08.01.2015

Inder gegen Suzuki

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Inder gegen Suzuki

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Zwei Millionen Fahrzeuge wurden 2013 in Indien hergestellt. Damit war das Land der sechsgrößte Autoproduzent der Welt.1 Im Zuge der Regierungskampagne „Made in India“, die Premierminister Narendra Modi nach seinem Amtsantritt im Mai 2014 ausgerufen hat, hofft es 2016 den vierten Platz zu erreichen.

Im Oktober 2014 stellte Modi seine Arbeitsmarktreform vor, die das Wachstum – mit durchschnittlich 8 Prozent pro Jahr – ankurbeln soll. Die Reform beinhaltet weniger Arbeitsschutzkontrollen, verlängerte Ausbildungszeiten und die Förderung prekärer Beschäftigung.2 Solche Maßnahmen, die auch ausländische Investoren anlocken sollen, könnten sich als kontraproduktiv erweisen. Die bereits seit Jahren zunehmende Prekarisierung in der Industrie wird sich verschärfen. Und: Die jungen Arbeiter lassen sich nicht mehr alles gefallen. Sie werden den Arbeitskampf gegen den Autokonzern Maruti-Suzuki, der 2011 und 2012 in blutige Auseinandersetzungen ausartete und hunderte Entlassungen zur Folge hatte, nicht aufgegeben.

Das um die Jahrtausendwende entstandene Industriegebiet Manesar erstreckt sich hinter der nahe Delhi gelegenen Vorstadt Gurgaon entlang der Autobahn, die von Neu-Delhi nach Jaipur führt. Umhüllt von Staub und Abgasen, schlängeln sich Motorrikschas an tonnenschweren Lkws vorbei. Zwischen einer McDonald’s-Filiale und Brachland kündigen Werbetafeln den Bau von Luxusapartments an. An den Ausläufern der Retortenstadt Gurgaon, wo sich Shoppingmalls, Textilfabriken, Villen und Arbeitersiedlungen aneinanderreihen, wartet schon das nächste „Ortsschild“: „Willkommen in der Modell-Industriezone“. In diesem baumlosen, auf dem Reißbrett entstandenen Manesar stehen die neuen Fabriken von Maruti-Suzuki.

Das Staatsunternehmen Maruti Motors Limited wurde 1981 gegründet; bereits zwei Jahre später kam es zum Joint Venture mit Suzuki Motor Japan, der ersten ausländischen Autofirma in Indien. Im Rahmen dieser öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) wurde die erste Fabrik in Gurgaon gebaut, die den eckigen Kleinwagen Maruti 800 produzierte. Das Unternehmen rief die „Revolution auf vier Rädern“ aus: billige Autos für die untere Mittelklasse. Der Maruti wurde zum Symbol des modernen Indiens. Im Zuge der Liberalisierung in den 1990er Jahren zog sich der Staat aus dem Konzern zurück, der 2007 vollständig privatisiert wurde. Seitdem ist Suzuki mit 54,2 Prozent Hauptanteilseigner. Damals wurden auch die Fertigungslinien in Manesar eingerichtet.

In den 1980er Jahren führte Maruti-Suzuki nach dem Vorbild des japanischen Autogiganten Toyota eine neue Arbeitskultur in Indien ein: Leistung und Just-in-time-Produktion. An den Eingängen wurden Stechuhren angebracht, „auch für die Direktoren“, erklärt R. C. Barghava, der Vorstandsvorsitzende der Maruti-Gruppe, stolz.3 Eine Viertelstunde vor Arbeitsbeginn trifft man sich zur kollektiven Gymnastik. Das japanische Managementprinzip „Kaizen“ setzt auf innerbetriebliche Arbeitskreise („Qualitätszirkel“), bei denen die Beschäftigten aufgefordert werden, Vorschläge zur Verbesserung der Produktion zu machen. Wer sich rege beteiligt, darf mittags mit dem Chef essen gehen. Nur eine Gewerkschaft ist im Konzern zugelassen: die Maruti Udyog Kamgar Union (Muku), ein Sprachrohr der Firmenleitung, die in Gurgaon sitzt. In der Fabrik in Manesar gibt es keinen einzigen Gewerkschaftsvertreter.

Die 2007 eröffneten Fabriken wurden nach dem Modell der Fabrik im japanischen Kosai errichtet, erklärt Barghava, „um einen hohen Automatisierungsgrad zu erreichen und die bewährten Praktiken von Maruti-Suzuki umzusetzen“. Die etwa 4 000 Arbeiter kommen aus den umliegenden Dörfern – viele prekär Beschäftigte kehren zum Ernteeinsatz dorthin zurück. Sie arbeiten an sechs Tagen pro Woche jeweils achteinhalb Stunden.

Bei Verspätung wird die Hälfte des Tageslohns gestrichen

„Für uns Bauernsöhne war es eine Ehre, bei Maruti zu arbeiten“, erzählen die Automechaniker Sateesh Kumar und Kushi Ram, die im August 2012 entlassen wurden. „Aber wir wurden schnell enttäuscht. Am Fertigungsband herrschte permanenter Druck. Wir hatten nur 40 Sekunden pro Auto. Die dachten wohl, wir sind Roboter! Wenn der Kollege nicht zur Ablösung erschien, dann musste man weitermachen. Die Überstunden wurden nicht bezahlt.“ In Manesar wissen die Arbeiter, dass sie schlechter bezahlt werden als ihre Kollegen am Gurgaoner Firmensitz, wo die Festangestellten etwa 30 000 Rupien (350 Euro) im Monat verdienen – und damit als „Aristokraten der Arbeiterklasse“ gelten. In Manesar betrug der Grundlohn vor 2012 nur 5 000 Rupien (58 Euro), mit Zuschlägen kam ein Beschäftigter mit Zeitvertrag im Schnitt auf 8 000 Rupien (85 Euro), ein Festangestellter auf 17 000 Rupien (200 Euro).

Wer zu spät kommt, dem streicht die Firmenleitung die Hälfte des Tageslohns. Hat man es versäumt, bei Notfällen in der Familie den Chef vorher zu benachrichtigen, fallen fast alle Zuschläge weg. „Jeder Fehler wird in einem Warnbrief festgehalten. Wenn du zwei oder drei davon hast, kannst du nicht mehr fest angestellt werden“, berichtet Bouddhi Prakash, der bei Suzuki Powertrain arbeitet, die Dieselmotoren und Getriebe herstellt. 2011 entzündete sich der Konflikt bei Maruti-Suzuki an der Arbeitsverdichtung und den Statusunterschieden zwischen Festangestellten und prekär Beschäftigten. Als der Konzern im Juni 2011 erklärte, man wolle nur die Hälfte aller Arbeiter in Manesar fest anstellen, ging bei den Behörden ein Antrag auf die Registrierung einer unabhängigen Gewerkschaft ein. Am nächsten Tag bedrängte die Konzernleitung die Belegschaft, ein Papier zu unterschreiben, in dem sie ihre Zugehörigkeit zur Hausgewerkschaft erklärte. Nur 10 Prozent gaben nach. Es war der Beginn einer Bewegung.

„Wir kamen alle aus derselben Technikschule und haben hier die gleiche Ausbildung gemacht. Wir wurden Freunde. Dann bekamen einige auf einmal eine Festanstellung, die anderen blieben prekär, machten aber die gleiche Arbeit, nur für halb so viel Geld“, erzählen Kumar und Ram. Die Zeitarbeiter durften nicht den Firmenbus benutzen. Und sie bekamen auch keine Diwali-Prämie (eine Art 13. Monatsgehalt). Kein Wunder, dass die jungen Männer empört sind. Die meisten sind zwischen 20 und 25 Jahre alt, sie kommen aus armen Bauernfamilien und würden gern in den glitzernden Shoppingmalls von Gurgaon einkaufen gehen. Doch das können sie sich nicht leisten.

Für Ranjana Padhi von der NGO People’s Union for Democratic Rights (PUDR) ist die Mobilisierung der Arbeiter ein klares Zeichen: „Prekäre Beschäftigung ist heute der Normalfall. In den 1980er Jahren waren noch 80 Prozent der Beschäftigten fest angestellt. Daher rührt das kritische Bewusstsein für die Ausbeutung und die starke Solidarität zwischen Festangestellten und Prekären.“ Die Besetzung der Fabrik hat die Arbeiter zusammengeschweißt.

Nach mehreren Arbeitsniederlegungen beschloss das Management eine 30-tägige Aussperrung der Beschäftigten wegen illegaler Streiks und zwang sie, eine Vereinbarung zu „guter Führung“ zu unterschreiben, wenn sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollten. Obwohl Gewerkschaften seit 1927 zugelassen sind, gibt es in Indien kein Streikrecht. Das Land hat die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu Tarifverhandlungen nicht ratifiziert. Nach neun Monaten gelang es den Arbeitern im März 2012, die Anerkennung ihrer Gewerkschaft Maruti Suzuki Workers Union (MSWU) durchzusetzen. Seit den Protesten gegen die Prekarisierung bei Honda Hero im Jahr 2005 hatte es keinen derartigen Arbeitskampf mehr gegeben. Doch die Firmenleitung von Maruti-Suzuki blieb hart und ging nicht auf die Forderungen der Arbeiter ein. Als am 18. Juli 2012 ein Vorarbeiter einen Arbeiter wegen seiner Zugehörigkeit zur Kaste der Unberührbaren beleidigte und nach Hause schickte, eskalierte der Konflikt. Ein Gebäude wurde in Brand gesetzt und Avnish Kumar Dev, der Leiter der Personalabteilung, erstickte in seinem Büro. 148 Arbeiter wurden festgenommen, darunter die 12 Vertreter der neuen Gewerkschaft.

Im folgenden Monat entließ die Firmenleitung mehr als die Hälfte der Belegschaft. Im Anschluss an die Inhaftierung der 12 Gewerkschaftsvertreter bildete sich ein Unterstützerkomitee, das den Arbeitskampf fortsetzte. Die Firmenleitung von Maruti-Suzuki machte Zugeständnisse. Sie erfüllte Forderungen, führte Busse für die Zeitarbeiter ein, erhöhte deren Löhne um 25 Prozent und die Gehälter der Festangestellten um über 75 Prozent. Der Konzern kündigte an, schrittweise aus der Leiharbeit auszusteigen. Gelegenheitsarbeiter sollten direkt vom Unternehmen eingestellt werden.

Diese jederzeit kündbaren Arbeiter verdienen mit 12 000 Rupien (140 Euro) pro Monat zwar mehr als die Zeitarbeiter, doch sie werden alle nach sieben Monaten entlassen und durch neue ersetzt. Die Personalabteilung achtet darauf, dass die Bewerber nicht aus dem Umland kommen, um Kontakte und Solidaritätsaktionen mit den Entlassenen auszuschließen. Im Frühling 2013 strukturierte die Konzernzentrale in Japan die indische Firmenleitung um und setzte zwei seiner Fachkräfte dort ein – einen stellvertretenden Geschäftsführer und einen Personalberater.

„In Japan gab es in den vergangenen 58 Jahren keinen Streik. Dahinter steht die Idee, das japanische Personalmanagement auf Indien zu übertragen“, berichtete ein höherer Angestellter in der Wirtschaftszeitung Mint.4 Für Suzuki steht viel auf dem Spiel: Der Konzern setzt auf den asiatischen Markt. Das indische Tochterunternehmen ist seine profitabelste Niederlassung. Als regionales Wirtschaftszentrum, von dem Zulieferer mit etwa 30 000 Beschäftigten aus Gurgaon abhängig sind, spielt Maruti-Suzuki seine Macht gegenüber den Behörden des zuständigen Bundesstaats Haryana aus. Der Konzern hat mehrfach mit einer Standortverlegung gedroht und erklärt, andere indische Staaten hätten ihm bessere Bedingungen geboten. Daraufhin griff die Regierung von Haryana durch. Sie entsandte tausend Polizisten, die in der Fabrik von Manesar und in den Werksbussen präsent sind. Auch wurden weitere Überwachungskameras installiert. Und die 147 Arbeiter5 , die alle des Mordes beschuldigt werden, befinden sich weiter in Untersuchungshaft. „Der Vorfall hat Indiens Ruf in der Welt geschadet. Die ausländischen Investoren haben Angst, ihr Geld in Indien zu investieren, denn sie fürchten Arbeiterproteste“, heißt es in der Begründung des obersten Gerichtshof des Pandschab.

Trotz der engen Verbindungen zwischen Konzern, Staat und Justiz geben die jungen Arbeiter ihre Forderungen nach eigenständiger Vertretung jenseits der großen Gewerkschaftsverbände wie dem All India Trade Union Congress (Aituc) nicht auf. Der Aituc, 1920 als erster Dachverband gegründet, ist mit der Kommunistischen Partei Indiens verbunden und war lange Zeit die einflussreichste Gewerkschaft im Industriegebiet Gurgaon-Manesar. „Der Aituc ist sehr bürokratisch und weit weg von den Leuten: Seine englischsprachigen Führer wurde dazu ausgebildet, Konflikte vor Gericht zu lösen“, erklärt der Experte für Arbeiterbewegungen Djallal Heuzé. Im Zuge der Privatisierung und Ansiedlung ausländischer Firmen haben sich die Bundesgewerkschaften in Indien auf den öffentlichen Dienst und einige staatliche Betriebe zurückgezogen. In der Privatwirtschaft sind sie kaum vertreten und kümmern sich lediglich um die Festangestellten. Die prekär Beschäftigten bleiben außen vor.

Nachdem die Arbeiter zunächst versucht hatten, sich mit dem Aituc zusammenzuschließen, hätten sie schließlich beschlossen, ohne dessen Zustimmung zu handeln, berichtet Nayan Jyoti, Student, Gewerkschafter und Mitglied der Arbeiterorganisation Krantikari Naujawan Sabha. Sie stellten eigene Fortbildungen auf die Beine, um von Arbeitern aus ihrer Fabrik anstelle von auswärtigen Kadern vertreten zu werden. Mit Erfolg: Im April 2014 gewannen in Manesar und in Gurgaon die Vertreter der unabhängigen Gewerkschaft MSWU.

Naïké Desquesnes

Fußnoten: 1 Zahlen des Weltverbands der Automobilverbände (Oica): www.oica.net. 2 Vgl. „Shramev Jayate: Modi govt plucks some key low-hanging fruit for labourreforms“, in: The Indian Express, Neu-Delhi, 17. Oktober 2014. 3 Siehe auch R. C. Barghavas und Seethas Firmenporträt, „The Maruti Story. How a Public Sector Company Put India on Wheels“, Neu-Delhi (HarperCollins) 2010. 4 Amrit Raj, „Maruti Manesar’s fallout: A management shuffle“, in: Mint, Neu-Delhi, 9. April 2013. 5 Vgl. den Bericht „Merchants of Menace“ der International Commission for Labour Rights, New York, 27. Juni 2013. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Naïké Desquesnes ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Naïké Desquesnes