalationen verhindern. Sie sind sogar für die entstandenen Schäden aufgekommen, haben Hauswände überstrichen oder Geld gesammelt, um den Besitzer eines verbrannten Autos zu entschädigen.
Dass die Proteste so massiv ausfallen, liegt an der extremen Ungerechtigkeit des chilenischen Bildungswesens, das unter der Militärdiktatur entstand. In den letzten drei Jahrzehnten kam es zu einem Boom der Privatschulen und privat bezuschussten Schulen, auf die 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen gehen. Chile hat keine einzige kostenlose Universität, alle – öffentliche wie private – verlangen hohe Studiengebühren, das gibt es in Lateinamerika sonst nirgends.
Der Staat trägt nicht einmal ein Viertel der Kosten des Bildungswesens, für das 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung stehen, also weit weniger als die von der Unesco empfohlenen 7 Prozent. Den Rest müssen Schüler und Studenten selbst aufbringen. Von den sechzig Universitäten in Chile sind die meisten privat; sie kosten monatlich zwischen 170 000 und 400 000 chilenische Pesos (250 bis 600 Euro), in einem Land mit einem Mindestlohn von 182 000 Pesos (weniger als 300 Euro) und einem Durchschnittseinkommen von 512 000 Pesos (weniger als 800 Euro). 70 Prozent der chilenischen Studenten nehmen Kredite auf. 65 Prozent aus der untersten Einkommensgruppe brechen ihr Studium aus wirtschaftlichen Gründen ab.8
Schon während der Regierungszeit von Michelle Bachelet gab es Studentenproteste, wie die sogenannte Pinguin-Revolution 2006, (benannt nach der typischen Schuluniform aus dunkler Jacke und weißem Hemd). Aber so viel Protest wie derzeit gab es in den letzten zwanzig Jahren nie. Die Mitte-links-Regierungen haben sich stets um einen Ausgleich zwischen Marktlogik und staatlicher Regulierung bemüht. Dank ihrer Reformen sank der Anteil der Armen. Doch die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter geöffnet. Chile ist heute eines der 15 Länder der Welt mit der größten Ungleichheit.9
Das Mitte-links-Bündnis hatte einen Bonus bei der Bevölkerung, da es zum Ende der Diktatur beigetragen hatte. Aber mit den steigenden Schulden der Studenten wuchs auch deren Unzufriedenheit. Augenfällig wurde die Ungerechtigkeit des Systems mit dem Antritt der Rechtsregierung, die das Land wie ein Wirtschaftsunternehmen führt und das Bildungswesen noch mehr dem freien Markt überlässt. Das wollten sich die jungen Leute, die die Diktatur nicht mehr erlebt und deshalb weniger Vorbehalte gegen staatliches Eingreifen haben, nicht länger bieten lassen. Hinzu kommt, dass Erziehungsminister Joaquin Lavín selbst Gründer und Aktionär einer Privatuniversität ist (Universidad de Desarrollo).10
Zu den etablierten Parteien haben die Jungen kein Vertrauen mehr. Vermittlungsvorschläge der Politiker oder der Kirche haben sie zurückgewiesen. Die Regierung reagierte auf die Proteste teils mit Gesprächsangeboten, teils mit brutalem Vorgehen, setzte aber zunehmend auf Kriminalisierung. Die offiziellen Presseorgane – also fast alle – bauschen die Gewaltausbrüche auf, zu denen es, ausgelöst durch Randgruppen, vereinzelte Kriminelle oder Agents provocateurs der Polizei am Ende der Demonstrationen häufig kommt.
Der 4. August wurde für die Regierung zum „schwarzen Donnerstag“. Präsident Piñera sagte, alles habe seine Grenzen, und Innenminister Rodrigo Hinzpeter verwehrte den Studenten die Genehmigung für ihre übliche Demonstration auf dem Boulevard La Alameda. Den ganzen Tag ging die Polizei gegen die Studenten vor, nach deren Angaben wurden 874 von ihnen festgenommen. Noch in derselben Nacht kam es in allen Vierteln und Städten Chiles zu einer Neuauflage der „Topfdeckeldemonstrationen“. Es wurde ein ‚nationaler Protest‘ wie zu Zeiten der Diktatur. Nach diesem 4. August unterstützten laut Umfragen nur noch 26 Prozent der Bevölkerung Piñera – das ist die niedrigste Rate für einen Präsidenten seit der Rückkehr zur Demokratie.11
Den Vorschlag der Regierung, die Zinsen für Ausbildungskredite zu senken, wiesen die Studenten zurück und forderten weiterhin eine grundlegende Änderung des Systems. Nach dem Generalstreik vom 24. und 25. August und teils gewalttätigen Demonstrationen, bei denen 1 400 Menschen festgenommen wurden und ein Sechzehnjähriger durch Polizeikugeln starb, trafen sich Vertreter der Studenten am 30. August schließlich zu direkten Gesprächen mit Präsident Piñera. Wie auch immer die Bewegung sich weiterentwickeln wird: Eine neue Form politischen Handelns ist entstanden. Die jungen Chilenen haben sich aufgemacht, auf den breiten Straßen zu gehen, von denen Allende gesprochen hat.12
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
Víctor de la Fuente leitet die chilenische Ausgabe von Le Monde diplomatique.
Aus Pinochets Zeiten
Verfassung
In Chile ist noch immer die Verfassung von 1980 in Kraft, die während der Diktatur durchgesetzt wurde. Sie ist im Kern antidemokratisch und wurde dreimal nach langen Verhandlungen zwischen der Rechten und der Mitte-links-Concertación geändert. Doch nach wie vor gilt ein Wahlsystem, das Minderheiten extrem benachteiligt und keine Volksabstimmungen zulässt.
Bildung
1981 führte Pinochet eine Universitätsreform durch, bei der das kostenfreie Studium abgeschafft wurde. Am 10. März 1990, einen Tag bevor er die Regierungsgeschäfte übergab, verabschiedete Pinochet das Gesetz Ley Orgánica Constitucional de Enseñanza (Loce), das die Rolle des Staats im Erziehungswesen auf eine reine Ausgleichsfunktion zusammenschmolz und die Bildung dem privaten Sektor überließ.
Gesundheit und Rente
1980 privatisierte die Diktatur die staatliche Altersvorsorge, mit dem Gesetzesdekret 3500, ausgearbeitet von José Piñera, dem Bruder des derzeitigen Präsidenten Sebastián Piñera. 1981 wurde mit der Gründung der Isapres die Privatisierung des Gesundheitswesens eingeführt. Beides ist beibehalten worden, was die soziale Ungleichheit weiterhin verschärft.
Presse
Die beiden Tageszeitungen, die bis heute in Chile bestimmend sind, hat die Militärjunta im Dekret 15 vom 11. September 1973 ausdrücklich zugelassen: El Mercurio und La Tercera, beide politisch deutlich rechts.