09.09.2011

Über die Kordilleren

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Über die Kordilleren

Chile ist ein Einwanderungsland, aus dem die Chilenen auswandern von Iván Quezada

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Eines Tages war sie da, makellos und überdimensional: die chilenische Fahne, mitten auf der Alameda del Libertador Bernardo O’Higgins, vor dem Regierungspalast. Der Mast ragt so hoch wie ein Wolkenkratzer, und von unten sieht es aus, als spräche die Fahne mit dem Wind. Langsam wehend wie ein träger Riese, erzeugt sie ein Gefühl ungreifbarer Realität, und in gewisser Weise repräsentiert sie die auch. Für die Chilenen sind der weiße Stern, der blaue Grund und der rote Balken verwoben mit Metaphern und Träumen aus der Kindheit. Jeder, den man fragt, wird sagen, sie geben die Geografie des Landes wieder.

Deshalb verwundert es kaum, dass die derzeitige national-konservative Regierung auf so offensichtliche und zugleich indirekte Weise ihr Selbstbewusstsein zur Schau stellt. Die chilenische Rechte (aufgeteilt zwischen dem Mitte-links-Block der „Concertación“ und dem rechtsgerichteten Parteienbündnis „Alianza por Chile“) lebt von Mythen wie der angeblichen Vorrangstellung Chiles in Lateinamerika, womit sie sogar die blutige Diktatur Pinochets gerechtfertigt hat. Eine andere ihrer Legenden ist die der „gemeinsamen Rasse“. Alle sind darauf erpicht, ihre weißen Vorfahren aufzuspüren, und meiden den Blick in den Spiegel, um die vertrauten indianischen Gesichtszüge nicht wahrzunehmen.

Dennoch ist inzwischen ungefähr jeder fünfte Einwohner Chiles Ausländer: Die Einwanderung aus den Nachbarländern hat in den letzten fünfzehn Jahren im Vergleich zu den 15 Jahren davor um 90 Prozent zugenommen. Diese Zahlen beruhen auf Schätzungen, niemand weiß wirklich genau, wie viele Migranten hier leben. 500 000 oder 600 000? Es lässt sich lediglich festhalten, dass die meisten Peruaner und Argentinier sind und dass die Zahl der Ecuadorianer und Kolumbianer stetig wächst. Es ist auch eine kleine haitianischen Kolonie entstanden, die mit der Zeit sicher noch größer werden wird. Diese Leute sind natürlich bitterarm und noch dazu „dunkelhäutig“: Mulatten, Zambos, Mestizen, Indios, Schwarze. Ihre verzweifelte Flucht ist ein Beweis mehr für den auf dem Kontinent herrschenden, wenngleich geleugneten Rassismus.

Nach Chile kommen sie nicht in der Hoffnung auf gute Löhne oder nennenswerte Sozialleistungen. Ihr einziges Ziel ist, durchzuhalten, komme, was wolle. Und tatsächlich können sie fast sicher sein, dass ihnen eine höllische Zeit bevorsteht, bevor sich ihre Lage einigermaßen verbessert. Das tägliche Überleben ist schon für die Chilenen eine Herausforderung. Sie haben mit einem der weltweit größten Gefälle zwischen Arm und Reich zu kämpfen. Die enorme Konzentration des Vermögens zeigt sich darin, dass 47 Prozent der an der Börse von Santiago gehandelten Werte in der Hand von vier Familien liegen: Es sind die Familien von Andrónico Luksic, Anacleto Angelini, Eliodoro Matte und Sebastián Piñera (dem derzeitigen Präsidenten). Zudem ringen die Chilenen mit ihren eigenen Widersprüchen: Die meisten haben eine schlechte Meinung von sich und schimpfen über die wenig ausgeprägte Arbeitsmoral ihrer Landsleute, dabei ist Chile ein Land, in dem sehr viel gearbeitet wird. Oft hat ein Arbeitstag zwölf Stunden, und viele Angestellten kämen niemals auf die Idee, sich ihre Überstunden bezahlen zu lassen.

Die Diktatur ist ein Gespenst aus alten Zeiten

Für die Migranten überwiegen die Vorteile vor allem deshalb, weil das Gesetz es ihnen leicht macht, im Land zu bleiben: Touristenvisa bekommen sie ohne Probleme, und zur Einreise nach Chile reicht schon ein Personalausweis. Wenn sie einmal im Land sind, können sie „illegal“ arbeiten, ohne sich verstecken zu müssen. Sobald sie ihren ersten offiziellen Arbeitsvertrag haben (zum Mindestlohn, aber das ist ihnen erst mal nicht so wichtig) und nach Zahlung einer Geldbuße von 80 000 Pesos (umgerechnet 110 Euro) bekommen sie eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Damit beginnt ein langer und mühsamer Weg der Integration, der über eine „unbefristete“ Aufenthaltserlaubnis über fünf Jahre bis zur Einbürgerung führt.

Die chilenischen Eliten müssen ihren Nationalstolz runterschlucken, aus einem einfachen Grund: Die Chilenen werden immer weniger. Das Land braucht die Zuwanderer aus dem Ausland, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Abgesehen davon ist das Land weit und dünn besiedelt. Am liebsten würde man natürlich Europäer und US-Amerikaner ins Land holen, was bei der Besetzung von Führungspositionen in multinationalen Konzernen auch gelingt. Doch solche Stellen sind rar, obwohl Chiles Wirtschaft seit dem Rückschlag der Asienkrise von 1997/98 beständig wächst.1 Verwunderlich ist vor allem der von den staatlichen Medien vermittelte Eindruck, der Einwanderungsboom sei ganz überraschend gekommen. Die politischen Reden über dieses Thema beschränken sich einstweilen auf das Formulieren technokratischer Leerformeln und guter Absichten, die niemanden überzeugen, denn die Anpassung der öffentlichen Leistungen wie Wohnungsbau, Gesundheitswesen und Bildung an die demografischen Gegebenheiten geschieht nur sehr schleppend. Sicherlich wird aufseiten der Regierung in gewissem Maß improvisiert, was auch das Fehlen von zuverlässigen Zahlen erklärt; aber jeder, der die chilenische Rechte kennt, weiß, dass sie sehr zielgerichtet agiert, mit in der Welt wohl einzigartiger Eintracht. Sie hat aus den hergebrachten Klassenunterschieden in Chile eine Art Kastensystem entwickelt, bei dem die Reichen sich immer deutlicher von einer immer größer werden Schicht der Armen abheben.2

„Die Schwarzen da sind Nutten“, erklärte achselzuckend der Fahrer. Es war spät am Abend, ich saß in einem Bus auf der Rückreise aus Mendoza, einer Stadt jenseits der Kordilleren oder, wenn man so will, jenseits des Spiegels. Argentinien ist Chiles großer Bruder: Zwei Länder, die sich in vielem gleichen und doch grundverschieden sind; es aber immer verstanden haben, Peruaner, Bolivianer und Paraguayer zu knechten und die Beute untereinander aufzuteilen. Am Busbahnhof der schönen Stadt Mendoza stiegen drei junge schwarze Kolumbianerinnen zu, sie wirkten scheu, auf der Hut. Ich schenkte ihnen weiter keine Beachtung, bis es an der chilenischen Grenze zu einem Zwischenfall kam: Der Busfahrer schwärzte sie bei der Grenzpolizei an, sie hätten keine Einreisepapiere. Das Absurde an der Sache war, dass sie sehr wohl alle nötigen Papiere hatten, aber der Busfahrer war so starrsinnig (ich glaube, er setzte sogar einen befreundeten Uniformierten auf sie an), dass die Auseinandersetzung aufs Hässlichste eskalierte. „Maul halten, verdammt!“, brüllte der Grenzbeamte (einsfünfundsechzig, Ziegenbärtchen), als die Frauen sich zu verteidigen versuchten. „Los, aussteigen. Aber ein bisschen plötzlich!“

Die Erniedrigung war groß, es hätte gerade noch gefehlt, sie vor allen Leuten durch den Mittelgang zu schleifen. In den Minuten, die wir übrigen Reisenden allein blieben, machten wir unserer Empörung und Ohnmacht Luft. Doch als der Busfahrer zurückkam – selbstzufrieden und sich für seinen „Patriotismus“ selbst auf die Schulter klopfend –, wagte keiner, den Mund aufzumachen.

„Ich hab denen gleich gesagt, dass die sie nicht reinlassen. Aber sie haben ja nicht hören wollen und sind trotzdem eingestiegen“, vertraute er lachend einem mitfahrenden Kumpel an. Was machte ihn so sicher, dass sie Prostituierte waren? Ihre dunkle Haut? Zum Glück ist die Mehrheit der chilenischen Beamten nicht ganz so „tüchtig“. Aber dieser Busfahrer schaffte es mit seinem zuhälterhaften Gehabe, uns in die schlimmsten Jahre unter Pinochet zurückzuversetzen, als Bespitzelung und Polizeiwillkür die Waffe zur Umerziehung und Unterwerfung der Chilenen war.

Doch es war nur eine Erinnerung an das Trauma. Die Verhältnisse haben sich mit den Jahren geändert, und der Diktatur ist nur mehr ein Gespenst aus alten Zeiten. Angst ist keine tägliche Erfahrung mehr, und vor allem die jungen Leute – die Politik uninteressant finden – genießen ihr Leben. Aber es gibt auch die ganz anderen Geschichten. Es war kurz vor Jahresende, wenn die Leute gern auf der Straße irgendwelchen Ramsch kaufen, der nicht allzu sehr danach aussehen soll. Um diese Zeit kommen die Indigenen aus Ecuador ins Land, die Zigeuner Indioamerikas, die mit ihren billigen Waren und Kleidern durch den Kontinent ziehen. In der Nähe der Plaza in einem Bezirk im Großraum Santiago, der Ñuñoa heißt, wollte eine dieser Indiofrauen mit ihrem Baby auf den Rücken ihre Waren ausbreiten. Die anderen fliegenden Händler nahmen sie freundlich auf, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dieser Frau ihr Stückchen Gehweg streitig zu machen. Bis die Polizei kam und sie in ihren Einsatzwagen mit angeschaltetem Blaulicht zerren wollte. Was die Passanten ihrerseits nicht dulden wollten. Das Geschrei wurde immer lauter, und irgendwann sahen sich die beiden Polizisten (ein Mann und eine Frau) umringt. Sogar die Busse hielten an, und aufgebrachte Fahrgäste schlossen sich der spontanen Versammlung an. Am Ende ließen die Polizisten die Frau gehen und ergriffen die Flucht.

Bei einer anderen Gelegenheit bedrängten Ordnungshüter in einem Bus einen brasilianischen Straßenmusiker. Aus irgendeinem mir unbekannten Grund tasteten sie seine Arme ab und machten dann auf dem Absatz kehrt. Diesmal zeigte sich die Solidarität der Leute, als der Musiker (natürlich ein Schwarzer) anschließend den Hut herumgehen ließ: Er sammelte einiges ein.

Hausherren führen sich auf wie Sklavenhalter

Ungefähr drei Viertel der Zuwanderer sind Frauen, am höchsten ist ihr Anteil unter den Peruanern. Eine von ihnen, die Historikerin Delia Curuahua, kam als politischer Flüchtling aus Peru, während der Herrschaft von Präsident Fujimori und dessen Geheimdienstchef Montesinos. Sie ist Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Migranten, die der Jesuitenpater Aguayo leitet, und hat zusammen mit anderen Frauen die Gruppe Warmipura – auf Quechua „unter Frauen“ – gegründet, um auf die schwierige Lage vor allem der Hausangestellten aufmerksam zu machen.

Warmipura prangert Hausherren an, die sich wie Sklavenhalter aufführen und die Frauen, die ihren Haushalt besorgen, vierzehn Stunden am Stück schuften lassen; oft ohne eine einzige freie Stunde, ohne einen einzigen freien Tag in der Woche. Wenn die Angestellten sich wehren, wird ihnen damit gedroht, ihnen ihre Kinder wegnehmen zu lassen. Das Misstrauen und die Angst ihrer Landsleute machen die Arbeit der Initiative nicht leichter.

Gern lassen die Chilenen außer Acht – oder sie haben es gern vergessen, dass sie selbst von Einwanderern abstammen. Wenn man darauf achtet, wird man feststellen, dass unter den Bewohnern verschiedener Gegenden des Landes jeweils bestimmte Familiennamen, bestimmte äußerliche Merkmale, bestimmte kulturelle Einflüsse vorherrschen.

In Punta Arenas, ganz im Süden, beherrschen neben Argentiniern vor allem Südosteuropäer das Bild. Weiter im Norden, im waldreichen Gebiet um Valdivia und in der Región de los Lagos, trifft man auf deutsche Siedlungen. Und so fort, je nach Region prägen Nachfahren von Schweizern, Franzosen, Juden, Arabern, Engländern, Orientalen, Griechen und Spaniern (und die wieder sortiert nach Katalanen, Kastiliern, Basken, Andalusiern und den Extremeños) die Kultur. Und wie mir Pater Aguayo versichert, kamen die damaligen Pioniere in größter Armut ins Land. Er nennt noch einen weiteren interessanten Punkt: Chile ist immer noch ein Auswanderungsland. Rund eine Million Chilenen leben bis heute im Ausland, wobei die meisten von ihnen erst in den letzten zwanzig Jahren das Land verlassen haben, also bereits „während der Demokratie“.

Die Lücken, die die Emigranten hinterlassen haben, füllen nun die anderen. Leute wie Paola Graus, eine kleine Frau, die aus Trujillo in Nordperu stammt, neben Chimbote ist das die peruanische Stadt mit der größten Abwanderung. Über viel Bildung verfügt Paola Graus nicht, aber über eine gewinnende Art, und sie drückt sich sehr gewandt aus. Sie arbeitet als „Haushaltsassistentin“ – Euphemismen sind der Chilenen liebstes Spiel – und fährt an sechs Tagen der Woche kreuz und quer durch die Stadt, da sie in mehreren Haushalten arbeitet. Sie beschwert sich nicht und erzählt ihre Geschichte, als wäre sie einer anderen passiert. In ihr schlägt der Fatalismus eines besiegten Volkes durch, das seit dem Sturz des letzten Inkas seinen festen Platz auf der Welt infrage gestellt sieht.

Sie gesteht mir den größten Fehler ihres Lebens: bei einer Bank um einen Kredit angefragt zu haben, als ihr kleines Restaurant nicht mehr so gut lief. Die Zinsen haben sie in die Knie gezwungen, und schließlich musste sie Peru verlassen, um in Chile zwei Jahre lang so viel wie möglich zu arbeiten und die Forderungen der „sehr verständnisvollen“ internationalen Bank zu bedienen.

Ihr Beispiel ist typisch: Oft sind es Bankschulden, die die Menschen aus ihrem Land treiben. In Paola Graus’ Familie machte die älteste Tochter den Anfang, die über eineinhalb Jahre für den Unterhalt ihrer Eltern und drei Geschwister sorgte. Sie hauste zusammen mit anderen Peruanern, die in einer ähnlichen oder noch schlechteren Lage waren, in einem kleinen Raum.

In meiner Neugier bat ich darum, sie zu treffen, und vor mir erschien eine zuversichtliche und gesprächige junge Frau von fünfundzwanzig Jahren, die gern und viel lachte. Sie verströmte Vitalität. Sie hatte ein schönes Gesicht. Ihr Plan sei es, für immer in Chile zu bleiben, sagte sie.

Fußnoten: 1 Die Wachstumsrate im Jahr 2010 betrug 5,2 Prozent. Im weltweiten Ranking der globalen Wettbewerbsfähigkeit steht Chile auf Platz 30, vor Brasilien (56). 2 Chile ist trotz seines relativen Reichtums mit einem Gini-Koeffizienten von 54 eines der Länder Südamerikas mit der höchsten Ungleichheit.

Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold

Iván Quezada lebt als Journalist, Herausgeber und Autor in Santiago de Chile. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Escritos de Ningún Lugar“, Santiago (Mago Editores) 2010.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.09.2011, von Iván Quezada