Der Fall Mansir
Ein fehlgeschlagenes Attentat, ein Sündenbock und der Stand der Demokratie in Nigeria von Elnathan John
Mansir ist ein junger Mann, der mir unmittelbar nach dem Bombenattentat vom 23. Juli 2014 in Kaduna, Nordnigeria, auf drei Fotos begegnete. Die Fotos kamen vom Twitter-Account des nigerianischen Armeehauptquartiers. Auf dem ersten starrte Mansir in die Kamera wie ein geblendetes Reh, die Träger eines zerrissenen Büstenhalters über den Schultern. Auf dem zweiten sah man eine klaffende Wunde auf seinem Rücken. Auf einem dritten trug er einen rosa Schleier und wurde auf die Ladefläche eines Armeelasters gezerrt. Die Überschrift dazu: „Soldaten fassen als Frau verkleideten mutmaßlichen Bombenleger“. Kurz darauf erklärte das Armeehauptquartier, man ermittle bezüglich der Verbindungen des Täters.
Der Anschlag hatte General Muhammadu Buhari gegolten, einem Muslim aus dem Volk der Fulani, dem am höchsten geachteten Politiker Nordnigerias. Online-Kommentatoren schickten Dankgebete gen Himmel: „Gott sei Dank ist er nicht tot.“ Sonst wäre es womöglich zum Bürgerkrieg gekommen, denn dem Präsidenten Goodluck Jonathan, einem Christen aus dem ölreichen Süden, wird alles Mögliche vorgeworfen, von politischer Unfähigkeit bis zur Inszenierung terroristischer Anschläge für seine eigenen politischen Zwecke.
„Gott sei Dank hat der Attentäter ihn nicht erwischt.“ – „Gott sei Dank haben sie den als Frau verkleideten Attentäter gefasst.“ Der Mann wurde zwar nicht auf der Straße totgeprügelt, wohl aber virtuell auf Twitter und Facebook. Alle dämonisierten ihn. In einem Krieg, in dem die Aufständischen anscheinend wie Gespenster auftauchen, angreifen und sich wieder in Luft auflösen, hatten nun alle ein Gesicht vor Augen.
Bei mir ließ die Geschichte gleich alle Alarmglocken schrillen. Abgesehen von meiner absoluten Überzeugung, dass Folter nicht nur verwerflich, sondern auch ineffektiv ist, hatte ich bei Mansir spontan den Eindruck, dass er einer war, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand, in falschen Kleidern – und vielleicht sogar im falschen Körper. Aber das war nur eine Ahnung. Wenige Tage später erfuhr ich aus einem Interview mit seiner Mutter und seinem Bruder, dass Mansir tatsächlich „durcheinander“ gewesen sei: „Mein Sohn ist kein Terrorist. Was bei ihm nicht stimmt, sind die Heimsuchungen eines bösen Geistes, der ihn dazu verleitet, Frauenkleider zu tragen und sich wie ein Zurückgebliebener aufzuführen. Jeder in Mando weiß das. Wenn er aus dem Haus geht, ist er oft normal angezogen, aber dann geht er in irgendein leerstehendes Gebäude und zieht sich Frauenkleider an.“
Als ich das las, war mir klar, was Mansir ist: ein Crossdresser – und das in der kulturell und religiös konservativsten Region Nigerias, wo selbst Alkohol tabu ist. Ich verbreitete das auf Twitter, um darauf hinzuweisen, dass Mansir vielleicht ein weiteres der vielen Opfer unseres Krieges werden könnte; eines Krieges, der meist im Verborgenen abläuft. Am 2. Juni hatte eine NGO ein Video an nigerianische Medien gesendet, das einen Massenmord dokumentierte. Darauf sind Angehörige der nigerianischen Armee und einer Bürgermiliz zu sehen, die mit offenkundigem Vergnügen Menschen, die sie als Boko-Haram-Terroristen verdächtigen, die Köpfe abhacken. Amnesty International hat inzwischen die Echtheit des Videos bestätigt. Es bestand die reale Gefahr, dass Mansir, der Crossdresser, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, genauso enden würde.
Da ich aus dem Norden Nigerias stamme, weiß ich, dass dort im Verborgenen eine Subkultur von effeminierten Männern existiert, die sich zuweilen wie Frauen kleiden. Ich begann meinen Followern zu erklären, was es mit diesen yan daudu (wie sie auf Haussa genannt werden) auf sich hat, und verlinkte meine Texte mit ethnologischen Forschungsarbeiten. Ein Kommentator kritisierte mein Engagement für Mansir und schrieb, ich würde mich bestimmt nicht für einen mutmaßlichen Bombenleger einsetzen, wenn jemand aus meiner eigenen Familie von Boko Haram getötet worden wäre. Meine spontane Antwort war natürlich, dass es keine Rolle spielt, ob einer meiner Verwandten in die Luft gesprengt oder abgeschlachtet worden ist. Aber dann begann ich mich zu fragen, ob mein Maßstab als persönlich Betroffener ebenso streng wäre.
Die Geschichte von Mansir machte mir klar, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit – noch dazu für Minderheiten – in Zeiten einer schweren nationalen Krise zu fordern, die sogar die Verhängung des Ausnahmezustands rechtfertigt – was derzeit in drei nigerianischen Bundesstaaten der Fall ist. Und es gab gute Gründe, über solche Fragen nachzudenken: Regelmäßig wurden Soldaten in einen Hinterhalt gelockt und von Männern in Zivil umgebracht; ganze Gemeinden waren dezimiert und mehrfach junge Mädchen entführt worden.1 Nur einen Monat zuvor hatte die erste Selbstmordattentäterin sich selbst und einen Soldaten, der ihr den Zutritt zu einer Militäranlage verwehren wollte, in die Luft gesprengt. Nigeria befindet sich zum ersten Mal in einem Bürgerkrieg gegen Aufständische, gegen eine fast unsichtbare Armee, die Dutzende Gemeinden und Städte erobert hat: Boko Haram.
Ein Junge im rosa Kleid wird zum Gesicht des Krieges
Als Präsident Goodluck Jonathan im Mai 2013 unter Berufung auf den Artikel 305 der Verfassung den Ausnahmezustand für die drei am schwersten betroffenen Bundesstaaten verhängte, stimmte das Parlament zu. Die Einsätze der Armee bleiben trotz der riesigen Geldsummen, die bei ihr landeten, weitgehend erfolglos; deshalb startete die Regierung eine Unterstützungskampagne für die Armee. Der Regierungssprecher ermahnte die Bürger auf Twitter (unter Hashtags wie #SupportOurTroops und #VictoryForNigeria), Berichten keinen Glauben zu schenken, die „unsere Soldaten herabsetzen“ oder sie beschuldigen, außergerichtliche Tötungen und Kriegsverbrechen zu begehen oder vor dem Gegner davonzulaufen, weil sie für den Kampf weder motiviert noch ausgerüstet seien. (Siehe auch den Artikel über die Aktivitäten von Boko Haram in Kamerun auf Seite 6)
Ein Bericht von Amnesty International schätzt die Zahl der Todesopfer durch Boko Haram und das nigerianische Militär im Jahr 2014 auf über 4 000. Der Bericht zitiert auch verlässliche Informationen aus höheren Militärkreisen, wonach im ersten Halbjahr des Jahres 2013 mehr als 950 Personen nicht bei Kampfhandlungen, sondern in Gewahrsam des Militärs gestorben sind. Nicht 950 Hühner, nein, 950 Menschen, die nach der nigerianischen Verfassung ein Recht auf Leben haben. Zugegeben, hier herrscht Krieg, so dass es schwer ist, Kollateralschäden vollständig zu vermeiden. Aber diesem Bericht nach gibt es ein Muster mutwilliger Tötungen, oft Racheakte von Soldaten nach dem Tod von Kameraden.
An dieser Stelle müssen wir einen Blick zurückwerfen, in die Zeit vor Ausbruch dieses Kriegs. 1999 endete die Militärherrschaft in Nigeria mit der Wahl Olusegun Obasanjos zum Präsidenten. Aber die Auseinandersetzungen im ölreichen Nigerdelta um die Umweltzerstörung und den Anspruch der lokalen Bevölkerung auf die Bodenschätze gingen weiter. Am 4. November 1999 wurden in dem Städtchen Odi im Bundesstaat Bayelsa sieben Polizisten von einer bewaffneten Bande getötet, in den darauffolgenden Tagen weitere fünf. Obasanjo drohte dem Gouverneur von Bayelsa mit der Verhängung des Ausnahmezustands, falls die Täter nicht innerhalb von zwei Wochen gefasst würden. Doch dann schickte er noch vor Ablauf dieser Frist die Armee nach Odi. Wie Human Rights Watch (HRW) damals berichtete, „zerstörten die Soldaten jedes einzelne Gebäude, ausgenommen die Bank, die Anglikanische Kirche und das Gesundheitszentrum, und töteten da-bei wahrscheinlich hunderte unbewaffnete Zivilisten“.2 Nach anderen Berichten lag die Zahl der Todesopfer bei diesem Racheakt bei 2 500 (Odi hatte etwa 15 000 Einwohner).
Die Nigerianer werden, seit sie sich erinnern können, von den Mächtigen und von Soldaten drangsaliert und getötet. Wie also können die Leute in einer Zeit, in der das Militär mehr denn je gebraucht wird, so etwas wie Gerechtigkeit, Menschenrechte oder Rechenschaft über Militärausgaben erwarten?
1999 hatten sich die Nigerianer die Rückkehr zu einem demokratischen System versprochen, das die Entscheidungen der Bevölkerung respektiert und das fundamentale Menschenrecht garantiert, in einer freien Gesellschaft zu leben. Aber ein Staat, der lange Zeit unter einem autoritären oder Militärregime zu leiden hatte, kann nicht einfach von der Diktatur zur Demokratie übergehen. Für die meisten Staaten bleibt die liberale Demokratie ohnehin eine Illusion. Demokratische Wahlen sind immerhin ein Ziel, das viele anstreben und das im Fall Nigeria auch erreicht wurde.
Was 1999 geschah, war weniger eine Rückkehr zu Freiheit und einer Zivilregierung als vielmehr eine mildere Form von Diktatur, gestützt auf eine mächtige, hauptsächlich von ehemaligen Generälen angeführte Elite. Auch Obasanjo selbst hatte von 1976 bis 1979 an der Spitze einer Militärdiktatur gestanden. Und doch war es zweifellos ein Fortschritt, dass Nigeria nach der Periode der Putsche eine Wahldemokratie anstrebte. Das bedeutet zumindest die Hoffnung, dass man seinen Diktator selbst bestimmen kann, auch wenn es immer wieder zu größeren Wahlmanipulationen kommt.
In seinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ hat Joseph Schumpeter die Demokratie als „politische Methode“ definiert, als ein „institutionelles Arrangement“, das politische Entscheidungen ermöglicht – unabhängig vom Inhalt der Entscheidungen, die unter den jeweiligen historischen Umständen getroffen werden.
Für mich ist Demokratie wie eine Backform, die ohne Bäcker und Backzutaten nutzlos ist. Die Fertigkeiten des Bäckers wie die erforderlichen Ingredienzen tragen zum endgültigen Geschmack und Geruch, zu Aussehen und Konsistenz des Kuchens bei. Unterschlägt oder verschenkt der Bäcker diese Zutaten, leidet darunter die Qualität des Produkts. Wenn der Bäcker versagt, könnten potenzielle Kuchenkäufer den Laden stürmen, um ihn zu zwingen, dass er ordentlich arbeitet – oder einen neuen Bäcker fordern.
In Nigeria bekamen die Bäcker Backformen wie Zutaten auf dem Tablett serviert. Das Militär wurde bei uns nicht durch eine blutige Revolution gestürzt. Zudem verfügten wir über Unmengen Öl, als der Weltmarktpreis noch auf seinem höchsten Stand war. Man könnte vielleicht denken, dass die Nigerianer das für selbstverständlich halten. Dabei steht für uns die Aufgabe an, eine Diskussion zu beginnen, die uns über das bloße Wählen hinaus zu einer wirklichen Demokratie führt, die allen zugutekommt – auch und vor allem in ökonomisch wie politisch schwierigen Zeiten.
Der Politologe Larry Diamond hat die Möglichkeiten der Demokratie in Afrika vor 15 Jahren so beschrieben: „Wenn in pseudodemokratischen Ländern legale Oppositionsparteien entstehen, die an Wahlen mitwirken dürfen, und wenn sich ein größerer Spielraum für Organisationen der Zivilgesellschaft auftut, dann kann die Vorherrschaft der herrschenden Partei allmählich untergraben und vielleicht sogar ein überraschender Durchbruch zu einer Wahldemokratie erzielt werden.“3
Wählen heißt zunächst nur den Diktator selbst bestimmen
Ich würde behaupten, dass wir in Nigeria dem Durchbruch in Richtung einer echten „Wahldemokratie“ heute näher sind als je zuvor. Denn alle oppositionellen Bewegungen haben sich zu einer großen Oppositionspartei vereinigt, die sich der Alleinherrschaft der People’s Democratic Party (PDP), die seit 16 Jahren an der Macht ist, entgegenstellt.
Leider muss ich hinzufügen, dass wir auch noch nie näher an dem Punkt waren, an dem uns die ganzen Fortschritte unseres demokratischen Experiments wieder verloren gehen könnten. Das Land ist politisch wie religiös tief gespalten, und nur wenige Leute sind bereit, religiöse Kriterien bei ihrem Wahlgang außen vor zu lassen. Es bleibt abzuwarten, ob wir im Februar eine Wahl ohne gewaltsame Zwischenfälle zustande bringen und ob das die Ablösung der gegenwärtigen Regierung bedeutet, die schamlos korrupt ist und das Land polarisiert (siehe nebenstehenden Kasten). Nigeria ist jedenfalls von einer funktionierenden Demokratie noch weit entfernt.
Damit komme ich auf den Fall von Mansir zurück. Als ich seine Geschichte las, sah ich vor mir einen jungen Mann mit leuchtenden Augen, für den das rosa Gewand und der schwarze BH die Erfüllung eines Versprechens bedeuten – die Quelle einer Freude, die nur jemand nachempfinden kann, der Crossdressing liebt.
Nigeria ist ganz ohne Zweifel ein konservatives, extrem homophobes Land. Zugleich ist ein Teil unserer Kultur frauenfeindlich und sexistisch. Demokratie ist nicht nur die berühmte „Regierung des Volks durch das Volk für das Volk“, wie sie Abraham Lincoln postulierte. Eine Demokratie hat auch die Pflicht, gefährdete Gruppen zu schützen, und zwar auch dann, wenn sie vom Volk selbst bedroht ist. Ein Beispiel: Als im Januar 2014 ein Anti-Schwulen-Gesetz in Kraft trat,4 war diese staatliche Regelung im Grunde überflüssig, denn schon lange vorher waren die Bürger selbst handgreiflich geworden und hatten Menschen angegriffen, die schwul sind oder als schwul wahrgenommen wurden.
Bisi Alimi, ein Schwuler aus Lagos, der als sich Erster im nigerianischen Staatsfernsehen als homosexuell geoutet hat, wurde 2007 zusammengeschlagen und lebt seither wieder in Großbritannien. Ein Richter des obersten Gerichts, das 2008 eine Verurteilung wegen „Sodomie“ verkündete, sprach in der Urteilsbegründung von der „bestialischen, barbarischen und bizarren Straftat der Sodomie, die gemeinhin Homosexualität genannt wird“. Wenn Demokratie die unbeschränkte Herrschaft der Mehrheit bedeuten würde, wären die nigerianischen Gesetze rechtens, die Männer wie Bisi und Mansir zu Kriminellen machen und Frauen diskriminieren.
Wahre Demokratie zeigt sich nicht darin, dass sie die Vorstellungen der Mehrheit durchsetzt. Sie liegt vielmehr im verfassungsmäßigen Schutz der Rechte jedes Bürgers zu jeder Zeit. Was den Schutz von Minderheiten in Nigeria betrifft, so kann man sich nicht einmal auf die Zivilgesellschaft verlassen. Auch das zeigt der Fall Mansir: Wäre er nicht ein armer Junge aus einem Kaff am Ende der Welt und noch dazu Crossdresser mit anrüchiger sexueller Orientierung gewesen, hätten die nigerianischen NGOs und Menschenrechtsaktivisten sich mit Sicherheit für ihn eingesetzt.
Die Sache ist für Mansir am Ende vergleichsweise glimpflich ausgegangen. Die Armee hat ihn nach einer Weile ohne weiteres Aufheben freigelassen. Ohne eine Stellungnahme. Und ohne Entschuldigung. Das Traurige ist, dass selbst nach dem Beweis seiner Unschuld nicht eine einzige Stimme aus der nigerianischen Zivilgesellschaft zu hören war, die den Fall Mansir kommentiert hätte.
Eine wirklich funktionsfähige Demokratie müsste von vornherein über Mechanismen verfügen, die es den Bürgern und deren Organisationen ermöglichen, gewaltsame Übergriffe von Sicherheitsorganen zu verhindern, unbeliebte Minderheiten zu schützen – oder Korruption öffentlich zu machen.
Mansir twittert nicht. Wahrscheinlich hat er, als er in Haft war, nichts von der Verlautbarung der Armee mitbekommen, man habe den für das Attentat auf General Buhari verantwortlichen Mann gefasst. Ebenso wenig wird er mitbekommen haben, wie viele Leute der Armee zur Festnahme des Bombenlegers gratuliert und diesem verfluchten Attentäter einen langsamen, qualvollen Tod gewünscht haben. Auch die Nachricht von seiner Freilassung war nicht sexy genug, um Schlagzeilen zu machen oder auf vielen Tweets weiterverbreitet zu werden. Und die paar Leute, die überhaupt die Berichte lasen, dürften sich zumeist gefragt haben: „Was zum Teufel macht ein Junge in einem Kleid?“
Wir als Land haben gegenüber Leuten wie Mansir die Verpflichtung, ein auf Gesetze und Institutionen gestütztes System zu entwickeln, das zu freier Meinungsäußerung ermuntert, die Handlungen der Regierung transparent und rechenschaftspflichtig macht, die Existenz und die Rechte von Minderheiten anerkennt und die Minderheiten vor den Launen der Mehrheit schützt.
Das klingt vielleicht idealistisch, denn wir schaffen es ja kaum, freie und faire Wahlen durchzuführen, ohne dass hunderte von Menschen auf den Straßen abgeschlachtet werden. Womöglich ist das Nachdenken über Mansir eine Art Luxus in einem Land, in dem jemand auf der Straße bei lebendigem Leibe verbrannt werden kann, nur weil man ihn als Dieb verdächtigt. Aber die Alternative – nämlich den heutigen Status quo oder Schlimmeres einfach hinzunehmen – verbietet sich für jede anständige Gesellschaft.
Nigeria wählt
Der Februar 2015 wird ein Wahlmonat: Am 14. Februar wählt Nigeria einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament, zwei Wochen später neue Parlamente und Gouverneure für die 36 Bundesstaaten.
Präsident Goodluck Jonathan tritt erneut für seine People’s Democratic Party (PDP) an, die Nigeria seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 regiert. Zehn Kandidaten treten gegen ihn an. Der wichtigste ist Muhammadu Buhari, der bei den letzten Wahlen 2011 gegen Jonathan verlor.
Die beiden Kandidaten könnten unterschiedlicher kaum sein. Buhari regierte Nigeria von 1983 bis 1985 als Militärdiktator – Jonathan kommt aus dem demokratischen Widerstand gegen die Militärdiktatur. Buhari ist Muslim aus dem Norden des Landes, der alle Militärdiktatoren Nigerias hervorgebracht hat – Jonathan ist Christ aus dem rebellischen Niger-Flussdelta, wo Nigerias Ölreichtum gefördert wird.
Das 175-Millionen-Einwohner-Land ist etwa zu gleichen Teilen christlich und muslimisch. Der Norden Nigerias war in vorkolonialen Zeiten Herrschaftsgebiet mächtiger islamischer Sultanate der Sahelzone; der Süden war währenddessen in den Sklavenhandel mit Europa und Amerika verwickelt und später Zentrum der britischen Kolonisierung. Die militärische Elite ist im Norden verwurzelt, die Handels- und Geschäftselite eher im Süden. Wie in vielen afrikanischen Ländern setzte sich nach der Unabhängigkeit 1960 politisch die Militärelite durch.
Unter den vom Norden dominierten Militärdiktaturen, die Nigeria mit kurzen Unterbrechungen von 1966 bis 1999 regierten, wurde Nigeria zum größten Ölförderland Afrikas, aufgrund der Ausbeutung der Ölvorkommen im Süden. Der Süden – wiederum in sich äußerst heterogen, mit großen Differenzen zwischen den Völkern des Niger-Flussdeltas und den großen Ethnien der Igbo und Yoruba – fühlte sich vor allem politisch entrechtet, während der Norden vor allem wirtschaftlich zurückblieb.
Bei der Demokratisierung 1999 trafen die nigerianischen Politiker die informelle Absprache, dass ab jetzt der Süden und der Norden einander an der Staatsspitze abwechseln und somit die Macht faktisch zwischen den Landesteilen rotiert. Zunächst wurde mit Olusegun Obasanjo ein Vertreter des Südens Präsident. Nach acht Jahren folgte 2007 der Nordnigerianer Umaru Musa Yar’Adua. Der starb aber 2010. Daraufhin rückte sein Vize Goodluck Jonathan aus dem Süden ins oberste Staatsamt nach – und ließ sich 2011 zum Präsidenten wählen, was viele Nord-Politiker als Verrat ansahen, da auf acht Jahre Obasanjo nur drei Jahre Yar’Adua gefolgt waren.
Diese Differenzen finden nur zum Teil in Nigerias Mehrparteiensystem Ausdruck, da alle drei Präsidenten seit der Demokratisierung derselben Partei angehören – der PDP, die deswegen tief zerstritten ist. Sowohl militante Islamisten als auch unzufriedene Generäle sind immer wieder in undurchschaubare PDP-interne Machtkämpfe verwickelt.
Der Aufschwung der bewaffneten islamistischen Rebellengruppe Boko Haram, die mittlerweile weite Landesteile unsicher macht, hängt auch damit zusammen. Kein Wunder, dass die aktuelle Krise in Nigeria als die schwierigste seit dem Biafra-Sezessionskrieg Ende der 1960er Jahre gilt.
Dominic Johnson