08.01.2015

Der Pillendreh

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Der Pillendreh

Im Innern des Pharmakonzerns Sanofi von Quentin Ravelli

Der Pillendreher
Kasten zu Der Pillendreher

Bis ich herausgefunden habe, dass ich überwacht werde und dass die genau wissen, was ich verschreibe!“, empört sich eine Ärztin aus einem schicken Pariser Stadtteil. „Eine Pharmavertreterin sagte irgendwann zu mir: ‚Sie verordnen nicht gerade viel!‘ Da hab ich mich gefragt: Woher weiß die das? Ich war ja komplett ahnungslos.“

Wie viele ihrer Kollegen ist sie schockiert über die Kontrolle, hinter der die Marketingabteilungen von Pharmakonzernen stecken. Und die strotzen nur so vor Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Marktanteile zu steigern. Dazu gehört auch, die Anwendungsgebiete von Arzneimitteln zu verändern, um neue Kunden zu gewinnen. So geschehen bei Sanofi, dem viertgrößten Pharmakonzern der Welt (33 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2013) und Frankreichs höchstbewertetem Unternehmen.

Pyostacine1 aus dem Hause Sanofi, das manche Ärzte auch als den „Rolls Royce unter den Hautantibiotika“ bezeichnen, wurde lange nur gegen dermatologische Erkrankungen eingesetzt, bevor es in ein Medikament für die Atemwege umgewandelt wurde. Seither wird das Antibiotikum bei Bronchitis und Lungenentzündungen verabreicht.

Diese breite Anwendung hat, wie Mediziner und Gesundheitsbehörden vermuten, zur Entwicklung und Ausbreitung von antibiotikaresistenten Bakterien beigetragen, die inzwischen für weltweit jährlich 700 000 Todesfälle verantwortlich gemacht werden (siehe auch den Kasten auf Seite 9).

Um die Vielschichtigkeit medizinischer Produkte zu verstehen, haben wir den Weg dieses einen Medikaments verfolgt, vom Versuchslabor über die Produktionsstätte des Wirkstoffs bis hin zu den Vertretern.2

Auf jeder dieser Etappen erhält das Medikament einen anderen Namen: Während die Biologen vom Bakterium Streptomyces pristinae spiralis und die Chemiker von Pristinamycin sprechen, preisen die Pharmareferenten Ärzten gegenüber die Vorzüge von „Pyo“ an. Die Arbeiter wiederum nennen das Mittelchen liebevoll „Pristina“ oder gar „Tierchen“. Auf dieser Reise wird die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Patienten und den Profiten der Industrie immer deutlicher.

Der neue Hauptsitz von Sanofi France, eine elegante Kombination aus Alt- und Neubau im Herzen von Paris, soll Transparenz und Respekt gegenüber den Patienten ausstrahlen. Im dritten Stock befindet sich die Marketingabteilung. Hier arbeiten die Leute, die seit den 1990er Jahren damit beschäftigt sind, Pyostacine als Atemwegsmedikament auf dem Markt zu etablieren. Mit sichtbarem Erfolg: Zwischen 2002 und 2010 schnellten die Verkaufszahlen für die Behandlung von Atemwegsentzündungen um 112 Prozent in die Höhe, während für Hauterkrankungen lediglich 32,6 Prozent mehr Pyostacine verabreicht wurde.

Dieses Wachstum ist nicht etwa auf eine dramatische Zunahme der Krankheitsfälle zurückzuführen, sondern auf eine ganz spezielle Verkaufsstrategie. Schließlich werden für Atemwegserkrankungen viel öfter Rezepte ausgestellt als für Hautinfektionen. „Es hat sich herausgestellt, dass Pyostacine supergut gegen Erreger funktioniert, die Bronchien, Lunge und Nasennebenhöhlen befallen. Daher haben wir es in diese Richtung weiterentwickelt“, erklärt ein Mediziner von Sanofi.

Experten für diese Art von Medikamenten, die eine vollkommen andere therapeutische Neuausrichtung bekommen, sind die Produktmanager, auch PMs genannt, die auf die Vermarktung eines einzelnen oder mehrerer ähnlicher Medikamente spezialisiert sind.

So gibt es einen „Pyostacine-PM“, einen „Tavanic-PM“, einen „Schmerztherapie-PM“ und sogar einen „Psychosen-PM“. Célia Davos3 , Produktmanagerin für Pyostacine, sagt von sich selbst, sie sei „sehr business-orientiert“: „Dein Job besteht darin, leistungsfähig zu sein und in Abhängigkeit von der Konkurrenz, dem Marktgeschehen und der Krankheit alles dafür zu tun, dass der Umsatz deines Produkts maximiert wird.“ Der Job der PMs, die in der Marketingabteilung angesiedelt sind, ist auch ein Karriere-Sprungbrett. Manche werden später Manager, Pressechef, Marketing- oder Verkaufsleiterin.

PMs haben die Aufgabe, die Nützlichkeit eines bestimmten Medikaments in Szene zu setzen. Sie stellen die Unterlagen für die Pharmareferenten zusammen, die ihrerseits die Ärzte davon überzeugen sollen, das jeweilige Arzneimittel zu verschreiben.

Die Pyostacine-Trickkiste für die Außendienstler enthält eine Liste mit den wichtigsten Argumenten, formuliert von der Marketingabteilung, eine kurze Zusammenfassung der Produktinformationen sowie eine medizinische Fachzeitschrift, die über die neuesten Ergebnisse positiver klinischer Studien berichtet. Des Weiteren: kleine Plastiklämpchen mit Halterung für den Mundspatel, auf dass die Ärzte auch ja an Pyostacine denken, während sie ihren Patienten in den Rachen schauen, Taschentuchboxen für den Schreibtisch, Pyostacine-Kulis, Pyostacine-USB-Sticks und so weiter. So wandern all diese kleinen Werbegeschenke und Broschüren, die auch in der Sanofi-Zentrale überall herumliegen, über die Aktentaschen der Pharmavertreter in die Arztpraxen.

Die Konzerne bringen nicht allen Ärzten das gleiche Interesse entgegen. Sie haben es vor allem auf solche mit einem großen „Verordnungspotenzial“ abgesehen. Deren Adressen liefert in Frankreich das Groupement pour l’élaboration et la réalisation de statistiques (Gers), ein Zusammenschluss von Pharmafirmen, der sowohl das Geschäft mit den Großhändlern wie auch die Direktverkäufe an Apotheken erfasst; oder die des IT-Unternehmens Cegedim, das die Daten von Praxissoftware auswertet. Zu diesen offiziellen Quellen kommen noch informelle hinzu, die sich etwa aus der Befragung von Apothekern oder aus dem Austausch unter Pharmavertretern ergeben.

Die Marketingabteilungen freuen sich über jede noch so kleine Information und nutzen alles, um ihre Kunden gezielt anzusprechen. Ärzte mit den Verschreibungsprofilen „wenige Antibiotika, wenig Pyostacine“ und „wenige Antibiotika, viel Pyostacine“ sind folglich weniger interessant als solche mit der Kombination „viele Antibiotika, wenig Pyostacine“.

Natürlich spiegeln sich derartige Marketingstrategien nicht automatisch in den Verkaufzahlen wider. Dazu bedarf es noch einer erfolgreichen Umsetzung durch die Vertreterinnen und Vertreter. 2014 beschäftigten die Pharmakonzerne in Frankreich 16 000 Außendienstler. Bei 213 Arbeitstagen im Jahr und sechs Terminen am Tag ergibt das insgesamt mehr als 20 Millionen Vertreterbesuche – jeder davon minutiös geplant.

Zur Effizienzsteigerung bekommen die Pharmareferenten beispielsweise Broschüren mit idealtypischen Persönlichkeitsprofilen an die Hand: „die gewerkschaftliche Ärztin“, „der sparsame Arzt“, „der Familienarzt“, „der Vertretungsarzt“, „der Kumpel-Arzt“, „der Wissenschaftler“, „der gestresste Arzt“ und so weiter. Die Hefte werden in Weiterbildungsseminaren verwendet, um den Pharmareferenten dabei zu helfen, „Kundenbindungsstrategien“ zu erarbeiten und sich besser auf ihre Zielgruppe einzustellen.

In solchen „Produkt-Workshops“ lernt man beispielsweise, dass der typische Familienarzt – Mitte fünfzig, viele Patienten, Leiter eines medizinischen Fortbildungsprogramms – mehr Wert auf einen „menschlichen Umgang mit seinen Patienten“ legt als der „auf dem Land niedergelassene, sehr kühle“, wissenschaftliche Typ. Dieser unterscheidet sich wiederum vom „jovialen, aber etwas weichlichen“ Kumpel-Arzt. Mit dieser Typologie im Gepäck gilt es dann, die „Elastizität“ der jeweiligen Zielgruppe zu vergrößern. Denn je „elastischer“ ein Arzt ist, desto empfänglicher ist er auch für die Anliegen der Pharmaindustrie.

Unter den Medizinern regt sich jedoch zunehmend Widerstand. Manche lassen überhaupt keine Pharmavertreter mehr in ihre Praxis. Wegen der wachsenden Kritik sehen sich die Konzerne zunehmend gezwungen, neue Methoden der Lobbyarbeit zu entwickeln, die wissenschaftlicher verpackt und weniger durchschaubar sind. So richtet sich Sanofi seit einiger Zeit vermehrt an Meinungsführer – sogenannte Key Opinion Leaders, deren Beurteilungen vielen niedergelassenen Ärzten als Orientierung dienen – und versucht beispielsweise auch Einfluss auf Universitätsdekane zu nehmen, auf die die kritische Einstellung vieler junger Ärzte vermeintlich zurückgeht. Ich musste während meines Praktikums bei Sanofi unter anderem „Argumentationsstrategien für Dekane“ erstellen. Mit deren Hilfe sollten auch die skeptischsten Fakultätsleiter davon überzeugt werden, dem Unternehmen Zutritt zu ihren Vorlesungen zu gewähren.

Sanofi organisiert seit 20 Jahren die Prüfungen für die jährlichen Épreuves classantes nationales (ECN), die ausschlaggebend dafür sind, wo Medizinstudenten ihr praktisches Jahr absolvieren dürfen. Und wenn eine medizinische Fakultät bei diesen ECN schlecht abschnitt, wurde selbst das noch im Sinne von Sanofi instrumentalisiert. Als sich die Platzierungen der Universität Paris V bei den Tests erheblich verschlechterten, hatte Sanofi die passende Erklärung parat: Der Dekan der medizinischen Fakultät war ein erklärter Gegner der Probeklausuren und duldete auch keine Broschüren, Plakate oder andere getarnte Werbemittel in seinem Haus.

Zuckerrüben in der Bakterienküche

Die Beeinflussungsmaschinerie funktioniert jedoch nicht reibungslos und ohne Widerstand. Vielmehr gibt es auf allen Ebenen Zweifel, Unstimmigkeiten und Widersprüche. Vor allem beim Thema Bakterienresistenz sprechen manche Pharmareferentinnen – es handelt sich in der Tat um einen mehrheitlich von Frauen ausgeübten Beruf – mit den Ärzten über alle verfügbaren Antibiotika und nicht nur über die, die am meisten Geld einbringen. Sie bemühen sich darum, nicht nur rein geschäftliche Beziehungen aufzubauen, und sprechen dabei hin und wieder auch kritische Punkte an. Doch nicht selten werden sie dafür von ihren Vorgesetzten gerügt oder sogar in andere Gebiete versetzt.

Das Sanofi-Werk, in dem durch bakterielle Gärung der Pyostacine-Wirkstoff hergestellt wird, liegt in einem Industriegebiet südlich von Rouen, in dem auch etliche andere Unternehmen wie Total oder ASK Chemicals ihre Produktionsstandorte haben. Auf dem Werksgelände wächst an einigen Stellen, wo früher Hallen standen, wieder Gras. Die übrigen Gebäude sind über ein Gewirr von Rohren miteinander verbunden, durch die Sauerstoff, aufbereitetes Wasser, Lösungsmittel und Säuren strömen. Wer zum ersten Mal das Werk betritt, dem steigt sofort ein gewisser Duft in die Nase. Es ist der Geruch von landwirtschaftlichen Abfällen, genauer gesagt von Zuckerrübenmelasse, die die Bakterien brauchen, ehe sie die Wirkstoffe ausscheiden. Sie wird in Kesselwagen angefahren und überdeckt alle anderen Gerüche.

In der Gärungsanlage hingegen beeindruckt vor allem die Geräuschkulisse: Wie langsam rotierende Flugzeugpropeller drehen sich ununterbrochen die Rührer von Dutzenden Bioreaktoren mit einem Fassungsvermögen von 220 000 Kubikmetern. Hier entsteht das Pristinamycin-Molekül, das später in Spanien abgepackt wird, bevor es unter seinem Handelsnamen Pyostacine in die Apotheken gelangt.

Die Angestellten beschreiben ihre Tätigkeit im Prinzip als interessant. Nur die Arbeitsbedingungen sind ausgesprochen hart, was vor allem an dem Schichtdienst nach dem Fünf-mal-acht-Schema liegt. Konkret bedeutet das, dass fünf Teams im Wechsel erst zwei Tage von 5 Uhr morgens bis mittags um 12 Uhr arbeiten, dann zwei Tage von mittags bis 20 Uhr und schließlich nochmals zwei Tage von 20 Uhr bis 5 Uhr.

Offiziell haben die Arbeiter danach vier Tage frei. Doch elfmal pro Jahr wird einer dieser Tage gestrichen, weil sonst die in Frankreich vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von 35 Stunden unterschritten werden würde. Es bleiben also oft nur drei frei Tage übrig, die darüber hinaus noch verkürzt werden durch die Nachtarbeit, mit der ein Arbeitszyklus endet, sowie durch die Frühschicht, mit der es anschließend wieder losgeht.

Wer nach diesem Rhythmus arbeitet, kann nie dreimal hintereinander zur gleichen Zeit schlafen. „Das Gehirn kann diesem Schlaf-Wach-Rhythmus irgendwann nicht mehr folgen“, erklärt Etienne Warheit, der das Fünf-mal-acht-Schema seit fast 34 Jahren mitmacht. „Vor zwei Jahren ging es bei mir los. Ich konnte einfach nicht mehr richtig schlafen. Um 10 Uhr abends war ich so müde, dass ich dauernd eingenickt bin, aber um Mitternacht war ich wach und schlief frühestens gegen 2 Uhr morgens wieder ein. Und dann umgekehrt … Ich kam müde bei der Arbeit an, also musste ich Kaffee trinken. Du bist einfach nicht mehr in der Lage, deine Arbeit richtig zu erledigen. Du machst alles dreimal, weil du Angst hast, etwas vergessen oder Mist gebaut zu haben. Du verlierst das Vertrauen in dich selbst.“

Wenn sich jemand vor lauter Erschöpfung auf einen Posten versetzen lassen will, wo er nur tagsüber arbeiten müsste, wird dies von der Firmenleitung meist abgelehnt, weil es solche Stellen kaum gibt. Denn die oberste Priorität besteht in der maximalen Auslastung der Maschinen, die ununterbrochen am Laufen gehalten werden.

Die Führungsetage behauptet, der unmenschliche Schichtdienst sei alternativlos: Der biochemische Ablauf der bakteriellen Gärung gebe das Fünf-mal-acht-Schema vor. „Es ist offensichtlich, dass in einem Werk wie diesem, wo die Maschinen im Dauerbetrieb laufen und auch nicht anders laufen können, nur so gearbeitet werden kann“, erklärt der Werksarzt. Eine solche „wissenschaftliche“ Begründung lässt jeden Versuch einer kollektiven Gestaltung der Arbeitsbedingungen ins Leere laufen. Sie ist Teil eines allgemeineren „biotechnologischen“ Diskurses, demzufolge eine zukunftsorientierte Fabrik mehr und mehr zu einem Labor wird oder, mit den Worten eines Fertigungsleiters, zu einem „kleinen oder mittleren Allroundunternehmen“, in dem Arbeitskämpfe nichts verloren haben.

So entsteht eine riesige Kluft zwischen der konkreten Praxis des Unternehmens und seinen hehren Werten, die in fetten Lettern am Werkstor hängen: „Das Wichtigste ist die Gesundheit“. Doch auch die Proteste, bei denen einer der Personalchefs schon das Gefühl bekam, „auf einem Pulverfass zu sitzen“, und die den Werksleiter um ein Haar an den Punkt gebracht hätten, zu den Arbeitern „runterzugehen“, sind Teil der Unternehmensstrategie.

Dem Pharmariesen ist es durch die Verschleierung der realen Zustände in der Fabrik und durch Beförderungsangebote für einzelne Arbeiter gelungen, das ursprünglich vorhandene gewerkschaftliche Engagement und gemeinsame Forderungen zu unterminieren und stattdessen den individuellen Ehrgeiz anzuspornen. Möglich wurde das auch, weil die Belegschaft Angst um ihre Arbeitsplätze bekam: Zwischen dem Ende der 1990er Jahre und 2005 drohte die Konzernführung nämlich mit dem Verkauf der Pharmafabrik und konnte so Umstrukturierungsmaßnahmen sowie den Abbau von 15 der insgesamt 77 Stellen im Fünf-mal-acht-Schichtdienst durchsetzen. Heute gilt das einst von der Schließung bedrohte Werk als „Pilotanlage“ des Sanofi-Konzerns.

Diese veränderte Situation – die weder an den Arbeitsbedingungen noch an den Gehältern etwas verändert hat – ist nicht nur ein Zeichen dafür, dass die Pharmaindustrie den Nutzen der Bakterien entdeckt hat. Der Biotechboom ist charakteristisch für den gesamten Industriekapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts. Es gibt mittlerweile grüne Biotechnologien (in der Landwirtschaft), weiße (in der Industrie), gelbe (gegen Umweltverschmutzung), blaue (auf der Grundlage von Meeresorganismen) und rote (in der Medizin). In all diesen Bereichen entwickeln sich Märkte mit oft beeindruckenden Profitraten. Grund genug für die Pharmakonzerne, vermehrt Biotechfirmen aufzukaufen.

Im April 2011 übernahm Sanofi für 20 Milliarden Dollar Genzyme, ein auf Multiple Sklerose und Herzkreislauferkrankungen spezialisiertes Biotechunternehmen aus den USA. Solche Firmen gewinnen die neuen Moleküle, die bei der Behandlung vieler Krankheiten zum Einsatz kommen, nicht mehr wie früher durch chemische Synthese, sondern durch die Nutzung – häufig genetisch veränderter – lebender Organismen und erzielen dadurch erhebliche Kosteneinsparungen.

Seit dem Jahr 2000 hat Sanofi seine Antibiotikaforschung nach und nach zurückgefahren und 2004 schließlich sein Forschungszentrum in Romainville bei Paris geschlossen. Stattdessen baut der Konzern seine Kontrolle über die öffentliche Forschung aus: Er finanziert medizinische Kongresse und erhält im Gegenzug die Möglichkeit, Einfluss auf die wissenschaftliche, finanzielle und räumliche Ausrichtung der Veranstaltungen zu nehmen.

Auf dem Kongress der französischen Infektiologie (Journées nationales d’infectiologie) im Jahr 2011, an dem ich auch teilgenommen habe, gab es zwei Sektoren. Auf der einen Seite der „Markenbereich“, in dem die Handelsvertreter über Pyostacine redeten: 56 Stände von Pharmaunternehmen, die in sieben leicht versetzten Reihen so angeordnet waren, dass die 1 500 Ärzte, die zu der Tagung angereist waren, nur im Slalom vorankamen. Und auf der anderen Seite der „Wissenschaftsbereich“, wo in zwei Hörsälen Symposien stattfanden und wo nicht von Pyostacine, sondern von Pristinamycin die Rede war.

Um zum Wissenschaftsbereich der Infektiologietagung zu gelangen, mussten sich die Teilnehmer an mindestens 13 Ständen vorbeischlängeln. Deren Aufmachung verriet einiges über die jeweiligen Aussteller: Während man etwa beim Pharmariesen Boehringer Ingelheim4 unter blauem Neonlicht auf Designerhockern feinstes Gebäck angeboten bekam, standen bei dem auf ambulante Pflege spezialisierten französischen Unternehmen Studio anté lediglich zwei Tüten Apfelsaft auf einem überladenen Plastiktisch.

Trotz der scheinbaren Trennung der beiden Bereiche gibt es enge Verbindungen zwischen der kommerziellen und der wissenschaftlichen Sphäre. Bei medizinischen Kongressen geht es den Unternehmen primär darum, die Überlegenheit ihrer Produkte zur Schau zu stellen. Daher tragen die Symposien auch entweder den Namen ihrer Sponsoren – „Bayer-Symposium“, „GSK-Symposium“, „Sanofi-Symposium“ und so weiter –, oder die Key Opinion Leader der einzelnen Firmen liefern sich einen Schlagabtausch.

Um sich die Unterstützung bedeutender Ärzte zu sichern, scheuen die Lobbyisten der Konzerne keine Mühen. Dabei setzen sie vor allem auf Reisen, die als wissenschaftliche Veranstaltungen getarnt sind. Eine Produktmanagerin von Sanofi hat mir erzählt, wie sie ein Expertenteam für ein bestimmtes Medikament zusammengestellt hat. „Ich hab denen gesagt: ‚Es gibt zehn Plätze und ich nehme nur Leute mit, die mindestens eine Million Euro umsetzten.‘ Im ersten Jahr war ich mit ihnen in Singapur. Im zweiten Jahr war ich mit fast denselben Leuten im südafrikanischen Durban. Im Jahr darauf waren wir in Cancún in Mexiko und dann in Birma. Es hört sich vielleicht dumm an, und ich darf es eigentlich auch gar nicht erzählen, aber genau so bindet man echte Geschäftspartner.“

Bei klinischen Studien gibt es ganz ähnliche Verflechtungen. Jean-Jacques Sernine ist einer der bekanntesten Infektiologen Frankreichs und gleichzeitig ein Key Opinion Leader im Dienste von Pyostacine. Sein beruflicher Werdegang beruht im Wesentlichen auf zwei Eckpfeilern: Er hat zum einen klinische Studien für die Pharmaindustrie (vor allem mit Pyostacine) durchgeführt und berät zum anderen als anerkannter Experte die staatlichen Arzneimittelbehörden. Auch wenn er in diesen beiden Funktionen nie die gleichen Medikamente untersucht hat – das wäre ein allzu offensichtlicher Interessenkonflikt –, gehört er doch einer kleinen Gruppe von Experten an, die zwischen Industrie und öffentlichem Gesundheitswesen hin und her wechseln. „Interessenkonflikte gibt es andauernd. In meinem Bereich entsteht er schon allein dadurch, dass es um Antibiotika geht“, rechtfertigt sich Sernine. „Die Dinge funktionieren nur, wenn sich die Gutachter, die wie ich für die Behörden arbeiten, mit den Vertretern der Pharmaindustrie austauschen.“ So bleibt der Experte, als Richter und Beteiligter in einer Person, wohl in dem besagten Interessenkonflikt gefangen.

Das Problem betrifft auch die Nationale Agentur für die Sicherheit von Medikamenten und Gesundheitsprodukten (ANSM), deren Arbeit ausschließlich auf Expertenwissen beruht. Die Behörde hat ihren Sitz im Pariser Vorort Saint-Denis, in einem imposanten Glasgebäude, das architektonisch jedoch längst nicht so elegant und leicht wirkt wie die Sanofi-Zentrale. Die Drehtür am Eingang war bei meinem Besuch kaputt und mit rot-weißem Absperrband umwickelt; zum Glück gab es noch eine ganz normale Tür. Die Atmosphäre im Warteraum, in dem allerlei Plastikpflanzen vor sich hin staubten, erinnerte mich vage an das Atelier eines Tierpräparators.

40 Sekunden pro Zulassungsantrag

Die Ästhetik dieser beiden Gebäude spiegelt gewissermaßen auch die enorme ökonomische und soziale Asymmetrie zwischen dem Konzern und der Behörde wider. Es kommen einem unweigerlich Zweifel, ob die ANSM dem Konzern überhaupt gewachsen ist. Die Behörde hat nämlich oft weder die Zeit noch die Mittel, um alle von den Unternehmen eingereichten Anträge zu lesen und zu prüfen. Jean-Jacques Sernine erinnert sich mit sichtlichem Spott an einen Antrag, an dem er mitgearbeitet hat: „Das waren 57 Bände mit je 600 bis 700 Seiten, die zusammen 110 Kilo wogen und aufeinandergestapelt zwei Meter hoch waren. Und es handelte sich dabei lediglich um einen Teil des Dossiers. Wenn man bedenkt, dass die Unternehmen früher jedes Dossier in 50 Exemplaren abliefern mussten … Es gab einen 35-Tonner, der die Dossiers nach Saint-Denis brachte.“

Diese Missverhältnisse sind alles andere als neu. Anfang der 1950er Jahre musste das Hautantiseptikum Stalinon vom Markt genommen werden. 102 Patienten waren nach Einnahme des Medikaments gestorben und 150 trugen unheilbare Lähmungen davon. Es kam zum Prozess. Der bekannte Schriftsteller und Le Monde-Kolumnist Bertrand Poirot-Delpech berichtete am 1. November 1957 über den Skandal in seiner Gerichtskolumne: „Maître Floriot [der Anwalt der Klägerseite] hat eine schlaue Berechnung angestellt. Da 1953 insgesamt 2 276 Zulassungen erteilt wurden und die Prüfer im Laufe des Jahres achtmal für einige Stunden getagt haben, kommt er auf eine Rekordzeit von 40 Sekunden pro Antrag.“

Klinische Studien mit Antibiotika finden heute unter undurchsichtigen Bedingungen statt, die Daten werden selektiv erhoben und manchmal auch einfach gefälscht, wie der jüngste Skandal um das indische Unternehmen GVK Biosciences5 wieder einmal gezeigt hat. Doch Experten wie Doktor Sernine scheint das kaum anzufechten. Als er berichtet, wie im Rahmen einer in den frühen 2000er Jahren durchgeführten Studie zur Wirksamkeit von Pyostacine bei Lungenentzündung die Behandlung mit Pyostacine in sieben Fällen keinen Erfolg zeigte, während das Vergleichsmedikament nur viermal nicht richtig wirkte, hatte er eine, jedenfalls aus seiner Sicht, plausible Erklärung parat.

Das habe eben daran gelegen, dass an der Studie Patienten teilgenommen hätten, deren Gesundheitszustand zu schlecht für eine Behandlung mit Pyostacine gewesen sei. „Meine Schlussfolgerung daraus lautet, dass nicht das Antibiotikum, sondern das Verfahren versagt hat.“ Eine erstaunliche Argumentation: Denn wie soll man die Wirksamkeit eines Medikaments bestimmen, wenn die Patienten, die es nicht heilen kann, einfach ausgeschlossen werden, wenn man also davon ausgeht, dass es nur wirkt, wenn es eben wirkt?

Die Zulassungsbehörde kommt derartigen Zirkelschlüssen in den komplexen Dossiers oft kaum auf die Spur, was auch daran liegt, dass die darin enthaltenen Statistiken die fallbasierten medizinischen Urteile verdrängt haben. Nicht selten führt diese Zahlenschieberei zu falschen Ergebnissen. Durch das Sanofi-Medikament Ketek starben 2007 etwa mehrere Patienten infolge von Leberschäden. Einer der Verantwortlichen in den USA musste für zwei Jahre ins Gefängnis, weil ihm nachgewiesen werden konnte, Patienten „erfunden“ zu haben, um die Wirksamkeit des Arzneimittels künstlich zu erhöhen. Einige Wissenschaftler von Sanofi erinnern sich nur noch dunkel daran, dass es bei diesem Medikament „ein paar Leichen im Keller“ gab.

Diese Wortwahl offenbart einen gewissen Zynismus innerhalb des Unternehmens, dessen Führungskräfte die Spielregeln der Branche restlos verinnerlicht haben. Für sie stehen im Zweifel die Firmeninteressen über denen der Patienten. Ob in den Büros des medizinischen Dienstes oder in der Marketingabteilung – wenn es um unvorhersehbare Nebenwirkungen, um verzerrte klinische Studien oder ausgewachsene Arzneimittelskandale geht, scheinen plötzlich alle einen Blackout zu haben. Klinische Misserfolge haben eben nicht den gleichen Stellenwert wie Erfolge.

Das bringt uns zu einem Kernproblem der Pharmaindustrie: Diejenigen, die die klinischen Tests in Auftrag geben, also einen Wirksamkeitsnachweis von Arzneien erbringen sollen, haben diese Medikamente auch produziert. Dieses Phänomen wird auch als „regulatory capture“ bezeichnet, also die Unterwanderung des Staats durch Interessenorganisationen der Industrie. Das allen bekannte Problem tritt nach jedem Skandal aufs Neue zutage: Stalinon (1957), Contergan (1962), Diethylstilbestrol (1977), Prozac (1994), Lipobay (2001), Vioxx (2004) und so weiter. Jeder dieser Fälle derart verursachter „fahrlässiger Tötung“ hat die Frage nach der Unabhängigkeit klinischer Studien wieder aufgeworfen. Was auch immer darauf folgte, es wurde nie infrage gestellt, dass Arzneimittel eine im Privatbesitz befindliche Ware sind.

Das Problem ist tief in unserem Wirtschaftssystem verankert, in dem es keine moralische Unterscheidung zwischen Medikamenten, Erdöl und Kosmetika gibt. Und überall haben die gleichen Aktionäre die Fäden in der Hand: Seit dem kürzlichen Ausstieg von Total ist L’Oréal6 nun Hauptanteilseigner von Sanofi. Nur die es am meisten betrifft, haben am wenigsten zu sagen: die Ärzte und ihre Patienten.

Fußnoten: 1 In Deutschland gibt es zur Zeit kein Medikament mit dem Wirkstoff Pristinamycin. 2 Die vierjährigen Recherchen für diese Untersuchung fanden im Rahmen einer soziologischen Doktorarbeit statt. In dieser Zeit absolvierte der Autor unter anderem ein Praktikum in der Marketingabteilung und arbeitete in der Produktion des Sanofi-Konzerns. 3 Alle Namen wurden geändert. 4 Seit Juni 2013 arbeitet der Sozialdemokrat Kurt Beck, ehemaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, als Lobbyist für Boehringer Ingelheim. 5 Im Dezember 2014 geriet das Unternehmen GVK Biosciences aus Hyderabad unter Verdacht, jahrelang systematisch Daten gefälscht zu haben. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA überprüft derzeit 1 250 Medikamente, die möglicherweise vom Markt genommen werden müssen. Über die Testmethoden der Konzerne vgl. auch Sonia Shah, „Big Pharma forscht im Slum“, Le Monde diplomatique, Mai 2007. 6 Über die Geschichte und Geschäftspraktiken des Konzerns siehe Mona Chollet, „Cremes aus Clichy. Angeschmiert von L’Oréal“, Le Monde diplomatique, Juni 2009. Aus dem Französischen von Richard Siegert Quentin Ravelli ist Mitarbeiter am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) und Autor des Buchs „La Stratégie de la bactérie“, Paris (Seuil) 2015.

Die stärkeren Keime

Ob Krankenhauskeime (Methicillin-resistente Staphylococcus aureus, MRSA), Superkeime mit dem Resistenzgen NDM-1 (Neu-Delhi Metallo-Beta-Lactamase), Tuberkuloseerreger oder unkontrollierbare Enterokokken: Multiresistente Bakterien breiten sich weltweit aus, und das hat nicht nur natürliche Ursachen. Denn dadurch, dass Antibiotika überall und oft ohne medizinische Notwendigkeit eingesetzt werden (etwa als Wachstumsförderer in der industriellen Tierhaltung), verlieren sie ihre Wirkung.

Das Problem ist seit Langem bekannt. Wenn man Bakterienpopulationen einem hoch dosierten Antibiotikum aussetzt, überleben diejenigen, die bestimmte genetische Eigenschaften besitzen, und vererben die entstandene Resistenz an die Folgegenerationen – so funktioniert die natürliche Selektion.

Bereits 1913 verlangte der deutsche Arzt Paul Ehrlich ein entschlossenes Vorgehen gegen Krankheitserreger, weil diese sonst Resistenzen entwickeln würden. Fünfzehn Jahre später entdeckte der schottische Bakteriologe Alexander Fleming, dass Bakterien infolge einer zu kurzen oder zu niedrig dosierten Behandlung mit dem Schimmelpilz Penicillium nicht mehr auf diese Substanz reagierten.

In den 1950er Jahren warf dann der US-amerikanische Infektiologe Maxwell Finland Medizinern und Pharmaindustrie wiederholt vor, sie würden die Ausbreitung resistenter Erreger fördern, indem sie Antibiotika für nicht therapeutische Zwecke einsetzen. Inzwischen hat die Widerstandsfähigkeit von Bakterien weltweit dramatische Ausmaße angenommen. Schätzungen zufolge sterben in den USA mehr Menschen aufgrund von resistenten Bakterien als durch Aids und Tötungsdelikte.

Mit einigen Jahrzehnten Verspätung hat mittlerweile auch die Politik begonnen, sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. 1998 stufte die Weltgesundheitsorganisation den Kampf gegen resistente Bakterien erstmals als eine ihrer Prioritäten ein. Die EU-Kommission hat im November 2011 einen umfassenden Aktionsplan zur Abwehr der Antibiotikaresistenz vorgelegt und im September 2014 zwei Vorschläge zu Tierarzneimitteln und Arzneifuttermitteln verabschiedet, mit denen sie die Tiergesundheit verbessern und die Antibiotikaresistenz in der EU bekämpfen will. Zahlreiche Länder arbeiten zudem an eigenen Strategien.

Um kein Risiko einzugehen und oft auch, weil die Patienten explizit darum bitten, verschreiben viele Ärzte nach wie vor auch dann Antibiotika, wenn keine bakterielle, sondern (wie bei den meisten Grippe- und Erkältungskrankheiten) eine Virusinfektion vorliegt. Antibiotika bekämpfen jedoch lediglich Bakterien. Gegen Viren sind sie machtlos. Das ist allerdings nur die medizinische Seite eines allgemeinen ökonomischen Überproduktionsproblems: Durch ihr Bestreben, möglichst viele Antibiotika zu verkaufen, erhöhen die Pharmakonzerne stetig die globalen Risiken, ohne nach den Grenzen ihres Handelns zu fragen.

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Quentin Ravelli