Sanktionen gegen einen Toten
Im sudanesischen Bürgerkrieg ergreift die UNO sinnlose Maßnahmen von Jérôme Tubiana und Claudio Gramizzi
Kurz nach der Jahrtausendwende wurde Adam Yacoub Sharif zur Galionsfigur der noch jungen Rebellion von Darfur im Westen des Sudan.1 Er ließ sich gern mit den Insignien des Aufstands ablichten: der Kalaschnikow, dem Turban, dem Satellitentelefon und dem Lederbeutelchen um den Hals, in dem seine Talismane steckten. Sharif, der auch unter dem Spitznamen „Bambino“ bekannt war, kontrollierte die Gegend um Shangal Tobay in Ostdarfur für die Sudanesische Befreiungsarmee (Sudan Liberation Army, SLA).
Als wir ihn 2011 in einer Villa in Khartum wiedertrafen, wo er sich versteckt hielt, sah er abgemagert und erschöpft aus – ein Sinnbild für die geschwächte, gespaltene und von der internationalen Gemeinschaft wenig geliebte Rebellion in Darfur. Der Westen hatte sich inzwischen von diesem endlosen Konflikt abgewandt, der weit hinter anderen Prioritäten rangierte. Einige Monate später erfuhren wir, dass „Bambino“ im Juni 2012 einer Krankheit erlegen war. Gleichwohl steht sein Name noch immer auf der kurzen Liste von insgesamt vier Personen, gegen die der UN-Sicherheitsrat Sanktionen beschlossen hat.
Der 2005 gegründete UN-Expertenrat zum Sudan ist weder sehr bekannt noch einflussreich. Er kann jedoch auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta Sanktionen gegen Personen (oder Unternehmen) vorschlagen, die in den Darfur-Krieg verwickelt gewesen sind. Auf die Sanktionsliste gesetzt werden vor allem Personen, die Menschenrechtsverletzungen begangen oder die Teilnahme an Friedensverhandlungen verweigert haben. Die Maßnahmen beschränken sich auf Reiseverbote und das Einfrieren von Bankguthaben. So sollen die Hauptakteure vor allem davon abgehalten werden, weiterhin Gewalt zu schüren.
Seit 2006 wurden mehrere Dutzend Namen für die Sanktionsliste vorgeschlagen. Die Empfehlungen reichen von Staatschefs (wie dem sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir und seinem tschadischen Amtskollegen Idriss Déby) oder verantwortlichen Regierungsmitgliedern bis hin zu den großen und kleinen Befehlshabern der unzähligen Rebellengruppen. Der Sicherheitsrat ist den Expertenempfehlungen zur Verhängung von Sanktionen gegen Einzelpersonen aber nur in vier Fällen gefolgt.
Die 2006 aufgestellte Liste2 spiegelt vor allem den Willen zum Ausgleich wider. Vom Regierungslager in Khartum wurden mit Jaffar Mohammed al-Hassan ein General der sudanesischen Armee und mit Musa Hilal Alnsiem einer der Hauptanführer der Dschandschawid auf die Sanktionsliste gesetzt – der Reitermiliz, die für unzählige Gewalttaten verantwortlich ist. Vonseiten der Darfur-Rebellen finden sich der genannte Adam Yacoub Sharif und Jibril Abdulkarim Mayu alias „Tek“ auf der Liste wieder. Bei Letzterem handelt es sich um einen Überläufer der tschadischen Armee, der zum Generalstabschef der (darfurischen) Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (Justice and Equality Movement, JEM) aufstieg, bevor er seine eigene Gruppe aufbaute.
Inzwischen ist „Bambino“ gestorben und General Jaffar in den Ruhestand getreten. Während „Tek“ ins Regierungslager übergewechselt ist, hat Musa Hilal den entgegengesetzten Weg beschritten und eine politisch-militärische Bewegung gegründet: den Revolutionsrat für die Erweckung des Sudan (Sudanese Awakening Revolutionary Council, Sarc). Der schwerfällige UN-Apparat hat auf all dies kaum Einfluss gehabt. Vor allem aber scheint er unfähig zu sein, diese Entwicklungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Bis 2011 hatten die aufeinander folgenden Experten der Sachverständigengruppe von diesen vier Personen lediglich General Jaffar zu einem Gespräch getroffen. Für die anderen bestand somit keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Mangelnde Informationen und ganz allgemein die Missachtung des Rechts auf Verteidigung sind symptomatisch für dieses Sanktionssystem; auch am Beispiel der Elfenbeinküste oder der Demokratischen Republik Kongo wird das deutlich. Doch bei aller Sympathie für die Sanktionsidee: Die Angehörigen der UN-Expertengruppe sind weder Polizisten noch Richter. In einem ordentlichen Gerichtsverfahren könnten die Beschuldigten einiges zu ihrer Entlastung vorbringen, zumal die gegen sie erhobenen Vorwürfe oft sehr pauschal sind.
So wurde „Bambino“ vorgeworfen, er habe mit dem 2005 durchgeführten Angriff auf einen Regierungskonvoi den Waffenstillstand von 2004 verletzt, den allerdings keine Konfliktpartei je eingehalten hat. Die Beschuldigung stützte sich lediglich auf zwei Quellen mit den Decknamen W1 und W2 – zwei Offiziere der Afrikanischen Union (AU), die schnell an den Schauplatz des Angriffs geschickt worden waren. Musa Hilal hingegen, der für unzählige Attacken auf Zivilisten verantwortlich ist, wurde nur ein Überfall zur Last gelegt – in einer Region, in der er nur sehr beschränkte Macht ausübte.
Die Sanktionen griffen größtenteils gar nicht. Die betroffenen Männer hatten keine Bankkonten oder Vermögen, die man hätte einfrieren können. Und die Reiseverbote hinderten sie mitnichten daran, die Region auf dem Land- oder Luftweg zu verlassen. Das spektakulärste Beispiel hierfür ist Jibril Mayu, den wir 2011 im katarischen Doha im Luxushotel Mövenpick trafen. Er wohnte dort schon seit einem Jahr – dank eines hochoffiziellen Passierscheins der UNO.3
Kriegsverbrecher mit Passierschein
Man mag bedauern, dass die Vereinten Nationen gegen ihre eigenen Regeln verstoßen. Ein Pochen auf die strikte Einhaltung der Sanktionen hätte indes die Friedensgespräche in Doha behindert. So war auch die Warnung von Musa Hilal zu verstehen, die er uns gegenüber aussprach: „Jeder Friedensprozess in Darfur, in den ich nicht einbezogen bin, ist sinnlos.“ Mit einem ähnlichen Dilemma hat auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zu kämpfen4 – das Verfahren gegen Präsident Baschir musste am 15. Dezember eingestellt werden. Die Chefanklägerin Fatou Bensouda begründet das mit dem Fehlen von Zwangsmaßnahmen seitens der UNO.5
Idealerweise sollten Justiz und internationale Sanktionen nicht von politischen Erwägungen abhängen. Die umstrittene Idee, Sanktionen zu nutzen, um Kriegsparteien zum Friedensschluss zu zwingen, ist allerdings durch die Darfur-Krise und den Konflikt im Südsudan salonfähiger geworden. In diesem Zusammenhang wandten sich die UN-Experten 2010 an den seit 2006 im französischen Exil lebenden Rebellenführer Abdul Wahid al-Nur. Er lehnte stets jeglichen Dialog mit der sudanesischen Regierung ab, die er des Völkermords bezichtigt. Der Sicherheitsrat stand kurz davor, Sanktionen gegen al-Nur zu verhängen, doch die USA zweifelten die Rechtmäßigkeit dieses Schritts an und machten geltend, dass ein erzwungener Friedensschluss kaum umgesetzt würde.
Faktisch wird die UNO nach wie vor von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats dominiert. Ein einziges Veto kann ein Embargo oder individuelle Sanktionen verhindern. Die Experten, die dem Sicherheitsrat Vorschläge machen, sind prinzipiell unabhängig, doch einige Mitgliedsländer schlagen nach eigenen Interessen Kandidaten vor oder lehnen sie ab, zensieren Berichte oder verhindern die Veröffentlichung.6
Noch komplizierter wird es, wenn der Sicherheitsrat – wie im Fall Darfur oder im Fall Syrien – gespalten ist. Nach zehn Jahren Krieg in Darfur beschränkt sich der Konsens zwischen den fünf ständigen Mitgliedern darauf, die Aktionen der Rebellen zu verurteilen. Eine Maßregelung der sudanesischen Regierung ist schwierig, weil sich Peking und Moskau systematisch gegen westliche Initiativen gegen Khartum sperren.
Als 2005 keine Einigung über eine Militärintervention in Darfur zustande kam, beauftragte der Sicherheitsrat den IStGH damit, die Urheber der begangenen Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Die Entscheidung nährte die Illusion einer konzertierten Aktion, ebenso wie das zwei Tage zuvor verabschiedete Sanktionssystem, das neben den erwähnten individuellen Maßnahmen ein Waffenembargo vorsah. Dieses ist jedoch ausschließlich auf Darfur begrenzt, deshalb können die wichtigsten Waffenlieferanten – allen voran China und Russland – die Zentralregierung weiterhin mit Kriegsmaterial beliefern.
Moskau und Peking scheinen sich mit der sudanesischen Zusicherung zufrieden zu geben, dieses nicht in Darfur einzusetzen. 2013 unternahmen die Vereinigten Staaten den Versuch, das Embargo auf die anderen Kriegszonen im Sudan (die Provinzen Südkordofan und Blauer Nil) auszuweiten. Ihr Vorstoß fand im Sicherheitsrat aber keine Unterstützung. China und Russland waren ebenso dagegen wie Frankreich und Großbritannien.
Trotz dieser Erfahrung setzt der Westen nach wie vor auf Sanktionen.7 Die UN-Maßnahmen werden nach Möglichkeit ausgedehnt – etwa von Darfur auf den gesamten Sudan – oder durch Wirtschaftsbeschränkungen ergänzt. Doch die praktische Umsetzung steht auf einem anderen Blatt. Zwischen 2010 und 2012 wurden deutsche Militärlastwagen, kanadische Panzer und iranische Drohnen mit europäischen Bauteilen in den Sudan verkauft und somit die Embargos gegen den Sudan und den Iran unterlaufen.8 Ein westlicher Diplomat wurde 2012 zur Vorführung dieser Drohnen eingeladen, die in sudanesischen Fabriken montiert werden. Obwohl sie in Darfur und anderen Krisenregionen versagt haben, stehen Sanktionen bei der „internationalen Gemeinschaft“ weiterhin hoch im Kurs – insbesondere, wenn es um afrikanische Länder geht.
Bedeutungsloses Waffenembargo
2011 wurde ein Waffenembargo für Libyen beschlossen, das sogleich durch französische Waffenlieferungen an die Rebellen umgangen wurde. Das Sanktionssystem blieb dennoch in Kraft, sogar über den Sturz Gaddafis hinaus – und verhinderte nicht einmal, dass die Waffen weiter, aus Libyen hinaus, über die Grenzen gelangten. 2013 traten ähnliche Maßnahmen für die Zentralafrikanische Republik in Kraft.
Seit Beginn des Bürgerkriegs im Südsudan Ende 2013 fordern zahlreiche NGOs die Verhängung eines Embargos und individueller Sanktionen. Die Forderung findet jedoch innerhalb der UNO nicht genügend Zustimmung. Dafür haben die USA im Mai 2014 eigene Maßnahmen ergriffen, gefolgt von der EU im Juni. Je zwei Regierungs- wie Rebellenvertreter wurden durch die USA (und je einer durch die EU) mit Sanktionen belegt. Betroffen waren jedoch nur zweitrangige Offiziere, wie der Rebellenführer Peter Gadet wegen eines Überfalls im April, bei dem in der Stadt Bentiu mehrere hundert Zivilisten wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet worden waren.
Befehligt hatte den Angriff jedoch James Koang, der damalige Generalstabschef der südsudanesischen Opposition und mittlerweile Delegationsmitglied bei den Friedensgesprächen. James Koang wurde schließlich im August 2014 (nur durch die USA) mit Sanktionen belegt. Nichts spricht jedoch dafür, dass die ergriffenen Strafmaßnahmen – oder die Drohung mit weiteren Sanktionen durch regionale Vermittler unter Führung Äthiopiens – den Friedenswillen der Kriegsparteien stärken und sie davon abhalten, unter den Augen der UNO Massaker zu begehen.
Die Sanktionen, die wie ein schwacher Widerhall der Kanonenbootdiplomatie des 19. Jahrhunderts wirken und sich auf modernere Konzepte wie Interventionsrecht und humanitäre Verantwortung stützen, werden immer häufiger als illegitim empfunden. Das gilt sogar für jene afrikanischen Staaten, deren Abhängigkeit vom Rest der Welt besonders groß ist. Noch zweifelhafter ist ihr Nutzen in Konflikten, in die Mitglieder des Sicherheitsrats oder andere Mächte direkt verstrickt sind, wie in der Ukraine-Krise. Russland lehnt Sanktionen gegen islamistische Führer im Nahen Osten keineswegs ab und vertritt sogar die Meinung, die UNO sorge sich im Zusammenhang mit diesen Personen zu sehr um die „Unschuldsvermutung“. Geht es hingegen um die Krim oder den Donbass, nutzt Moskau sein Vetorecht, um UN-Sanktionen zu verhindern.
Deshalb verhängen die USA und die EU auch ohne Legitimierung durch die UNO Strafmaßnahmen gegen Moskau, die in individuellen Sanktionen und Wirtschaftsembargos bestehen. Berichten zufolge haben Letztere Russland bereits 32 Milliarden Euro gekostet.
Manchmal führen Sanktionen auch zu unerwarteten politischen Wendungen. Der sudanesische Präsident Omar al-Bashir und sein kenianischer Amtskollege Uhuru Kenyatta nehmen die Anklagen des IStGH zum Anlass, den angeblichen westlichen Imperialismus und Rassismus zu geißeln. Diesem Beispiel folgend, könnte sich Wladimir Putin als Opfer präsentieren. Somit würden die Sanktionen letztlich seine Macht festigen und möglicherweise dazu beitragen, dass Russland enger mit anderen auf einer Sanktionsliste stehenden Staaten zusammenarbeitet.