Willkommen in Japan
von Marc Humbert
Nachdem Japans Premierminister Shinzo Abe mit seinen vor zwei Jahren angekündigten Maßnahmen zur Konjunkturbelebung, den „Abenomics“, nicht sonderlich erfolgreich war, trat er im November 2014 die Flucht nach vorn an. Vor dem regulären Ende seiner Amtszeit sollten am 14. Dezember Neuwahlen stattfinden. Es ging dabei nur um die Zustimmung für seine Wirtschaftspolitik. Dementsprechend warben die Liberaldemokraten mit einem einzigen Slogan: „Kono michi shika nai“ (Es gibt nur diesen Weg) – in Anlehnung an Margaret Thatchers Tina-Leitsatz „There is no alternative“.
Abe verzichtete nach seinem klaren Wahlsieg zwar auf die für den 1. Oktober 2015 geplante zweite Anhebung der Mehrwertsteuer, die bereits im April 2014 auf 8 Prozent erhöht worden war. Doch nach den ersten beiden Maßnahmen – Erhöhung der Liquidität und Ausbau öffentlicher Investitionen1 – sollen nun die umstrittenen Strukturreformen eingeleitet werden.
Abes Plan, ungelernte ausländische Arbeitskräfte ins Land zu holen, stößt in Japan auf Argwohn. Dabei werden gerade im Bausektor, gerade im Wiederaufbaugebiet rund um Fukushima, dringend Leute gebraucht. Und in Tokio sollen bald die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2020 beginnen.
Seit sieben Jahren sinkt Japans Bevölkerungszahl. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren beschleunigen.2 Kamen im Jahr 2000 noch 3,6 Beschäftigte auf einen Rentner, werden es 2025 nur noch 1,9 sein. Zwei Maßnahmen sollen dem entgegenwirken: Die Frauenerwerbstätigkeit soll gesteigert werden – und Abe will die Zuwanderung fördern. Das machte er im Februar 2014 vor dem Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses klar: „Ob wir mehr Einwanderer aufnehmen oder nicht, ist für die Zukunft des Landes und den Lebensstandard unserer Bevölkerung eine entscheidende Frage.“3
Untersuchungen gehen davon aus, dass Japans Bevölkerung von 127 Millionen Einwohnern (2010) auf 87 Millionen im Jahr 2060 zurückgehen wird – es sei denn, die Geburtenrate stiege bis 2030 auf jährlich 2,07 Geburten (derzeit liegt sie bei 1,39), und es kämen jährlich 200 000 Migranten ins Land. Dann könnte sich die Zahl bei 110 Millionen Einwohner einpendeln.
Ende April verteidigte Abe seine Pläne im Fernsehen : „Es geht nicht um Einwanderung. Wir wollen, dass die Ausländer für begrenzte Zeit hier arbeiten und Geld verdienen und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren.“ Niemand müsse befürchten, ließ er sich am 2. Juni in der Japan Times zitieren, dass Japan ein Einwanderungsland werde, schließlich wisse er, dass es „in den Ländern, die Einwanderer aufgenommen haben, viele Konflikte gegeben hat und viel Unzufriedenheit, sowohl bei den Neuankömmlingen wie bei der einheimischen Bevölkerung“. Ende Juni 2014 wurde seine überarbeitete „Strategie zur Wiederbelebung Japans“ veröffentlicht, inklusive des Vorschlags, massiv ungelernte Arbeitskräfte ins Land zu holen – nur hat man auf die Nennung konkreter Zahlen verzichtet.
Es wird nicht leicht werden, den jährlichen Zuzug einer großen Zahl ungelernter Arbeitskräfte zu organisieren. Seit 1945 folgt Japan dem Prinzip, keine Einwanderer ins Land zu lassen. Dementsprechend gibt es eine allgemeine Skepsis gegenüber Abes Plänen. Seit 1985 wurden zwar schon verschiedentlich Ausnahmen gemacht, doch die Anzahl der Migranten und Einbürgerungen ist im Vergleich zu den wichtigsten Ländern der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gering. Nach OECD-Angaben waren in Japan im Jahr 2008 (jüngere Zahlen gibt es nicht) 1,6 Prozent der Bevölkerung Ausländer (gegenüber 8,6 Prozent in Deutschland und 6,7 Prozent in den Vereinigten Staaten).
Der Anteil von Ausländern an den Erwerbstätigen ist mit 0,3 Prozent verschwindend gering – in Deutschland beträgt 9,4 Prozent und in den USA mehr als 15 Prozent. Einbürgerungen sind in Japan selten: 2013 wurden nur 0,5 Prozent der neu Eingewanderten eingebürgert – 43 Prozent der Immigranten kamen aus Südkorea.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren vier Fünftel der in Japan lebenden Ausländer Koreaner. Das geht auf die japanische Kolonialzeit zurück, in der Korea zwischen 1910 und 1945 von Japan annektiert wurde. Die Koreaner galten damals als Untertanen des Kaisers und erhielten auch das Wahlrecht. Doch nachdem das im Zweiten Weltkrieg besiegte Japan 1952 seine Souveränität wiedererlangt hatte, erklärte die Regierung die Koreaner offiziell zu Ausländern.
Kaum Bürgerrechte für Zuwanderer
Den mehr als 2 Millionen Koreanern, die damals in Japan lebten, wurde nahegelegt, in ihre Heimat zurückzukehren. 620 000 Koreaner blieben und wurden damals noch mehr als zuvor diskriminiert. Sie hofften an ihren eigenen kulturellen Traditionen festhalten zu können, während sie im Land lebten, arbeiteten und Japanisch sprachen. Deshalb wünschten sie sich eine rechtliche Gleichstellung. Natürlich konnten sie die japanische Staatsbürgerschaft beantragen, aber bis 1985 bedeutete das den Verzicht auf ihren koreanischen Namen. Bis dahin waren nur 150 000 Koreaner eingebürgert worden.
Seit 1985 dürfen sie ihren koreanischen Familiennamen – in japanischer Schreibweise – behalten. Doch die Hürden bei der Einbürgerung sind bis heute sehr hoch und die Zahlen gering. Abgesehen von ihren eigenen Kulturzentren und Schulen unterscheiden sich die Koreaner kaum von der japanischen Bevölkerung. Ihre Herkunft zeigt sich oft erst, wenn sie ihre Papiere vorzeigen müssen.
Zwar sagen viele japanische Eltern, sie würden es nicht gern sehen, wenn eines ihrer Kinder einen Koreaner oder eine Koreanerin heiratet, dennoch ist die Zahl entsprechender Ehen hoch. Nach einer Untersuchung des Soziologen Yasunori Fukuoka4 , der die Zahlen bis 1995 ausgewertet hat, haben in sieben von elf Fällen sogenannte zaïnichi (in Japan Lebende) oder oldcomers (schon lange Ansässige) einen japanischen Ehepartner. Noch häufiger sind Eheschließungen mit koreanischen newcomers (Neuankömmlingen) aus Südkorea, deren Zahl seit den 1980er Jahren stetig steigt: Inzwischen leben 180 000 südkoreanische newcomers in Japan, gegenüber 90 000 oldcomers.
Im Lauf der Jahre hat sich die Situation der zaïnichi verbessert. Seit 1991 genießen sie einen Sonderstatus und haben es nach Protesten 1993 erreicht, dass ihre Ausweispapiere keine Fingerabdrücke enthalten. Diese Regelung wurde 2000 für alle übernommen, bevor der Fingerabdruck sieben Jahren später im Namen des Kampfs gegen den Terrors wieder eingeführt wurde.
Nach und nach wurden den zaïnichi zwar gewisse soziale Rechte zugesprochen, wie der Anspruch auf eine staatliche Rente. Doch werden sie immer noch wie Bürger zweiter Klasse behandelt: Sie dürfen nicht wählen, bekommen keine Stellen im öffentlichen Dienst und erleben oft Diskriminierungen durch die japanische Mehrheitsbevölkerung. Umso erstaunlicher ist es, dass die meisten von ihnen wirtschaftlich und gesellschaftlich genauso erfolgreich sind wie die Japaner.5
Seit Ende der 1980er Jahre sind die Koreaner nicht mehr die einzige ausländische Gemeinschaft in Japan; nicht weil sie vermehrt eingebürgert worden wären, sondern weil die Gesamtzahl der Ausländer, die bis weitgehend stabil geblieben war, begann zuzunehmen. So hat Japan auf internationalen Druck hin vietnamesische Flüchtlinge aufgenommen. Auch haben Unternehmer, die vor allem gering bezahlte Ungelernte beschäftigen, die Regierung gedrängt, die Vorschriften für die Zuwanderung von Arbeitskräften, insbesondere aus asiatischen Ländern, zu lockern.
Die Regierung reagierte mit zwei Maßnahmen: 1993 wurden Ausbildungspraktika für Ausländer eingerichtet. Im Rahmen des Programms, das in leicht abgewandelter Form bis heute besteht, können gering qualifizierte junge Arbeitskräfte bis zu drei Jahre in Japan arbeiten.6 Ende 2013 gab es mehr als 150 000 solcher „Praktikanten“ in Japan. Zwei Drittel kamen aus China.
Und es wurde ein spezielles Visum eingerichtet für Personen japanischer Abstammung. In Japan gilt im Gegensatz zum Geburtsortprinzip (ius soli) das Abstammungsrecht (ius sanguinis), das heißt alle nikkeijin, Menschen japanischer Abstammung, die nach langer Abwesenheit zurückkehren oder deren Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgewandert sind, wie etwa nach Brasilien, waren willkommen. Die Unternehmen hätten sie am liebsten sofort eingestellt, doch ihr offizieller Status ist der von „Heimkehrern“. In ihren Adern fließt japanisches Blut; man könnte erwarten, dass ihre Integration problemlos geklappt hat. Doch die Realität stellte sich anders dar.
Die Zahl der nikkeijin, vor allem der brasilianischen, ist zwischen der Verabschiedung des Gesetzes im Jahr 1989 bis 2007 von 15 000 auf mehr als 300 000 angestiegen. Sie leben vorwiegend in sechs von insgesamt 47 Präfekturen: Aichi, Shizuoka, Mie, Gifu, Gunma und Kanagawa (zwischen Tokio und Kioto). So kommt es, dass Oizumi (42 000 Einwohner) in der Präfektur Gunma einen Ausländeranteil von 12 Prozent hat – fast das Zehnfache des landesweiten Durchschnitts. Die nikkeijin wohnen meistens in denselben Vierteln: eine Folge der Diskriminierung von Ausländern auf Japans Wohnungsmarkt.
Die „Heimkehrer“ aus Brasilien, die kein Japanisch sprechen, gelten als Analphabeten. Auf Privatinitiative sind Fördervereine entstanden, die den Einwanderern helfen sollen, sich im Land zurechtzufinden und die Sprache zu erlernen. Es gibt auch kommunale Angebote zur Eingliederung. Manche Gemeinden wie Kawasaki südlich von Tokio fördern die politische Teilnahme, indem sie Beiräte für nikkeijin eingerichtet haben. Zudem ist eine Bewegung entstanden, die sich dafür einsetzt, dass die Einwanderer wenigstens auf kommunaler Ebene wählen dürfen.
In der Wirtschaftskrise von 2008 verloren viele nikkeijin ihre Arbeit. Damals bezahlte die Regierung allen nikkeijin, die nach Brasilien zurückkehren wollten, das Flugticket. Doch sie mussten sich verpflichten, nie mehr nach Japan zu kommen und erneut den Heimkehrerstatus einzufordern. Nach fünf Jahren wurde diese restriktive Vorschrift wieder aufgehoben. Trotzdem leben heute nur noch 180 000 nikkeijin in Japan.
Die lokalen Initiativen zur Unterstützung der Einwanderer haben die Regierung jedoch nachhaltig beeindruckt. Ein positiver Effekt ist, dass Ausländer seit 2005 offiziell als seikatsusha akzeptiert werden, was so viel bedeutet wie „Normalverbraucher“. Und das Innenministerium verkündete, die tabunka kyosei zu fördern, das „multikulturelle Zusammenleben“. Fortan waren Ausländer nicht mehr automatisch Zielgruppe des Überwachungsstaats.
Doch das gefällt nicht allen Japanern: Die extreme Rechte hetzt gegen Koreaner und gegen alle Ausländer im Land. Sie hat sogenannte zaitoku-kai-Vereine gegründet. Diese verbreiten in Regionen, in denen relativ viele Ausländer wohnen, rassistische Drohungen. Solche Aktionen werden von den meisten Japanern zwar verurteilt, ein gewisses Unbehagen ist trotzdem spürbar. Ausländer gelten als potenzielle Bedrohung für die öffentliche Ordnung. Japan hat eine niedrige Kriminalitätsrate – nach den aktuellsten Zahlen kommen auf 100 000 Einwohner jährlich vier Diebstähle und 0,5 Morde.7 Kommt es zu einer Straftat, werden öffentlich schnell Ausländer beschuldigt, insbesondere solche ohne Papiere. Die Japaner neigen zu der Auffassung, es sei der Homogenität ihrer Bevölkerung zu verdanken, dass ihr Land ein Hort des sozialen Friedens ist. In Studien über die ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt in den OECD-Ländern nimmt Japan tatsächlich seit Jahrzehnten einen der letzten Plätze ein.8
Hoch angesehene Politiker halten immer noch Lobreden auf Japans Homogenität, der das Land seine Größe verdanken würde und die man nicht durch eine Öffnung des Landes für Zuwanderer gefährden dürfe. So sagte der damalige Bildungsminister Aso Taro 2005: „Japan ist eine Nation, eine Zivilisation, eine Sprache, eine Kultur, eine Rasse.“ Diese Haltung schließt an die ultranationalistische und rassistische Strömung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an. Abes Plan, jährlich 200 000 Ausländer ins Land zu holen, kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn solche Einstellungen klare Minderheitenpositionen darstellen.