Die Terroristen
Von RAF bis al-Qaida von Laurent Bonnelli
Der Film „La Prima Linea“ endet mit den Worten: „Heute sehe ich hinter jedem Toten eine Person, ein Individuum. All diese Opfer, selbst die indirekten, trage ich in mir. Denn ich war einer von denen, die Entscheidungen über Leben und Tod beantragt, getroffen und vollstreckt haben. Meine Verantwortung ist eine rechtliche, eine politische und eine moralische. Alle drei nehme ich auf mich.“
Das Bekenntnis stammt von Sergio Segio, auf dessen Autobiografie der Film beruht. Segio alias Comandante Sirio war Mitbegründer der linksextremistischen Prima Linea, die Ende der 1970er Jahre in Italien den „bewaffneten Kampf“ aufgenommen hatte.1 Als Segio 2004 nach 22 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde, erklärte er: „Wir glaubten, im Recht zu sein, doch wir waren im Unrecht. Aber damals wussten wir das nicht.“
Über die Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland, der Action directe (AD) in Frankreich, des Terroristen Ilich Ramírez Sánchez (besser bekannt als „Carlos“) und sogar der Japanischen Roten Armee sind ebenfalls Filme entstanden. Verlage bringen die Memoiren von Exterroristen heraus, und selbst Mainstream-Medien sind inzwischen bereit, „Ehemalige“ über ihre Vergangenheit auszufragen. Die langen Haftstrafen, die sie verbüßen mussten, und die Kritik, die sie zuweilen an ihren früheren Aktionen üben, machen offenbar eine gewisse Empathie möglich, die lange als unzulässig galt.
Zu einem so verständnisvollen Blick sind nicht alle bereit. In Italien hat die Weigerung Brasiliens, das einstige Mitglied der Bewaffneten Proletarier für den Kommunismus (PAC), Cesare Battisti auszuliefern, im Januar 2009 einen wahren Proteststurm ausgelöst. Auch in Frankreich sind längst nicht alle Wunden verheilt: Vor drei Jahren wurde dem Mitbegründer der Action directe, Jean-Marc Rouillan, der offene Vollzug verweigert, nachdem er ein Interview gegeben hatte. Und im November 2008 schürte die damalige Innenministerin – unter Berufung auf ihre Polizei- und Geheimdienstexperten – die Angst vor einer „Rückkehr der Ultralinken“.
Das neu erwachte Interesse für den Linksextremismus der 1970er und 1980er Jahre mutet indes bescheiden an, vergleicht man es mit den zahllosen Schriften über den „islamistischen Terrorismus“, der mittlerweile im Zentrum der Debatten über politische Gewalt steht. Der Kriminologe Andrew Silke, der den Bereich „Terrorism Studies“ an der University of East London leitet, hatte 2007 ermittelt, dass seit dem 11. September 2001 alle sechs Stunden ein neues englischsprachiges Buch über das Thema erschienen war.2
Die Flut von journalistischen Beiträgen und mehr oder weniger glaubwürdigen Zeugenberichten „reumütiger“ radikaler Muslime oder ehemaliger Geheimagenten wird dabei ergänzt durch hunderte akademische Publikationen. In den meisten werden die äußeren Merkmale eines „neuen Terrorismus“ umrissen, die diesen angeblich von früheren Formen politischer Gewalt unterscheiden – wohingegen sich praktisch niemand daran macht, die Mechanismen zu vergleichen.
Der Ertrag dieser Papierberge ist enttäuschend. Wie Silke aufzeigt, basieren 80 Prozent der Forschungen lediglich auf Material aus zweiter Hand (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen). Nur ein Prozent stützt sich auf Interviews, eine systematische Befragung von Dschihadisten kommt gar nicht vor.3 Dieses empirische Defizit führt zwangsläufig dazu, dass die öffentlichen Verlautbarungen der islamischen Militanten überinterpretiert werden – als ließen sich die Gründe für terroristische Aktionen aus den Selbstrechtfertigungen der Protagonisten ableiten.
Die „Sinngebung“ eines Konflikts – sei er nationalistisch, religiös oder sozial – erfolgt vielmehr häufig erst im Nachhinein, wenn sich die Akteure genügend Autorität verschafft haben, um die Legitimationsbasis für ihre Aktionen darzulegen. Ein Beispiel: Die religiöse Begründung des algerischen Befreiungskriegs wurde nach der Unabhängigkeit weitgehend aus dem Repertoire gestrichen, obwohl sie während des Konflikts sogar vom französischen Geheimdienst als wesentlicher Faktor gesehen worden war.4
Mit Ausnahme einiger profunder Kenner der muslimischen Gesellschaften betrachten die meisten Forscher den islamischen Radikalismus wie eine Erscheinung sui generis, die man völlig abgeschottet von anderen Feldern der Sozialwissenschaften studieren könne. Die neue „Terroristologie“ wurde also nach Art der früheren „Sowjetologie“ betrieben, deren Vertreter glaubten, die Sowjetunion anhand der Äußerungen der kommunistischen Parteiführer und der mutmaßlichen Gründe ihres Karriereverlaufs erklären zu können.
Die Probleme mit der Empirie erklären freilich nicht alles. Der vorherrschende Typ von Analyse hat auch mit den sozialen Eigenheiten seiner Produzenten zu tun. Und natürlich mit deren beruflicher Position an der Schnittstelle zwischen Wissenschaftsbetrieb, Welt der Geheimdienste (aus denen sie stammen oder mit denen sie regelmäßig zusammenarbeiten), öffentlichen Thinktanks und nationalen oder internationalen Kommissionen, aber auch dem Medienbereich. Diese Experten sind also vor allem dazu da, politische Entscheidungshilfe in Bezug auf eine Gefahrenlage zu liefern, die als besonders bedrohlich hingestellt wird. Dagegen gehört es nicht zu ihren Aufgaben, die zugrunde liegende Konfliktdynamik herauszuarbeiten.
Wer „politische Gewalt“ verstehen will, muss zuallererst die scheinbare Einheit des Phänomens hinterfragen. Auch wenn es punktuelle Verbindungen zwischen den italienischen Terroristen und der Action directe, zwischen der RAF und den Bewaffneten Revolutionären Libanesischen Fraktionen (FARL) gegeben hat, bedeutet dies nicht, dass diese Gruppierungen damals am selben „roten Gängelband“ hingen (das heißt durch die Sowjetunion manipuliert wurden), und auch nicht, dass sie alle dieselben Ziele verfolgten.
Genauso absurd ist heute die Annahme, nur weil die Kämpfer der algerischen Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) und die der radikalislamischen Jamaah Islamiya in Indonesien bereit waren, sich unter das Banner von al-Qaida zu stellen, seien die Aktionen beider Gruppen von denselben Motiven getrieben.
Ebenso künstlich wäre es, Gruppen von einigen Dutzend oder auch hunderten radikaler Islamisten mit demselben Etikett zu versehen wie weit größere militarisierte politische Organisationen, die über eine starke soziale und territoriale Basis verfügen. Das gilt etwa für die Hamas in Palästina oder die kurdische PKK – die dennoch von der EU und anderen internationalen Instanzen als „Terroristen“ definiert werden.5
Politische Gewalt lässt sich fraglos angemessener analysieren, wenn man das soziale Umfeld betrachtet, in dem sie auftritt, aber auch die Organisationen, die diese Gewalt ausüben, und die persönlichen Karrieren der Akteure.6 Dann zeigt sich, dass die „Gewaltzyklen“ in Europa und Japan zwischen Ende der 1960er und Ende der 1980er Jahre vor allem damit zu erklären sind, dass in dieser Periode die alten sozialen Bewegungen entscheidend geschwächt wurden. Diese Entwicklung trieb etliche Aktivisten in den bewaffneten Kampf. Ganz ähnlich lässt sich das Aufkommen dschihadistischer Gruppen in den 1990er Jahren damit erklären, dass die politischen Kräfte, die sich zum Islam bekennen, nicht an die Macht gelangen konnten (das gilt insbesondere für Algerien, Ägypten und Saudi-Arabien).7
Die Radikalisierung vollzieht sich allerdings in unterschiedlichen Formen. In Italien entwickelte sie sich vor allem in der Arbeitswelt. Ende der 1960er Jahre brachen in den Fabriken Norditaliens (vor allem bei Pirelli und Siemens) heftige Konflikte aus, die zum Nährboden für die „Propaganda der bewaffneten Tat“ wurden. Entsprechend spiegelten die ersten Aktionen – Zerstörung von Autos der Vorarbeiter, Einschließen von Managern – die soziale Zusammensetzung der militanten Gruppen wider. Von den 1 337 Personen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Roten Brigaden (Brigate Rosse) verurteilt wurden, waren über 70 Prozent Arbeiter und Angestellte aus dem Dienstleistungssektor. Auch von den 923 juristisch belangten Mitgliedern der linksextremistischen Prima Linea, die aus vielen Arbeitslosen und Studenten bestand, waren ein Großteil Arbeiter.8
Die RAF rekrutierte sich eher aus der Studentenschaft und dem intellektuellen Bürgertum. Der Soziologe Norbert Elias führte die Entstehung der deutschen Außerparlamentarische Opposition (APO) Ende der 1960er Jahre auf einen „sozialen Generationskonflikt“ zurück. Als dessen Hauptmerkmal sieht er einen Antagonismus zwischen der stark politisierten, aber nicht in politischer Verantwortung stehenden jungen Generation und den Älteren, die in den Machtpositionen saßen.9
Dass sich die politischen Bewegungen gerade in Italien und Deutschland am stärksten radikalisierten, lag auch daran, dass hier die Angst vor einer Rückkehr faschistischer Regierungen 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeprägter war als anderswo. „Seit der Piazza Fontana wurde mit Massakern Politik gemacht“, lautet eine typische Aussage von Mario Moretti, der zur Führungsriege der Roten Brigaden zählte.10
Nachdem Rechtsextremisten am 12. Dezember 1969 in der Landwirtschaftsbank in Mailand eine Bombe gezündet hatten, die 16 Todesopfer forderte und fast 100 Verletzte zurückließ, drohte eine autoritäre Entwicklung. Von dieser Gefahr spricht auch Sergio Segio: „Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass sie einen Staatsstreich vorbereiten, wie in Griechenland oder in Chile. Und dass sie uns töten würden. Damit hatten sie ja schon begonnen.“
Die Roten Brigaden und die alten Partisanen
Tatsächlich wurden zwischen 1969 und 1975 Attentate und politische Gewalttaten vor allem von rechten Gruppen verübt (95 Prozent der Attentate zwischen 1969 und 1973, 85 Prozent der von 1974 und 78 Prozent der von 1975).11 Die extreme Linke verstärkte ihre terroristischen Aktivitäten erst später: Fast 80 Prozent der tödlichen Attentate, die ihr zugeschrieben wurden oder zu denen sie sich bekannte, fallen in die Zeit zwischen 1978 und 1982.12
In Deutschland hielt die junge Generation der Machtelite vor, direkt oder indirekt für Hitlers Aufstieg verantwortlich gewesen zu sein. Wie Norbert Elias schreibt, gingen die linken Studenten davon aus, „dass sich die Neigung zum Gebrauch von physischer Gewalt, die im Falle der Weimarer Republik zur Errichtung einer autokratischen Gewaltherrschaft geführt hatte, auch in der Bonner Republik wieder durchsetzen könne“. Ihre „reformerischen und revolutionären Energien“ entsprangen zumeist der Vorstellung, „dass hinter der Maske ihres parlamentarischen Mehrparteienstaats bereits ein neuer Diktator mit seinen Heerscharen auf seine Stunde lauere und dass die Polizei der Bundesrepublik sein Vortrupp sei“.13
In Frankreich war die Situation anders. Das Vichy-Regime hatte nur noch wenige nostalgische Anhänger. Die Versuche der extremen Rechten, das Volk für das französische Algerien zu mobilisieren, waren gescheitert. Das Regierungsprogramm, dass 1972 die Sozialisten und die Kommunisten wie auch die Linksradikalen unterzeichnet hatten, kanalisierte die reformerischen Energien und eröffnete den Einzelnen zugleich die Möglichkeiten einer politischen Umorientierung. Die extreme Linke verlor in dem Maße an Gewicht, wie die durch die Ereignisse vom Mai/Juni 1968 entstandene unsichere Lage sich beruhigte und das politische System wieder stabiler wurde.
Die trotzkistische Ligue communiste, die nach einem Angriff auf eine Versammlung der extremen Rechten im Juni 1973 aufgelöst wurde, gab ihre militanten Straßenaktionen auf und verlegte sich mehr auf „die Arbeit in den Fabriken“. Mit der Umbenennung in Ligue communiste révolutionnaire setzte ihr langsamer Niedergang ein, der ihre militanter gesonnenen Mitglieder in Verwirrung stürzte.14 Die 1970 verbotene Gauche prolétarienne löste sich im November 1973 selbst auf. Sie hatte sich nicht zu einem radikaleren Kurs durchringen können, vor allem in der Frage der Entführung eines Renault-Managers, die als Antwort auf den Tod des maoistischen Arbeiters Pierre Overney gedacht war.
Anders als in Italien und Deutschland waren in Frankreich nur wenige Aktivisten an bewaffneten Aktionen beteiligt. Ein paar maoistische Gruppen – wie etwa die Internationalen Brigaden (1974 bis 1977) – forderten Anschläge auf Repräsentanten autoritärer ausländischer Regierungen (zum Beispiel aus Bolivien, Uruguay, Spanien, dem Iran oder Mauretanien). Die maoistischen Noyaux armés pour l’autonomie populaire (Napap) organisierten 1977 mehrere Anschläge auf öffentliche Einrichtungen und große Unternehmen. Das größte Aufsehen erregte dabei die Ermordung des Chefs der Werkspolizei von Renault, der Overney erschossen hatte.
Die Action directe war 1979 aus dem Zusammenschluss der gleichnamigen Bewegung mit den Internationalen Revolutionären Aktionsgruppen (Gari) hervorgegangen. Letztere waren ein Vereinigung von Aktivisten, die auf beiden Seiten der Pyrenäen gegen den Franquismus gekämpft hatten. Jean-Marc Rouillan stand dem spanischen Anarchisten Salvador Puig Antich nahe, der 1974 unter der Franco-Diktatur ermordet worden war. In seinen Memoiren verweist Rouillan mit Nachdruck auf diese Kontinuität: „Wir führten einen drei Jahrzehnte währenden Guerillakrieg fort, wir spannen den dünnen Faden weiter, der unsere Verbindung mit einem Epos darstellte, mit einer Armee in Lumpen und Espadrillen – und mit der Hoffnung, geschrieben in Großbuchstaben und in der Farbe von Pulver und Blei.“15
Moralische Legitimität und praktisches Wissen über den bewaffneten Kampf wurden an die nachfolgende Generation weitergegeben. Man konnte also auf Erfahrungen zurückgreifen, wie man eine Kommandoaktion organisiert, wie man sich falsche Papiere beschaffen oder Banken überfallen kann.
Viele Waffen der Roten Brigaden stammten aus dem Arsenal der Partisanen aus dem Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel eine der Maschinenpistolen, die bei der Entführung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro zum Einsatz kam. Die Action directe hatte ihre Waffen aus Beständen der spanischen Republikaner, die ihr Exil in Frankreich gefunden hatten. Hier gibt es eine Parallele zu den transnational agierenden Dschihadisten. Diese konnten an Erfahrungen im Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan anknüpfen, wo eine ganze Generation von Kämpfern sozialisiert wurde, die sich nicht nur die einschlägigen „Fähigkeiten“, sondern auch die hinterlassenen Waffen, Explosivstoffe und Gelder aneigneten.
Von den Mitgliedern solcher Gruppen werden jedoch nur die wenigsten zu aktiven Terroristen. Was diese Leute antreibt, wird häufig allzu simpel – und damit hilflos – mit einem individuellen pathologischen Hang zur Gewalt oder gar mit einem Todestrieb erklärt.
„Die fanatischen oder angeworbenen Terroristen“, meint die Philosophin Hélène L’Heuillet, „stellen ihren Tod in den Dienst des Todes, weil sie – jedenfalls bei ihrer Rekrutierung – vom Prinzip der nihilistischen Verneinung durchdrungen sind, die einzig und allein die Teilnahme an der Zerstörung einer verhassten Welt verheißt.“16 Das erinnert auf seltsame Weise an die Erklärungen, die 1978 die Anhänger der argentinischen Diktatur für die Motive den bewaffneten Widerstandskämpfer lieferten. Die sprachen von „Todessehnsucht nach Art der tragischen Helden“ oder von „sozialen Verhaltensweisen“ die auf einen „Flirt mit der Liebe zum Tod“ angelegt seien.17
Der Kampf mit der Waffe – eine Frage der Würde
Politische Gewalt ist in aller Regel kollektives Handeln. Der isolierte Einzelne, der sich – früher über Bücher, heute über Internetforen – selbst radikalisiert und dann zur Tat schreitet, ist die äußerst seltene Ausnahme. Insofern ähnelt das Blutbad, das der Norweger Anders Behring Breivik am 22. Juli dieses Jahres in Oslo und auf der Insel Utøya anrichtete, eher einem Massaker mit nichtpolitischem Hintergrund. Das gilt auch für den Amoklauf des US-Majors Nidal Malik Hasan auf dem Militärstützpunkt Ford Hood von 2009, der eher an das zwei Jahre zuvor von einem Einzeltäter angerichtete Massaker auf dem Campus der Virginia Tech in den USA erinnert.
Die entscheidende Rolle spielt vielmehr die Gruppe und vor allem die Familie. Bei Konflikten, die sich über Jahrzehnte hinziehen, sind womöglich gleich mehrere Generationen in den bewaffneten Kampf involviert. Das gilt für einige nationalistische Aktivisten in Irland oder im Baskenland, aber auch für militante Sikhs oder Kurden oder Palästinenser. Claude Halfen, der aus einer Familie von Widerstandskämpfern stammt und Mitglied der Action directe war, erinnert sich: „Meine Großeltern wurden ausgebürgert. Nach 1927 wurden sie wieder eingebürgert, und 1941 fanden sie sich dann plötzlich als Staatenlose wieder, die gejagt wurden wie Freiwild. Ich bin also mit dieser Vorstellung groß geworden, dass es in bestimmten Situationen eine Frage der Würde ist, die Waffen gegen eine unrechtmäßige Macht und deren Gewaltregime zu erheben.“18 Hier liefert die in der Familie weitergegebene Erinnerung das Motiv zu politischen Gewaltaktionen und lässt sie legitim erscheinen.
Dieselbe Funktion können Freundschaften haben. In manchen Fällen wird die Solidarität zwischen jungen Männern aus demselben Stadtviertel zum Bindemittel einer Gruppe. So war es etwa bei Khaled Kelkal (der 1995 in die Attentate in Frankreich verwickelt war) oder bei Mitgliedern von Kommandoeinheiten der spanischen ETA und der nordirischen IRA. Auch kleinere Kreise von Gleichgesinnten können zur Radikalisierung der Individuen beitragen, indem sie eine gemeinsame Wahrnehmung der sozialen Welt erzeugen. Dabei lockern sich die Kontakte zu ehemaligen Freunden oder weniger überzeugten Mitgliedern, während die Kerngruppe im Namen der gemeinsamen Glaubenssätze immer enger zusammenrückt.19
Ihre neuen Mitglieder finden klandestine Organisationen also keineswegs durch Propaganda. Nach Andrew Silke „radikalisieren sich die Einzelnen nicht wegen der Bemühungen eines Al-Qaida-Werbers, auf diesen Prozess haben die etablierten Dschihadisten fast keinen Einfluss“.20 Zum Beispiel hatten die jungen „Rucksackbomber“, die am 7. Juli 2005 die Anschläge auf die Londoner U-Bahn begingen, ein ziemlich distanziertes Verhältnis zur Religion. Und die Al-Qaida-Führung kontaktierten sie erst, als sie darangingen, ihren Plan umzusetzen. Das Abdriften ideologisch radikalisierter Gruppe in die Ausübung von Gewalt ist jedenfalls weder „systemisch“ noch unvermeidlich. Zwei weitere, oft untrennbar verbundene Faktoren müssen hinzukommen: staatliche Verfolgungsmaßnahmen und das Abtauchen in die Illegalität.
In Wirklichkeit ist politische Gewalt fast nie das Werk einer einzigen Gruppe von Akteuren. Sie bezieht sich vielmehr stets auf andere Aktionen und Ebenen: auf die Außenpolitik gegenüber bestimmten Ländern, auf Kriegsaktionen, Zwangsmaßnahmen oder gar Folter, auf die Verschärfung von Überwachungsmaßnahmen, auf schikanös und diskriminierend empfundene Herrschaftstechniken. Zugleich hängt sie von den Strategien und Taktiken der radikalen Organisationen ab. Ein Beispiel: Als die britischen Behörden 1971 in Nordirland fast 2 000 des „Terrorismus“ verdächtige Personen verhaften ließen, trieben sie damit hunderte junge nationalistische Arbeiter in die Arme der IRA.21
Eine weitere Schwelle überschreitet der Terrorist mit dem Abtauchen in den Untergrund, der häufig erfolgt, um sich nach einer relativ geringfügigen Straftat dem Zugriff der Ordnungskräfte zu entziehen. Jetzt hat er sich ganz der Sache verschrieben: Er muss seinen Namen und seine Identität wechseln und mit allem brechen, was ihm vertraut war. Wie uns Mario Moretti schildert, „hängt das Überleben im Untergrund von der Schnelligkeit ab, mit der du dich von Ort zu Ort bewegst, mit der du dein Leben ständig veränderst“. Am Ende werde man in einem ganz existenziellen Sinn zum „Phantom“: „Nicht dass du für dich selbst nicht mehr real bist, auch die Genossen sind real, und die Beziehungen zu ihnen vielleicht sogar besonders intensiv. Aber für alle anderen darfst du nicht mehr existieren.“22
Die Ehefrauen und Weggefährten einiger Männer, die das Attentat vom 11. März 2004 in Madrid durchgeführt haben, haben diesen allmählichen Prozess beschrieben: Wie sich die Mitglieder der Gruppe in der Illegalität immer enger zusammenschließen und sich gleichzeitig von ihrem bisherigen Leben, also selbst von den nächsten Angehörigen, völlig zurückziehen.23
Zum zentralen Bezugspunkt dieses Lebens im Untergrund, das einer strengen Selbstreglementierung unterliegt, wird der Aspekt der Sicherheit. 1975 fanden die Ermittler in einem Versteck in Pavia ein Handbuch mit dem Titel „Sicherheitsnormen und Arbeitsstil“. Darin wurde den Roten Brigaden ein Tagesablauf vorgegeben, bei dem jedes kleinste Detail, von der Ernährung über die Kleidung, dem Gebrauch des Telefons bis hin zu sexuellen Beziehungen, genau geregelt war. Die spanische Guardia Civil entdeckte 2006 ganz ähnliche Anweisungen für die ETA-Mitglieder.
Solche Regeln werden allerdings nicht immer eingehalten: Oft wurden Mitglieder mit Arrest bestraft, weil sie eine Liebesaffäre angefangen oder Kontakt mit ihrer kranken Mutter aufgenommen haben. 1971 konnte die Polizei alle geheimen Wohnungen der chilenischen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) lokalisieren, nachdem ein paar sturzbetrunkene MIR-Aktivisten einen Verkehrsunfall hatten: In ihrem Auto fanden sich Strom- und Gasrechnungen mit ihren Adressen.24 Das Verhalten im Untergrund wird zumeist nicht durch die große Strategie bestimmt, sondern durch kleine, akute Zwänge: Waffen beschaffen, neue Verstecke organisieren, Papiere fälschen, die Kasse füllen – etwa durch Banküberfälle –, die nächste Operation planen, nach einer Verhaftungswelle wieder von vorn anfangen. Das ist der Grund, warum manche taktischen Entscheidungen solcher Gruppen selbst für die Sympathisantenszene kaum nachvollziehbar sind. Die gehen also weniger auf Manipulationen durch die Geheimdienste zurück, wie man zuweilen lesen kann, als vielmehr auf die Zwangsmechanismen eines Getriebes, dem niemand entkommen kann.
Die Notwendigkeit der nächsten Tat
Ein Grund für diese Getriebenheit rührt daher, dass die klandestine Gruppe ihre inhaftierten Genossen nicht fallen lassen darf. Folglich müssen Aktionen geplant werden, um deren Freilassung zu erpressen: Anschläge gegen Gefängnisse (in Italien zum Beispiel in Rovigo durch die Prima Linea im Januar 1982), Geiselnahmen (etwa in der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm 1975 oder das Hijacking der Lufthansa-Maschine „Landshut“ 1977 durch die RAF) oder die Entführung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Aldo Moro in Italien, Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Deutschland). Die ETA in Spanien versuchte immer wieder, durch ihre Aktionen verbesserte Haftbedingungen zu erzwingen.
Terroristische Gruppen sind nach der Logik, mit der sie funktionieren und sich schützen, darauf angewiesen, ihre Mitglieder selektiv zu rekrutieren. Das macht es ihnen zugleich unmöglich, sich zu einer kritischen Masse anzureichern, die das politische Kräfteverhältnis so verändern könnte, dass sie in politische Verhandlungen eintreten könnten. Dieses Dilemma zeigt auch Moretti auf: „Wenn du keine Bresche in die gegnerischen Front sprengst, bleiben deine ganzen Diskurse nur totes Papier.“ Ohne taktische Verhandlungen gebe es keine Antwort auf die entscheidenden Fragen: „Was setzt du durch, was schlägst du heraus, was erreichst du für die, die du repräsentierst?“25
Die Flucht nach vorn und die ständige Steigerung des Aktionsniveaus – bis zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Ordnungskräfte oder Attentate auf Politiker – erleichtern die Dämonisierung der illegalen Gruppen und erweitern die Kluft zu den sozialen Bewegungen, auf deren Unterstützung sie eigentlich bauen. Das wiederum erlaubt dem Staat, die Repressionen weiter zu verschärfen, zum Beispiel in Form von Notstandsgesetzen. Dann bleibt den Militanten häufig nur noch die Wahl zwischen Flucht, Gefängnis und Tod.
Der bewaffnete Kampf kleiner Gruppen beinhaltet zwar immer die Chance, den Staat – also seine Akteure oder Symbole – zu treffen. Doch niemals kann es gelingen, diesen Staat ins Wanken zu bringen, nicht einmal durch Aktionen mit so todbringender Gewalt wie die Anschläge vom 11. September 2001. In dieser Hinsicht stößt der bewaffnete Kampf an dieselben Schranken wie die Propaganda der Tat, die von den Anarchisten des 19. Jahrhunderts gepriesen wurde. Anschläge auf die Repräsentationen der Macht mögen in einigen – und recht großen – Kreisen durchaus auf Sympathie stoßen, aber das heißt keineswegs, dass sich viele in den Kampf hineinziehen ließen. Im Gegenteil: Der Staat reagiert auf solche Attentate mit einer unerbittlichen Repression, die weit über die rechtliche Verfolgung vergleichbarer nicht politisch motivierter Verbrechen hinausgeht.
Joëlle Aubron, die Mitbegründerin der Action directe, hat dieses Dilemma in einem Interview geschildert: „Viele von uns haben gedacht und erwartet, dass der Funken überspringen würde, was aber nicht passierte. Unsere Hypothese war falsch.“26
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Bücher & Filme
Nikolai G. Tschernyschewski: „Was tun?“ (1863), Berlin/Weimar 1980
Fjodor Dostojewski: „Die Dämonen“, (1873) Frankfurt a. M. 2008
Juri W. Trifonow: „Die Zeit der Ungeduld“ (1973), München 1983
Max Hoelz: „Vom ‚Weißen Kreuz‘ zur Roten Fahne. Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse“ (1929), Halle 1989
Erich Wollenberg: „Der bewaffnete Aufstand, Versuch einer theoretischen Darstellung“ (1928/29), Frankfurt a. M. 1971
Willy Brandt: „Guerilla-Krieg“, Schweden 1942, Raubdruck 1972
Josef Skvorecky: „Feiglinge“ (1948/49), Wien 2000
Frantz Fanon: „Die Verdammten dieser Erde“ (1961), Frankfurt a. M. 1981
„Die Schlacht um Algier“: Film von Gillo Pontecorvo (Italien 1965)
Rolf Schroers: „Der Partisan“ (1961), Münster 1995
Albert Camus: „Der Mensch in der Revolte“ (1951), Hamburg 1997
„Viva Zapata“: Film von Elia Kazan (USA 1952)
Ernesto Che Guevara: „Guerillakampf und Befreiungsbewegung“ (1963/64), Bonn 2007
„Che“: Film von Steven Soderbergh (USA 2008/09)
T. E. Lawrence: „Die sieben Säulen der Weisheit“ (1926), München 1979
„Lawrence von Arabien“: Film von David Lean (Großbritannien 1962)
„Zabriskie Point“: Film von Michelangelo Antonioni (USA 1970)
Heinrich Böll, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ (1974), Köln 1984.
Bommi Baumann: „Wie alles anfing“ (1975), Berlin 2001
Stefan Aust: „Der Baader Meinhof Komplex“ (1985), Hamburg 2008 (überarbeitet)
„Black Box BRD“: Dokumentarfilm von Andreas Veiel (Deutschland 2001).
Michael Sontheimer: „ ‚Natürlich kann geschossen werden.‘ Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“, München 2010
Traute Hensch, Katrin Hentschel: „Terroristinnen – Bagdad ’77. Die Frauen der RAF“, Berlin 2009
Inge Viett: „Nie war ich furchtloser“, Hamburg 2005
Till Meyer: „Staatsfeind. Erinnerungen“ (1996), Berlin 2008
Asef Bayat: „Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East“, Stanford 2010
Bill Ayers u. a.: „Flüchtige Tage. Erinnerungen aus dem Weather Underground“, Mainz 2010
„The Weather Underground“: Dokumentarfilm von Sam Green und Bill Siegel (USA 2002)
„Unser Sohn, der Guerillakämpfer“: Film von Mano Khalil (Schweiz 2006)
Thomas Elsaesser: „Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD“, Berlin 2007
Angelika Holderberg: „Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit“, Gießen 2007
Mike Davis und Klaus Viehmann: „Die Geschichte der Autobombe“, Hamburg/Berlin 2007
Navid Kermani: „Dynamit des Geistes: Martyrium, Islam und Nihilismus“, Göttingen 2002
„Ni vieux ni traîtres“: Film von Pierre Carles (Frankreich 2005)
Unsichtbares Komitee: „Der kommende Aufstand“, Hamburg 2010
Tiqqun: „Einführung in den Bürgerkrieg“, auf: www.bloom0101.org
„United Red Army“: Film von Koji Wakamatsu (Japan 2007)
„Carlos“: Film von Olivier Assayas (USA 2010)
Auswahl: Helmut Höge