Thatchers zornige Enkel
Die Ausschreitungen vom August sind Krisensymptom einer zutiefst ungerechten Gesellschaft von Owen Jones
Monate bevor Gordon Browns schwer gebeutelte Regierung im Mai 2010 aus dem Amt gekickt wurde, meinte Stephen Pound, ein Hinterbänkler der Labour Party, es gebe Leute, „die eine geradezu physische Angst bei der Vorstellung empfinden, dieses klotzige, mit Goldkettchen und Brillis behängte Lumpenproletariat könnte eines Tages ihre Haustür eintreten und ihr Au-pair-Mädchen auffressen“.
Selbst in Zeiten relativer sozialer Stabilität liegen Klassenvorurteile in Großbritannien nie weit unter der Oberfläche. Das Vereinigte Königreich ist und bleibt eine der Gesellschaften der westlichen Welt mit der größten Ungleichheit: In London beispielsweise besitzen die reichsten 10 Prozent der Einwohner 273-mal so viel Vermögen wie die ärmsten 10 Prozent.1 Aber als Anfang August ganze Stadtviertel von Leeds bis London vier Tage lang von Straßenkrawallen und Plünderungen heimgesucht wurden, schien Pounds ironisch hingeworfene Bemerkung nicht mehr gar so weit von der Realität entfernt zu sein.
Inzwischen ist es auf den Straßen wieder friedlich, stattdessen überzieht die soziale Reaktion das Land mit wütenden Gegenattacken. Das Wort der Stunde, das durch Zeitungskolumnen, Twitter und Politikerreden schwirrt, heißt feral, also „wild“ im Sinne von unkultiviert und bestialisch: „wilde Jugendliche“, „wild gewordene Ratten“, „die wilde Unterschicht“. Der prominente Kolumnist Richard Littlejohn nannte in der rechten Daily Mail die Aufständischen „ein Wolfsrudel von verwilderten Innenstadtstreunern“ und rief dazu auf, diese gestrandeten Kreaturen zu keulen „wie Robbenbabys“.2 Die „Unterschicht“ galt schon vorher als nutzlos und überflüssig, jetzt erschien sie wie eine Meute tollwütiger Bestien.
In dieser überhitzten Atmosphäre schlug David Camerons konservative Koalitionsregierung vor, dass man alle rechtskräftig wegen Landfriedensbruchs oder Plünderung verurteilten Personen und ihre Familien aus ihren Sozialwohnungen werfen und ihnen alle staatlichen Bezüge streichen solle (was auf eine besonders krasse Form von Sippenhaft hinausläuft). „Es sollte möglich sein, sie rauszuwerfen, und zwar für immer“, sagte Cameron vor konservativen Parlamentariern. Und im ganzen Land – so etwa in Nottingham, Salford und Westminster – kündigten lokale Behörden ihre Absicht an, genau dies zu tun. Nachdem man schon einen kausalen Bezug zwischen den Krawallen und dem sozialen Hintergrund der Beteiligten hergestellt hatte, folgte jetzt das juristische Verdikt: Wer arm ist und gegen das Gesetz verstößt, wird doppelt bestraft.
Diese so verständliche wie tiefsitzende Furcht und Wut war derart dominant, dass alle Stimmen, die öffentlich nach den sozialen und ökonomischen Ursachen der Gewalt fragten, als „Apologeten“ sinnloser Gewalt niedergeschrien wurden. In dieser fast schon hysterischem Atmosphäre wurden Prozesse durchgepeitscht, die häufig aberwitzige Strafen verhängten. Die Greater Manchester Police verkündete stolz über Twitter: „Mutter von zwei Kindern, am Aufruhr unbeteiligt, erhält fünf Monate Gefängnis, weil sie Shorts angenommen hat, die aus einem geplünderten Laden stammten. Keine mildernden Umstände!“ Zwei junge Männer wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt (für Totschlag fallen die Strafen häufig geringer aus), weil sie auf Facebook zur Teilnahme an Krawallen aufgerufen hatten, die nie stattgefunden haben.
Nach den August-Unruhen zeigt sich Großbritannien als ein Land, in dem das Justizsystem seine neutrale Distanz zu Wohlstand und Macht aufgegeben hat. Als 2009 herauskam, dass die Parlamentsabgeordneten sich jahrelang öffentliche Gelder illegal angeeignet hatten, brachte der Skandal das gesamte politische Establishment ins Wanken. Aber nur drei Parlamentarier landeten im Gefängnis. Manche hatten sich mit erschlichenen Geldern genau die gleichen Flachbildschirme angeschafft, die Plünderer jetzt im August aus den Läden karrten.
Und als vor zwei Jahren aufgedeckt wurde, dass der Labour-Abgeordnete Gerald Kaufman vom Staat 8 750 Pfund für eine Heimkinoanlage von Bang & Olufsen abgesahnt hatte, musste er lediglich diesen Betrag zurückzahlen. Der 23-jährige, nicht vorbestrafte Nicolas Robinson hingegen, der bei den Krawallen einen Kanister Wasser für 3,50 Pfund mitgehen lässt, wurde für sechs Monate hinter Gitter geschickt.
Armut wird zur Folge von Verhaltensstörungen
Die britische Konservative Partei ist die erfolgreichste Wahlkampftruppe der Erde. Warum das so ist, kann man an ihrem Umgang mit Krisen erkennen. Als die Banken vor drei Jahren die gesamte Weltwirtschaft in die Knie zwangen, schien die freie Marktwirtschaft am Ende zu sein. Als dann aber infolge sinkender Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben das Staatsdefizit in die Höhe schnellte, verwandelten Camerons Konservative die Krise der Privatwirtschaft mit einem Geniestreich in eine Ausgabenkrise der öffentlichen Hand. Damit schafften sie es – wieder einmal –, eine Krise für die britische Rechte zu nutzen: diesmal um die Stereotype über die Armen zu zementieren und damit den Kahlschlag bei den Sozialausgaben zu rechtfertigen.
Eine der ersten Stellungnahmen Camerons zu den Unruhen erinnerte auf den ersten Blick an die Sprache der Linken: „Soziale Probleme, die seit Jahrzehnten gären, fliegen uns jetzt um die Ohren.“ Aber der Premierminister meinte damit keineswegs Armut oder Arbeitslosigkeit. Vielmehr beklagte er einen „zeitlupenartigen moralischen Niedergang“. Die Ereignisse bescherten ihm ein neues, empfängliches Publikum, dem er nun weismachen konnte, das Grundübel seien „Kinder ohne Väter, Schulen ohne Disziplin und Einkommen ohne Leistung“. Deshalb gelte es, einen Sozialstaat zu errichten, der „Faulheit nicht belohnt“. Schuld an allem waren also die nichtsnutzigen, unmoralischen Armen und ihr chaotischer Lebenswandel.
Gemäß dieser Logik ist Armut eine Folge persönlicher Defekte oder Verhaltensstörungen. Auf diese Weise kann man sich breite öffentliche Unterstützung für die aggressive Kürzung von Sozialleistungen verschaffen. Die von der Regierung geplante Kürzung der Mietzuschüsse, die überwiegend von erwerbstätigen Armen in Anspruch genommen werden, droht tausende Menschen zu Obdachlosen zu machen. Ein Mitglied der konservativer Parlamentsfraktion ging so weit, dieses Vorhaben sogar mit den Highland Clearances im 18. und 19. Jahrhundert zu vergleichen, also mit der brutalen Vertreibung zahlloser Bauern von ihren Höfen im schottischen Hochland. Selbst Boris Johnson, der konservative Oberbürgermeister von London, reagierte mit der leicht dramatisierten Aussage, er werde in der Hauptstadt keine „sozialen Säuberungen wie im Kosovo“ zulassen. Aber wenn man die Armen erst einmal zu nichtsnutzigen Tieren degradiert hat, lässt sich jedes menschliche Mitgefühl neutralisieren.
Die Unruhen haben auch die Karikatur des „Chav“ (Prolls) zu neuer Blüte getrieben. Das Wort Chav machte erstmals 2004 Karriere. Es geht wahrscheinlich auf chaavi zurück, was in der Roma-Sprache „Kind“ bedeutet. Laut Wörterbuch bezeichnet Chav „eine jugendliche Person aus der Arbeiterklasse, die legere Sportkleidung trägt“. Aber der Ausdruck hat alsbald eine gehässige, von Klassendünkel geprägte Färbung angenommen: etwa im Sinne von asozial, verkommen, nichtsnutzig, verblödet, versoffen und so weiter.
Rasch wurden auch Akronyme wie „Council Housed Associated Vermin“ (Vereinigte Sozialwohnungsschmarotzer) dazu erfunden. Und auf der besonders perfiden Website „ChavTowns“ werden ganze Arbeiterviertel als von „Chavs“ bevölkert heruntergemacht. Während positive Darstellungen von Arbeitern in den Medien kaum noch vorkommen, werden immer mehr Chav-Karikaturen gedruckt oder gesendet. Die bekannteste ist Vicky Pollard aus der Comedyshow „Little Britain“: eine weiße, alleinerziehende Mutter aus der Arbeiterklasse, die so dumm ist, dass sie eines ihrer vielen Kinder für eine CD der Boygroup Westlife hergibt. Nach einer 2006 durchgeführten Umfrage hielten unter den Mitarbeitern des britischen Fernsehens 70 Prozent der Befragten diese Versagerin für eine „angemessene Darstellung“ der weißen Arbeiterklasse.
Die Elite und das wilde Proletariat
Diese Karikatur des Chav tauchte zu einer Zeit auf, als Journalisten und Politiker jeder Couleur unisono erklärten, dass jetzt alle zur Mittelschicht gehörten. Die einzige Ausnahme: der Haufen von Taugenichtsen, der von der alten Arbeiterklasse noch übrig ist, nachdem die mobilen Teile der Arbeiterklasse angeblich verbürgerlicht sind.
Simon Heffer, der prominente, rechtslastige Kolumnist des Daily Telegraph, hat es so formuliert: „Was man die achtbare Arbeiterklasse nennen könnte, ist so gut wie ausgestorben. Was die Soziologen mit Arbeiterklasse bezeichnet haben, arbeitet heutzutage in der Regel gar nicht mehr, sondern wird vom Sozialstaat durchgefüttert.“3 Diese „unwürdige“ Arbeiterklasse schilderte Heffer mir in einem Gespräch als jenes „wilde“ Proletariat, das man für die Unruhen verantwortlich gemacht hat. Was er damit produzierte, war genau die Karikatur eines Chav – auch wenn es Heffer nicht im Traum einfallen würde, dieses Wort zu gebrauchen.
Obwohl die meisten Briten es nicht so platt wie Heffer formulieren würden, ist die britische Elite auf diese Theorie voll abgefahren. Für die Rechte ist alles, was nicht Mittelschicht-Großbritannien ist, eben Unterschicht. Ihre wichtigste Inspirationsquelle war dabei der dubiose Politikwissenschaftler Charles Murray, der am neokonservativen American Enterprise Institute in Washington arbeitet. Murray vertritt die These, die Unterschicht sei Resultat der vielen unehelichen Kinder alleinerziehender Mütter, die jetzt die britischen Konservativen wieder aufwärmen, wenn sie die Krawalle vom August auf die vaterlosen Familien zurückführen.
„Wir sind jetzt alle Mittelschicht“, hatte zwar bereits Tony Blair verkündet, aber bei New Labour hießen die, die nicht dazugehören, noch „sozial Ausgegrenzte“. Wobei dieser Begriff allerdings in dem Sinne gemeint war, „dass ich mich selbst ausgrenze, dass es einen Prozess gibt, in dessen Verlauf mein eigenes Verhalten sich in meiner sozialen Stellung niederschlägt“.4 Mit anderen Worten, wer nicht zur britischen Mittelschicht gehörte, war – jedenfalls teilweise – selbst daran schuld.
Was hier sichtbar wird, ist der ultimative Triumph konservativen Regierens im Sinne Margaret Thatchers, die mit ihrer in den 1980er Jahren entfesselten Revolution des freien Markts einen fundamentalen Wandel der britischen Gesellschaft eingeleitet hat. Thatcher hat einmal gesagt: „In diesem Lande gibt es im Grunde keine Armut im eigentlichen Sinne mehr.“ Wenn jemand arm sei, dann nur, weil er nicht mit Geld umgehen könne. Das seien also nur noch Leute mit „schweren Charakter- und Persönlichkeitsstörungen“.
Der Thatcherismus etablierte die allgemeine politische Überzeugung, dass alle Menschen in die Mittelschicht aufsteigen wollen. Wer es nicht schafft, den bestraft das Leben. Mit dieser Ideologie ging ein Großangriff auf die Grundpfeiler der Arbeiterklasse einher: auf Industrien wie die Kohleförderung, Werften und Fabriken, die ganze Städte und Regionen am Leben erhielten, wurden dichtgemacht; auf Institutionen wie die Gewerkschaften und der soziale Wohnungsbau; auf ethische Prinzipien wie Solidarität, die von einem Ellenbogenindividualismus zermürbt wurden. Ende der 1980er Jahre hatte der Thatcherismus die Identität und das Selbstbewusstsein der britischen Arbeiterklasse weitgehend zerstört.
Das hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Einstellungen insgesamt. Nach einer neueren Umfrage bezeichnen sich 71 Prozent der Befragten als zur Mittelschicht gehörig – sehr viel mehr als je zuvor. „Erstmals wurde die Zuschreibung ‚Arbeiterklasse‘ in den Antworten verunglimpfend verwendet und mit anderen, klassenspezifischen Beleidigungen wie Chav gleichgesetzt“, berichtet die Meinungsforscherin Deborah Mattinson. Diese Reaktion zeigten auch viele Personen, die zwar nach objektiven Kriterien der Arbeiterklasse zuzurechnen waren, aber auf keinen Fall mit dieser pejorativen Kategorie belegt werden wollten und sich deshalb lieber als „Mittelschicht“ klassifizierten.
Nach dieser Umfrage fühlt sich nur noch eine Minderheit von 24 Prozent der Arbeiterklasse zugehörig. Und sie assoziieren dies vor allem mit „arm sein“ und kaum noch mit etwas, worauf man stolz sein kann. Für die meisten von ihnen ist „Arbeiter“ eine Existenzform, die sie möglichst weit hinter sich lassen wollen.
Nachdem die positive Identität der Arbeiterklasse zerstört und das Thatcher-Mantra, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, zum Allgemeingut geworden ist, hat sich Chav-Bashing zur letzten salonfähigen Form des Sozialdünkels entwickelt. Vor Kurzem vertrat der Historiker David Starkey in einer Diskussionsrunde des BBC die Ansicht, für die Unruhen sei die „Kultur der Schwarzen“ verantwortlich. Dagegen gab es im ganzen Land – völlig zu Recht – heftige Proteste. Einen ähnlichen Aufschrei haben die ständigen Verbalattacken auf die „Chavs“ und die „wild gewordene Unterschicht“ nicht ausgelöst.
Während der Unruhen verkündete die Firma GymBox, die gehobene Fitnessstudios betreibt, dass ihre Filialen wegen der „Chav-Verseuchung“ früher schließen müssten. Die Sprache ist nicht neu: Schon 2009 hat GymBox seinen Kunden einen Kurs in „Chav-Kampf“ angeboten und mit dem Spruch beworfen: „Warum an Sandsäcken und Holzbrettern trainieren, wenn man auch Chavs plattmachen kann?“ Fitness und Klassenressentiment in schönster Harmonie.
Als ich vom Manager der Firma, Richard Hilton, wissen wollte, was er unter Chavs versteht, war seine Antwort: „Die vermehren sich meist schon mit fünfzehn.“ Auf die weitere Frage, was er von anderen Formen von dünkelhaften Vorurteilen wie Sexismus, Rassismus und Homophobie halte, meinte er, solche Einstellungen seien „völlig inakzeptabel“. Genau darin zeigt sich eines der beunruhigendsten Aspekte des Chav-Bashing: Es wird sogar von Leuten mitgemacht, die nicht mal im Traum auf den Gedanken kämen, über Frauen, ethnische Minderheiten oder Homosexuelle zu lästern.
Die Arbeiterklasse hat sich in Luft aufgelöst
Ein weiteres Beispiel ist der Touristikveranstalter Activities Abroad, der sich auf teure Fernreisen spezialisiert hat. Das Unternehmen hat einen „Chav-freien Urlaub“ im Angebot. Doch Geschäftsführer Alistair McLean zeigte sich auf Anfrage völlig uneinsichtig: „Ich denke, es ist einfach an der Zeit, dass die Mittelschicht endlich mal zu sich selber steht. Ob sich das nach Klassenkampf anhört oder nicht, ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich mich zur Mittelschicht bekenne.“
Bei dieser ertricksten Trennung zwischen „Mittelschicht“ und „Chav“ hat sich die echte Arbeiterklasse gleichsam in Luft aufgelöst. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass sich die Arbeiterklasse tatsächlich verändert hat. 1979 arbeiteten noch 7,9 Millionen Menschen in der Industrieproduktion, heute sind es kaum mehr als 2,5 Millionen. Immer weniger Leute sind auf Werften oder in Minen und Fabriken beschäftigt, immer mehr in Callcentern, Supermärkten und Büros. Die heutigen Arbeitsplätze sind sauberer und weniger schweißtreibend, und Frauen sind nicht mehr so stark ausgegrenzt; aber sie sind auch weniger sicher, schlechter bezahlt und mit weniger Prestige ausgestattet. Ein Supermarkt kann nicht zum Zentrum einer ganzen lokalen Gesellschaft werden wie es früher die Zechen oder Fabriken waren.
Der Zusammenbruch der britischen Industrie hat den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhalt weitgehend zerstört. Viele Arbeiterstädte haben sich von diesem Schlag nie wieder erholt, weil kaum noch feste Stellen entstehen, die das entstandene Vakuum füllen könnten. Die Zahl der Nichterwerbstätigen – ob arbeitslos oder erwerbsunfähig – ist an den ehemaligen Industriestandorten bis heute besonders hoch geblieben.
Junge Männer aus der Arbeiterklasse gingen einst mit 16 von der Schule ab, um in der Industrie eine Lehre zu machen, die das Tor zu einem anständig bezahlten und respektablen Beruf darstellte. Und der strukturierte nicht nur das Leben der Arbeiter, sondern vermittelte ihnen auch beruflichen Stolz und Selbstwertgefühl. All das hat die gnadenlose Deindustrialisierung unter Thatcher zerstört. Die Jugendarbeitslosigkeit hat einen neuen Rekordwert erreicht: In Großbritannien ist jeder fünfte Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren ohne Arbeit.
Aber selbst wer das Glück hatte, eingestellt zu werden, findet sich dank eines weitgehend deregulierten Arbeitsmarkts in zutiefst unsicheren wirtschaftlichen Verhältnissen wieder. Derzeit gibt es in Großbritannien 1,26 Millionen Erwerbstätige, die keine Vollzeitstelle finden konnten und sich mit einem Teilzeitjob begnügen müssen. Hinzu kommen 1,5 Millionen Zeitarbeiter, die binnen Stunden angeheuert und gefeuert werden können und für dieselbe Arbeit mit einem geringeren Lohn abgespeist werden; zudem haben sie weder Anspruch auf bezahlten Urlaub noch auf eine Abfindung bei Entlassung.
Schon vor den jüngsten Unruhen wurden junge Arbeiter immer wieder als feral, also „wild“ beschrieben. Jedermann weiß, dass es in ärmeren Gegenden häufiger zu antisozialem und kriminellem Verhalten kommt.5 Aber angesichts der vielen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse, die keine oder nur eine höchst unsichere Zukunft haben, ist es nicht erstaunlich, wenn eine Minderheit von ihnen mit negativer Aggressivität reagiert. Nach einer 2009 publizierten Studie des Prince’s Trust leiden junge Arbeitslose häufiger unter Ängsten und Depressionen und sind auch stärker suizidgefährdet.
Kein Aufstand der Armen und Entrechteten
Die meisten der Angeklagten, die nach den Unruhen vor Gericht gestellt wurden, sind unter 24; in aller Regel sind sie männliche Arbeitslose. In Tottenham, wo die Plünderungen begannen, kommen auf jede offene Stelle 34 Arbeitslose. Die Randalierer repräsentieren nur einen winzigen Bruchteil der britischen Jugendarmut.
Wann immer ich bei Interviews in der BBC oder bei Sky News auf diesen Punkt hinweise, wird mir entgegengehalten, dass die meisten Armen und Arbeitslosen nicht im Traum daran dächten, sich an Krawallen und Plünderungen zu beteiligen. Das ist natürlich richtig. Aber um die Straßen in Chaos und Gewalt versinken zu lassen, reicht schon eine kleine Minderheit von Menschen, die mit dem Gefühl leben, dass sie nichts zu verlieren haben.
Die Ausschreitungen des letzten Monats waren durchaus kein heroischer Aufstand der Armen und Entrechteten, schon weil zu denen, die am meisten unter ihnen gelitten haben, auch die Bewohner der ärmsten Arbeiterbezirke gehörten. Wenn Arme gegen Arme kämpfen, ist das eine für die Reichen nützliche Spaltung. Und sie ist keineswegs neu: Die Boulevardpresse schürt seit Langem mit Berichten über luxuriös lebende Migranten die Ressentiments speziell der 5 Millionen Nichtemigranten, die auf den Wartelisten für Sozialwohnungen stehen. Und natürlich kann man Leute, die sich mit unattraktiven Billigjobs durchs Leben schlagen, leicht in Rage bringen, wenn man ihnen Geschichten von „Sozialschmarotzern“ serviert, die sich ohne feste Arbeit einen Lenz machen. Das klappt sogar in einem Staat, dem durch Sozialhilfebetrug nur 1,2 Milliarden Pfund an Einnahmen entgehen, durch Steuerhinterziehung hingegen 70 Milliarden.
In jedem Fall werden diese und künftige Krawalle den sozialen Zusammenhalt in den Arbeiterbezirken weiter schwächen. Und die allgemeine Aufmerksamkeit von der Tatsache ablenken, dass es den Reichen trotz des harten Sparkurses der Regierung gelingt, ihre Einkommen und Vermögen immer weiter zu vermehren.6
Für eine umfassende Bilanz der August-Krawalle ist es noch zu früh. Doch schon jetzt steht fest, dass die unmittelbaren Folgen eher deprimierend sind. Angst und Hass, die sich gegen die „wild gewordene Unterschicht“ richten, haben weiter zugenommen. Damit wird – genau zu Zeiten der Wirtschaftskrise – jedes Mitgefühl mit den Armen und Arbeitslosen gewaltsam erstickt. Die sozialen Probleme, die den Humus für diese Unruhen bilden, bleiben nicht nur ungelöst, sie werden durch die bevorstehenden Einschnitte bei den Sozialausgaben sogar noch weiter verschärft. Was wir im August an Gewalt gesehen haben, war hässlich, ja furchterregend.7 Aber es war womöglich nur ein düsterer Vorbote dessen, was wir noch erleben werden.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Owen Jones ist der Autor von „Chavs. The demonisation of the working class“, London (Verso) 2011.