Sprechen über die Besatzung
Israelische Soldaten berichten über ihre Einsätze in den Palästinensergebieten von Meron Rapoport
Ich kann dir sagen, wann ich ausgerastet bin. Wir waren in Gaza im Einsatz. … Wir hockten in einem Graben, und da waren Kinder, die immer näher kamen und Steine warfen. In den Vorschriften heißt es, wenn einer so nah an dich rankommt, dass er dich mit einem Stein treffen kann, dann kann er dich auch mit einer Granate treffen … Also hab ich auf ihn geschossen. Er war vielleicht zwölf oder fünfzehn Jahre alt. Ich glaube nicht, dass ich ihn getötet habe. Jedenfalls rede ich mir das selbst ein, für meinen inneren Frieden, damit ich nachts besser schlafen kann. Ausgerastet bin ich, als ich aus lauter Verzweiflung mit meinen Freunden, mit meiner Familie darüber gesprochen habe, dass ich verdammt noch mal [mit einer Waffe] auf jemanden gezielt und ihm ins Bein geschossen hab, oder in den Arsch. Alle waren froh, [sie meinten,] ich solle erleichtert sein, ich sei ein Held, sie erzählten es in der Synagoge, während ich unter Schock stand.“1
In seinem Buch „Ist das ein Mensch?“ erinnert sich Primo Levi an einen Traum, den er wiederholt in Auschwitz träumte (und den, wie er später erfuhr, auch viele andere Häftlinge hatten).2 In diesem Traum war Levi wieder zu Hause und erzählte seiner Familie von seinen grauenhaften Erlebnissen im Lager, aber keiner hörte ihm zu, ja seine Verwandten standen sogar vom Tisch auf und entfernten sich. Dies war sein Albtraum: dass er Zeugnis ablegte, seine Geschichte erzählte und keiner würde zuhören und ihn verstehen.
Gaza ist nicht Auschwitz, und die israelischen Soldaten, deren Zeugnisse, wie die eingangs zitierte Passage, in „Occupation of the Territories“ (Besatzung der Gebiete) veröffentlicht wurden, sind keine Überlebenden der Schoah. Dennoch haben sie etwas mit Levi gemein: Sie verspüren den Drang, ja beinahe Zwang, ihre Geschichte zu erzählen, und sie haben das Gefühl, dass in ihrer Umgebung niemand zuhören will. Als würden ihre beunruhigenden Geschichten die Zuhörer bedrohen, die lieber darüber hinweggehen oder, wie im hier zitierten Fall, das Erzählte uminterpretieren und in vorgestanzte Phrasen übersetzen, die ihren festen Vorstellungen darüber entsprechen, was sich da drüben im Westjordanland oder in Gaza wirklich abspielt.
„Was sollen die Eltern dieses Soldaten ihm deiner Ansicht nach sagen? ‚Mach dir nichts draus, dass du ein Kind erschossen hast?‘ Sie entziehen sich lieber seinem Dilemma“, erklärt der Exsoldat Avihai Stoler, einer der Mitstreiter des Augenzeugenprojekts.
Die Männer und Frauen, die in „Occupation of the Territories“ über ihre Erfahrungen berichten, waren in den letzten zehn Jahren, also seit Beginn der zweiten Intifada, in verschiedenen Truppengattungen im Gazastreifen oder im Westjordanland im Einsatz. Und manche sind es noch immer. Dieses Buch ist mit Abstand die umfassendste Innenansicht des israelischen Modus operandi in den palästinensischen Gebieten: Dabei geht es weder um die große Politik noch um Enthüllungen geheimer Machenschaften, sondern schlicht um den Alltag der israelischen Militärherrschaft über die Häuser und Felder, die Gassen und Straßen, den Besitz und die Zeit, das Leben und den Tod eines jeden im Westjordanland oder in Gaza lebenden Palästinensers.
In den letzten zehn Jahren haben etwa 40 000 bis 60 000 Israelis in Kampfeinheiten gedient.3 Etwa 750 davon wurden für das vorliegende Buch interviewt. Wenn man davon ausgeht, dass jeder, der in einer Kampfeinheit war, einen Teil seines Militärdienstes in den besetzten Gebieten absolviert hat (was auf die Luftwaffe und Marine nicht zutreffen dürfte), dann sind in diesem Buch die Zeugnisse von ein bis zwei Prozent der in den Palästinensergebieten eingesetzten Soldaten versammelt – eine beachtliche Anzahl und wesentlich mehr, als in jeder wissenschaftlichen Erhebung oder Meinungsumfrage zugrunde gelegt wird.
Man kann nach der Lektüre zu anderen Schlüssen gelangen als die Herausgeber des Buchs; man kann der Auffassung sein, dass die umfassende Kontrolle der Palästinenser aufgrund der israelischen Sicherheitsinteressen gerechtfertigt sei, aber man kann nicht mehr sagen, man wisse von nichts.
Die Organisation Shovrim Shtika („Das Schweigen brechen“), die die Zeugnisse gesammelt und in einem schwarz eingebundenen Buch veröffentlicht hat, wurde 2004 von einigen Soldaten gegründet, die in Hebron stationiert waren. Sie wollten der Welt und der israelischen Gesellschaft die Besatzung aus der Perspektive der Soldaten zeigen. In den ersten Jahren waren sie, wie sie heute selbst zugeben, vor allem darauf aus, „Horrorstorys“ zu sammeln. Schockierende Fotos von Soldaten, die getöteten Palästinensern die Köpfe abschlugen, um sie auf Gewehrläufen aufzuspießen, kamen als Erstes in die Presse. Aber je mehr Berichte die Interviewer (selbst allesamt ehemalige Soldaten) sammelten, desto klarer wurde ihnen, dass sie bei der Fokussierung auf extrem grausame Fälle etwas versäumten. „Wir interessieren uns nicht für den Soldaten, der am Checkpoint einen alten Mann misshandelt“, erklärte Gründungsmitglied Michael Menkin bei der Buchvorstellung in Tel Aviv. „Wir interessieren uns für den Soldaten, der daneben steht“, für den „ganz normalen“ Soldaten.
Nicht dass Misshandlungen, willkürliche Gewalt und beiläufige Tötungen, die an Kriegsverbrechen grenzen, in dem Buch nicht zur Sprache kämen: Ein geistig behinderter Palästinenser wird so heftig verprügelt, dass er am ganzen Leib blutet; palästinensische Passanten werden gezwungen, auf ein Minarett zu steigen, um vermeintliche Bomben zur Detonation zu bringen; ein unbewaffneter Palästinenser wird erschossen, nur weil er zufällig auf einem Hausdach steht.
Die Geschichte einer Generation
„Wenn du mich heute fragst: Warum hast du geschossen? Aus bloßem Druck, ich hab dem Druck der anderen Jungs nachgegeben“, heißt es dann. Ein Soldat berichtet über die vorsätzliche Tötung beziehungsweise Hinrichtung eines unbewaffneten palästinensischen Polizisten aus Rache für den Angriff auf einen Checkpoint; zitiert wird die Anweisung eines hochrangigen Offiziers, wie mit mutmaßlichen Terroristen zu verfahren sei, die verwundet oder tot am Boden liegen: „Stößt du auf eine Leiche, steck dein Gewehr zwischen ihre Zähne und drück ab“; und es gibt Schilderungen von Diebstählen, Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen von allen möglichen Dingen – Kleidern, Möbeln oder Autos.
Die vorliegende Sammlung von Augenzeugenberichten enthält all diese Geschichten, aber sie enthält noch viel mehr. „Dieses Buch ist keine Horrorshow der Tsahal [Streitkräfte]“, sagt Stoler, „es ist die Geschichte einer Generation, unserer Generation.“
Der Titel „Occupation of the Territories“ wurde nicht zufällig gewählt. Während sich in den ersten 30 Jahren nach dem Sechstagekrieg 1967 ein Großteil der innenpolitischen Diskussion um die Notwendigkeit beziehungsweise das Übel der Besatzung drehte, ist das Wort „Besatzung“ in den letzten Jahren fast vollständig aus der Debatte in Israel verschwunden. Wenn sich ein Israeli auf die besetzten Palästinensergebiete bezieht, spricht er oder sie von Judäa und Samaria, vom Westjordanland oder von „den Territorien“, aber niemals, wie noch vor 15 Jahren üblich, von den „besetzten Gebieten“. Es ist wie ein Tabu oder ein Unheil bringendes Wort, das in der Öffentlichkeit keiner in den Mund nimmt.
Als ich einmal die Aufnahme einer Talkshow leitete und ein Gast sagte, dass die Gewalt in der israelischen Gesellschaft „wegen der Besatzung“ immer weiter zunehme, bedrängten mich meine Kollegen im Kontrollraum – geradezu von Panik ergriffen –, ich solle dem Moderator zu verstehen geben, dass der Gast seine Äußerung umgehend zurücknehmen müsse.
Für diesen Wandel gibt es mehrere Gründe. Erstens fanden es viele Israelis richtig, dass die Armee während der Zweiten Intifada nahezu eine Blankovollmacht für die Terrorabwehr hatte. Es erwartete auch niemand eine detaillierte Rechenschaft über ihr Tun. Zweitens wurde der unendliche und völlig vergebliche „Friedensprozess“ immer mehr zu einer Art Hintergrundmusik für die israelische Öffentlichkeit, was sich auf zweierlei Weise bemerkbar machte: Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass es mit der Lösung des Konflikts keine Eile habe oder er eigentlich sogar schon gelöst sei, weil doch „wir Israelis“ der Aufgabe der besetzten Gebiete und einer Zweistaatenlösung längst zugestimmt haben. Die Geschichte der „Territorien“ sei beendet, schrieb kürzlich der angesehene israelische Kolumnist Nahum Barnea.
Abgesehen von den politischen Faktoren spielt ein militärischer Aspekt eine zentrale Rolle: Seit der Zweiten Intifada und vor allem seit Beginn des Mauerbaus im Westjordanland im Herbst 2002 hat die Kontrolle über die Palästinenser an Methodik und Systematik gewonnen. Sie ist quasi „wissenschaftlicher“ geworden. „Occupation of the Territories“ versucht diesen einschneidenden Wandel publik zu machen und den damit einhergehenden Militärjargon zu entlarven. Im Laufe der Jahre hat Shovrim Shtika so viel Material gesammelt, dass die Gruppe dazu übergegangen ist, neue Begriffe und Umschreibungen zu verwenden, um die Dinge beim Namen zu nennen: Statt von „Terrorprävention“ im Westjordanland und in Gaza sollten wir über die Angst sprechen, die unter den Palästinensern verbreitet wird, anstatt „Separation“ zu sagen, sollten wir die Ausdrücke „Inbesitznahme und Annexion“ verwenden, statt nebenher über „Fabric of Life“-Straßen zu reden (das ist die militärische Bezeichnung für die Straßenverbindungen zwischen den durch Sperranlagen getrennten Dörfern), sollten wir uns lieber vor Augen führen, welche Mühsal es bedeutet, unter solchen Bedingungen den Alltag zu organisieren; und statt „Kontrolle“ sollten wir auch hier in Israel „Besatzung“ sagen.
„Unsere Mission war es, zu zerstören – das war der Ausdruck, der verwendet wurde –, das Leben der Bürger zu stören und sie zu schikanieren“, erzählt ein Zeuge. „So war unsere Aufgabe definiert, weil auch Terroristen ganz normale Bürger sind; wir wollten die terroristischen Aktivitäten unterbinden, und das wurde operativ so umgesetzt, dass wir die Bürger in ihrem Alltag schikanierten. Ich bin mir diesbezüglich ganz sicher, und ich glaube, es steht bis heute so in den Dienstanweisungen, falls sie den Befehl nicht geändert haben.“4
Dies ist vielleicht wirklich eine neue Erkenntnis, die das Buch von Shovrim Shtika ans Licht bringt: Dass Drangsalierung und Schikane der palästinensischen Bevölkerung nicht allein mit Unachtsamkeit und Rücksichtslosigkeit zu tun haben (die natürlich auch vorkommen), sondern dass sie ein zentraler Bestandteil des Modus operandi der israelischen Besatzungsmacht im Westjordanland sind.
„Wenn in einem Dorf irgendwelche Aktivitäten vor sich gehen, sorgst du dafür, dass niemand mehr zur Ruhe kommt und nachts schlafen kann“, erzählt einer der Zeugen. Stoler, der fast drei Jahre in der Gegend von Hebron im Einsatz war, hat mit Soldaten gesprochen, die mitten in einem Dorf eine Bombe hochgehen ließen, „damit sie merken, dass wir hier sind“. „Lautstarke Patrouille“, „Gewaltpatrouille“, „Präsenz demonstrieren“, „niedrigschwellige Aktion“, „fröhliches Purim“ sind einige der Namen für solche Aktionen. Dabei fallen die Soldaten mit massivem Aufgebot in ein Dorf oder eine Stadt ein, werfen Schockgranaten, errichten Straßensperren, durchsuchen wahllos Häuser und richten sich dann für ein paar Stunden oder auch Tage dort ein. „Um [unter den Palästinensern] Verfolgungsängste zu schüren, damit sie sich niemals sicher fühlen“, zitiert Stoler den Befehl, den er selbst erhalten hat.
Stoler und Avner Gvaryahu gehörten einer Eliteeinheit an, deren Erfolg – so erklärte es ihnen ein hoher Offizier – an der Anzahl toter Terroristen gemessen wurde. Beide sind sich bewusst, dass die Gesellschaft nicht hören will, was sie zu sagen haben. Zur Buchvorstellung ist nicht ein einziger israelischer Fernsehsender gekommen, nur ausländische Medien. Als sei die Not und das Unbehagen so vieler israelischer Soldaten nur in Japan oder in Australien von Interesse, aber nicht in Israel. Über die Geschichten von Shovrim Shtika breitet sich ein großes Schweigen.
„Mein Vater gehört zur zweiten Generation der Überlebenden der Schoah“, sagt Gvaryahu, „in seinen Augen sind wir die Verfolgten und Elenden.“ Dennoch sind Stoler und Avner erstaunlich optimistisch. Beide glauben, dass die israelische Gesellschaft eines Tages begreifen wird, was in ihrem Namen geschieht, und sich dann ändern wird. Denn es ist die Gesellschaft selbst, die sich ändern muss, nicht die Armee.
„Einmal wurde ich von einer kolumbianischen Journalistin interviewt“, erinnert sich Stoler, „und die fragte mich: ‚Woher die ganze Aufregung? In Kolumbien schlagen die Soldaten jeden Tag Rebellenköpfe ab, und das kümmert niemanden.‘ Ich glaube, dass die israelische Gesellschaft moralisch sein möchte. Und das ist es, was uns antreibt. Wenn es diesen kollektiven Willen zur Moralität nicht gäbe, hätte unser Projekt keinen Sinn.“
„Die israelische Gesellschaft wurde gekidnappt von Leuten, deren Interessen sich nicht mit unseren decken“, meint Gvaryahu. „Doch wir haben uns, wie beim Stockholm-Syndrom, in unsere Entführer verliebt. Es ist leicht zu sagen, die Siedler seien unsere Geiselnehmer, sie würden hinter der Maske stecken. Aber daran glaube ich nicht. Das wahre Gesicht hinter der Maske der Entführer ist unser eigenes.“
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Meron Rapoport ist freier Journalist in Israel und war früher Nachrichtenchef bei der Tageszeitung Ha’aretz.