Der Terror erreicht Kamerun
Boko Haram im nördlichen Grenzgebiet zu Nigeria von Rodrigue Nana Ngassam
Fotokol, Kolofata, Kusseri: In Kameruns nördlichstem Zipfel, nahe der Grenze zu Nigeria in der Region Extrême-Nord, verübt Boko Haram immer mehr tödliche Anschläge. Waren es im letzten Jahr noch vereinzelte Angriffe, nehmen inzwischen immer mehr Kämpfer an den Einsätzen teil. Nach Angaben des Kameruner Verteidigungsministeriums eroberten am 28. Dezember über tausend Kämpfer den grenznahen Militärstützpunkt Achigashiya, der daraufhin von der Luftwaffe bombardiert wurde. Am 27. Dezember waren bei einem Angriff auf ein Dorf in der Nähe allein 30 Menschen getötet worden.
Die Angreifer kommen aus dem benachbarten nigerianischen Bundesstaat Borno, wo Boko Haram etwa 20 Städte kontrolliert. Trotz breit angelegter Gegenmaßnahmen seit April 2014 wird Kameruns Regierung, die Jagdflugzeuge, Panzer und Sturmgeschütze einsetzt und 3 000 Soldaten mobilisiert hat, mit dem mächtigen Gegner nicht fertig.
Die Überfälle sind oft mit Entführungen und Lösegeldforderungen verbunden. Die ersten Opfer konnten zwar bereits befreit werden, wie die französische Familie Moulin-Fournier, die im Februar 2013 in Dabanga unweit Kusseri entführt worden war, oder der Priester Georges Vandenbusch, der im November 2013 in Nguetchewe in Geiselhaft geriet; aber die Serie reißt nicht ab. Anfang April 2014 wurden die Patres Antonio Giovani Alligri und Paolo Giovani Marta sowie die Ordensschwester Gilberte Bissiére entführt, gemeinsam mit dem Ortsvorsteher des Dorfs Gumuldi, dessen Leichnam später mit durchschnittener Kehle in Nigeria aufgefunden wurde. In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai verschwanden in Waza zehn Chinesen. Im Juli gab es einen spektakulären Überfall in der Stadt Kolofata, bei dem die Ehefrau des stellvertretenden Ministerpräsidenten Amadou Ali, seine Schwägerin und der Bürgermeister von Kolofata, der Lamido1 Seini Boukar Lamine, mit seiner Frau, sechs Kindern und weiteren Familienmitgliedern verschleppt wurden.
Im September beschlagnahmten Sicherheitskräfte in Kusseri hunderte verschiedener Kriegswaffen – ein Fund, der die strategische Bedeutung Nordkameruns für Boko Haram zu bestätigen scheint.2 Beobachter befürchten, dass die Terrorgruppe demnächst auch in den großen Städten weiter im Süden zuschlagen wird. Aufgrund der unsicheren Lage in Zentralafrika und Nigeria zieht auch Kamerun inzwischen immer mehr bewaffnete Gruppen an. Die in der Region und in der Sahelzone kursierenden Waffen aus Libyen erleichtern es ihnen, sich neu aufzustellen und Rückzugsräume zu erobern, vorzugsweise in den sogenannten weichen Zonen, wo die Staaten ihre Autorität nicht durchsetzen können.
Kameruns Sicherheitskräfte konzentrieren sich vor allem in den beiden wichtigsten Städten des Landes, Duala und Jaunde. In abgelegeneren Gebieten haben sie kaum eine Chance gegen die Banden, die moderne Technologien wie GPS und Satellitentelefone besitzen. Die Armee ist ihnen gegenüber sehr im Nachteil: Die Ausrüstung der regulären Truppen ist veraltet, es mangelt an Disziplin und Koordination. Dazu kommen Korruption und das Versagen der Geheimdienste. Eliteeinheiten wie die Präsidentengarde und Eingreiftruppen sind dagegen besser ausgerüstet und trainiert. Boko Haram scheint es darauf anzulegen, die Autorität des Staats durch Angriffe auf Kasernen, Polizeistationen oder Behörden zu unterminieren. Die Terrorkommandos nutzen die allzu durchlässige, oft nicht einmal markierte Grenze des Landkorridors im Norden, der am Tschadsee endet.
Es ist ein Leichtes, hier Waffen zu schmuggeln oder Geiseln und Kriegsbeute zu verstecken. Kameruns Norden bildete Anfang des 19. Jahrhunderts die Randzone des Kalifats von Sokoto, wo sich kleine islamische Staaten, die sogenannten Lamidate, herausbildeten. Jahrhundertelang gab es hier stetigen Austausch und Handel. Zahlreiche Ethnien (Fulbe, Schuwa-Araber, Kotoko, Kanuri, Haussa) leben zu beiden Seiten der Grenze und sprechen dieselben Dialekte. So können sich Kämpfer von Boko Haram unauffällig unter die Leute mischen.
„Boko Haram will die Dörfer an der Grenze zerstören, die Bewohner unterwerfen und neue Camps errichten. Sie drohen den Leuten, damit sie nicht mit den Behörden zusammenarbeiten“, erklärt uns ein kamerunischer Offizier. Die Taktik scheint zu funktionieren: „Es ist gefährlich, mit den Soldaten gesehen zu werden. Es heißt, die Soldaten bleiben nicht die ganze Zeit hier. Ein paar von uns sind in der Nacht entführt worden, man wird sie foltern oder töten“, sagt uns einer aus Kolofata.
Die Zahl der Flüchtlinge in der Region Extrême-Nord wächst; Tausende kommen aus dem Krisengebiet Zentralafrika im Osten und aus dem Nordosten Nigerias; genaue Zahlen gibt es nicht.3 Der Zustrom übersteigt die Kapazitäten der Flüchtlingslager, die das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) eingerichtet hat. Die Regierung hat dadurch zwar Prestige als Schutzmacht gewonnen, doch die Flüchtlinge tragen auch zur Unsicherheit bei: Nach einer Studie der International Crisis Group nutzen Kämpfer von Boko Haram die Flüchtlingstrecks, um nach Kamerun zu gelangen.4
Die tollkühnen Überfälle auf hochrangige Personen vom Juli 2014 lassen vermuten, dass Boko Haram Zuträger vor Ort hat – wenn nicht sogar in den Zirkeln der Macht. Derartige Aktionen sind ohne verlässliche Informationen nicht durchführbar. Manche verdächtigen Mitarbeiter des kamerunischen Geheimdienstes, die in den Dörfern wohnen und den schwierigen Alltag der Menschen dort teilen, als Kundschafter und Informanten für die Terrorgruppe zu arbeiten.5
Die erbeuteten Lösegelder füllen die Kassen der Organisation, die sich auch sonst allerlei kriminellen Geschäften widmet. Die Regierung von Kamerun bestreitet zwar, jemals Geldzahlungen geleistet zu haben, und spricht lediglich vom erfolgreichen Ende der Verhandlungen mit den Entführern, wie im Fall der Familie Moulin-Fournier. Womöglich war diese Entführung auch gar nicht politisch motiviert. Pierre Conesa, ehemals leitender Sicherheitsexperte im französischen Verteidigungsministerium, ist der Ansicht, dass „beide Arten von Entführungen, die kriminellen und die politisch-kriminellen, in engem Zusammenhang“ stehen.
Die Terroroffensive von Boko Ha-ram hat dem grenzüberschreitenden Handel und Austausch ein jähes Ende bereitet. Noch bis vor Kurzem gingen zahlreiche Kameruner täglich über die Grenze, um ihre Produkte auf den florierenden Märkten des Nachbarlands, in Banki oder Kerawa im nigerianischen Bundesstaat Borno, feilzubieten. Diese Grenzübergänge sind heute verwaist. Auch der Tourismus ist in den Regionen Nord und Extrême-Nord stark zurückgegangen. Die Hotels stehen leer, die touristischen Attraktionen, vor allem der Nationalpark von Waza, liegen heute verlassen.
Der 81-jährige Präsident Paul Biya – seit 32 Jahren an der Macht – ließ im Juli 2014 einen Notfallplan erarbeiten, der verhindern soll, dass Boko Haram die Unzufriedenheit der Kameruner mit der mangelnden Demokratie in ihrem Land ausnutzen. Er versprach, Brunnen zu bohren zu lassen und damit mehr Menschen Zugang zu Wasser zu verschaffen, mehr Schulen, Straßen und Gesundheitsstationen zu bauen, Arbeitsplätze zu schaffen und Berufsbildungszentren für Jugendliche einzurichten. Besonders die jungen Leute werden durch Armut und Massenarbeitslosigkeit den Extremisten, bewaffneten Gruppen und kriminellen Netzwerken in die Arme getrieben.
Libysche Waffen in den „weichen Zonen“
Die drei Regionen Nordkameruns – Adamawa mit der Hauptstadt Ngaundere, Extrême-Nord mit der Hauptstadt Marua und Nord mit der Hauptstadt Garua – sind nach wie vor der am wenigsten entwickelte Teil des Landes. Zwischen 2001 und 2007 stieg dort der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, von 18,8 auf 24,6 Prozent – im Rest des Landes ging er um 0,3 Prozentpunkte zurück.6 Um der mangelnden Schulbildung abzuhelfen,7 beschloss die Regierung 2011, 25 000 junge Menschen für den öffentlichen Dienst zu qualifizieren und eine Universität in Marua zu eröffnen.
Zu den sozialen Problemen kommen noch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen mit nachfolgenden Cholera-Epidemien – und die politischen Spannungen. Die Fulbe in Nordkamerun haben nicht vergessen, welcher Verfolgung sie nach dem versuchten Staatsstreich von 1984, für den die Regierung ihr Volk verantwortlich machte, ausgesetzt waren. Das angespannte Klima wurde zusätzlich rauer, als Iya Mohamed, der Präsident des äußerst populären kamerunischen Fußballverbands (Fecafoot), und Marafa Hamidou Yaya, ehemaliger Minister für Landesverwaltung und Dezentralisierung, verhaftet wurden; man warf ihnen vor, in großem Maßstab öffentliche Gelder veruntreut zu haben.
Da es im Kampf gegen Boko Haram wenig Erfolge gibt, scheint die Abstimmung zwischen allen beteiligten Staaten um so notwendiger. Aber Kamerun fürchtet, an Souveränität zu verlieren, und zögert daher, Nigeria das Recht einzuräumen, die Terrorkommandos auf Kameruner Staatsgebiet zu verfolgen. Das ist einer der Gründe, weshalb Frankreichs Präsident François Hollande Paul Biya, den nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan und deren Amtskollegen aus Niger, Benin und dem Tschad im Mai 2014 zu einem Sondergipfel in Paris eingeladen hatte. Dabei wurde herausgearbeitet, dass Geheimdienste und Militäraufklärung aller beteiligten Staaten ihre jeweiligen Erkenntnisse abgleichen sollen, wenn sie militärische Gegenschläge planen oder verschwundene und verschleppte Personen suchen wollen – wie die mehr als 200 Schülerinnen, die im April 2014 in Chibok (Nigeria) entführt wurden. Die Mitgliedstaaten der Tschadseekommission (LCBC) und Benin haben auch den Vorschlag angenommen, eine überregionale Eingreiftruppe gegen Boko Haram zusammenzustellen; jeder Staat wird 700 Mann bereitstellen.8
Auf lange Sicht kann die Lösung jedoch keine militärische sein. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass Boko Haram ein Haufen von Fanatikern ist, und die politischen, sozioökonomischen und religiösen Faktoren analysieren, die am Anfang ihres Aufstiegs standen. EU und USA haben zugesagt, die afrikanischen Regierungen zu unterstützen. Brüssel versprach, Geldgeber für Entwicklungsprojekte zu finden. Dabei sollen vor allem die Rechte von Frauen und Mädchen, insbesondere ihr Recht auf Bildung, sowie die Beteiligung von Frauen an allen Entscheidungsprozessen gefördert werden; Opfer sexueller Gewalt sollen unterstützt werden.9 Ebenfalls wichtig sind Maßnahmen, um weiterer Radikalisierung Einhalt zu gebieten; paradoxerweise hat die internationale Berichterstattung über Boko Ha-ram der Gruppe anscheinend eher noch mehr Anhänger eingebracht.