08.01.2015

Das Land der Paschtunen

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Das Land der Paschtunen

von Owen Bennett-Jones

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Der Konflikt im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet hat mit anderen aktuellen Auseinandersetzungen vieles gemein. Von Timbuktu bis Kandahar kämpfen dschihadistische Bewegungen, Regierungen, ethnische Gruppen – in einigen Fällen auch Stämme – um die regionale Vorherrschaft. Jeder dieser Konflikte ist durch komplizierte lokale Besonderheiten geprägt: die willkürlichen internationalen Grenzziehungen, die Stärke oder Schwäche (nichtterroristischer) islamistischer Bewegungen, die Präsenz oder Abwesenheit ausländischer Truppen (seien es westliche Soldaten oder Dschihadisten); und die unterschiedlichen historischen Erfahrungen mit dem Kolonialismus.

Aus Sicht der westlichen Regierungen sind einige dieser Konflikte wichtiger als andere. So war es etwa für Frankreich nicht hinnehmbar, dass Mali an radikale Kräfte fällt. Also wurde interveniert. Anders in Somalia: Dieser Konflikt wurde vom Westen weitgehend ignoriert, weshalb man das Problem im Wesentlichen der Afrikanischen Union (AU) überließ. In Syrien, hieß es zunächst, sollten territorialen Gewinne der al-Qaida unbedingt verhindert werden, aber eine mit al-Qaida verbundene Gruppe und der „Islamische Staat“ (IS) haben genau dies geschafft. Präsident Obama ordnete erst Anfang November 2014 Luftschläge gegen Stellungen des IS an.

Die Reaktionen scheinen keinen rationalen Entscheidungsprozessen zu entspringen. Im Jemen zum Beispiel können Gefolgsleute der al-Qaida unbehelligt Angriffe auf westliche Ziele planen. Das Kämpfen überlassen die USA den viel schwächeren jemenitischen Streitkräften, während sie aus der Luft eingreifen, vor allem mit bewaffneten Drohnen.

Insofern stellen die paschtunischen Gebiete im Grenzland zwischen Afghanistan und Pakistan eine Ausnahme dar. Im Kampf gegen die Dschihadisten hat der Westen schon sämtliche verfügbaren Taktiken angewandt: den Einsatz von Bodentruppen, Luftschläge und Drohneneinsätze, aber auch Bestechung der Eliten, Sozialprogramme und Infrastrukturprojekte. An Engagement, um die Paschtunen unter Kontrolle zu bringen, fehlte es nicht.

Mohnfelder und Atomwaffen

Was erklärt nun den Unterschied zum Vorgehen in Jemen? Die Angriffe, die von paschtunischem Gebiet aus organisiert wurden – und dazu gehören die Attentate vom 11. September 2001 –, erreichten ihr Ziel. Dagegen wurde der raffinierte Anschlag, der im Jemen geplant wurde, im Oktober 2010 vereitelt.1 Das Interesse am Land der Paschtunen rührt aber nicht nur daher, dass die USA auf Rache für 9/11 aus waren. Das gesamte Ausland ist auch über den lokalen Mohnanbau beunruhigt und noch mehr über die Tatsache, dass hier ein Großteil des pakistanischen Atomwaffenarsenals lagert.

Die komplizierten Verhältnisse in und um diese Region haben die Politiker und Experten in den Hauptstädten aller Großmächte bereits seit 150 Jahren immer wieder intensiv beschäftigt. Das gilt heute für Washington ebenso wie zuvor für Moskau und noch früher für London.

1893 schuf Großbritannien die Durand-Linie, um Afghanistan von der Nordostregion Britisch-Indiens (dem heutigen Pakistan) abzutrennen. Diese Grenze wird heute von Pakistan akzeptiert, von Afghanistan jedoch nicht. Die Durand-Linie trennte das Volk der Paschtunen: Etwa ein Drittel leben heute in Afghanistan, zwei Drittel in Pakistan. Die Demarkationslinie diente einem speziellen Ziel: Die Kolonialverwaltung betrachtete das Paschtunengebiet nicht als Teil des imperialen Kernlands, sondern als Pufferzone, was sich auch in den Verwaltungsstrukturen widerspiegelte. So deklarierten die Briten einige der von ihnen kontrollierten Paschtunengebiete zu „settled areas“ (was „sesshaft“ wie auch „stabilisiert“ bedeuten kann), andere, nahe der Durand-Linie, dagegen zu „tribal areas“. Die Ältesten in den „Stammesgebieten“ erhielten Subventionen und einen offiziellen Status. Als Gegenleistung sollten sie für Frieden sorgen, was in erster Linie bedeutete, die Straßen zu sichern.

Auf diese Weise erreichte die Kolonialmacht zu minimalen Kosten ihr militärisches Ziel, den Rand des Imperiums zu schützen. Für den Fall, dass die Bestechungsgelder nicht ausreichten, wurde 1901 die Frontier Crime Regulation2 eingeführt. Sie enthielt zwei Regelungen, mit denen man die Stammesältesten zur Kooperation zwingen wollte: Erstens konnten Personen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festgesetzt werden; zweitens konnten Kollektivstrafen verhängt werden.

Die britischen Kolonialbeamten merkten bald, dass dieses System die Stammesstrukturen nur zementierte. Man hätte annehmen können, die Verhältnisse würden sich mit der Gründung des Staates Pakistan im Jahr 1947 ändern, denn der neue Staat bemühte sich, die Stammesgebiete stärker einzubinden. Tatsächlich änderte sich wenig – bis heute: Noch immer werden Kollektivstrafen gegen Familien und Gemeinschaften vermeintlicher Missetäter verhängt. Und die Einheimischen betrachten die pakistanischen Staatsfunktionäre genau wie deren britische Vorgänger als politische Agenten, weil sie ihre unbegrenzten Machtbefugnisse willkürlich ausüben. Ein pakistanischer Agent der nordwestlichen Grenzprovinz Khyber Pakhtunkhwa hat mir einmal ganz unverblümt erklärt: „In dieser Gegend bin ich der Stellvertreter Allahs.“

Auch auf afghanischer Seite war die Kabuler Zentralregierung nie stark genug, die Stammesloyalitäten aufzubrechen. In ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht waren die Folgen für beide Grenzgebiete verheerend. In den pakistanischen Nordwestprovinzen liegt die Analphabetenrate der Frauen noch immer bei über 70 Prozent.

Nach 9/11 wurden diese speziellen Herrschaftsmethoden in den paschtunischen Gebieten besonders bedeutsam. Als die Truppen der Nordallianz im November 2011 Kabul einnahmen und die Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer aus Afghanistan vertrieben, fanden viele von ihnen Zuflucht in den pakistanischen Paschtunengebieten jenseits der Durand-Linie. Ihr Vorteil war, dass Dschihadisten und Stammeskrieger ungehindert die Grenze überqueren konnten – im Gegensatz zu den Streitkräften Washingtons, Kabuls und Islamabads.

Als der Krieg weiterging und die afghanischen Taliban sich neu gruppierten, standen die USA vor einer schwierigen Wahl. Entweder konnten sie mit Hilfe der politischen Agenten Pakistans die Stammesältesten durch Bestechung und Einschüchterung dazu bringen, ihnen die nach Pakistan geflüchteten Taliban-Kämpfer auszuliefern. Oder sie konnten Gewalt einsetzen. In Washington war man nicht gewillt, die wichtige Front im Krieg gegen den Terror einem Haufen Stammesfunktionäre anzuvertrauen. So kam es zu der Entscheidung, US-Soldaten in Afghanistan zu stationieren sowie Drohnen und Spezialtruppen auf beiden Seiten der Durand-Linie einzusetzen. Damit standen die Stammesältesten von allen Seiten unter Druck. Sollten sie den Dschihadisten Zuflucht gewähren? Oder sie festsetzen und das Lösegeld der USA für deren Auslieferung kassieren? Bei dieser schwierigen Entscheidung mussten die Ältesten auch die regionalen Rivalitäten bedenken, wie etwa die zwischen religiösen und nationalistischen Führern.

Der Fakir von Ipi, ein obskurer Dorfgeistlicher, der in den 1930er Jahren gegen die Briten kämpfte, repräsentiert beide Seiten der paschtunischen Gesellschaft. Er wurde schlagartig berühmt durch einen Vorfall, zu dem es eine erstaunliche Parallele in der Gegenwart gibt: Mullah Omar stieg angeblich zum Führer der Taliban auf, nachdem er einen Warlord bloßgestellt hatte, der sich an einen Jungen herangemacht haben sollte. Die Karriere des Fakirs von Ipi begann 1936 mit seinem Protest gegen das Urteil eines britisch-indischen Gerichts, das die Heirat eines 15-jährigen Mädchens mit einem Muslim annullierte. Die Tochter einer Hindu-Familie durfte nicht bei ihrem Ehemann verbleiben, weil sie als Minderjährige zum Islam übergetreten war. Der Fakir nutzte die Empörung seiner Landsleute aus, um die disparaten Stammeskräfte zu vereinigen. Bald konnte er eine Privatarmee von mehreren tausend Mann aufstellen, die er in Afghanistan ebenso wie in Britisch-Indien rekrutierte.

Der Fakir spielte zunächst die religiöse Karte und predigte das bevorstehende Weltende, bei dem nur die Muslime, die seinem Aufruf folgten, ins Paradies kämen. Seine Anhänger glaubten, er könne Kranke heilen und Fliegerbomben in Papier verwandeln. Die übernatürlichen Fähigkeiten des Fakirs waren bewiesen, denn die Briten pflegten Propagandaflugblätter aus Flugzeugen abzuwerfen.

Als dann 1947 der Staat Pakistan gegründet wurde, unterlegte der Fakir seine Opposition mit nationalistischen Tönen, denn er konnte ja ein Land, das im Namen des Islam entstanden war, schwerlich mit religiösen Argumenten infrage stellen. Also erklärte er, die Paschtunen hätten im Grunde wenig gewonnen, wenn sie der pakistanischen statt der britischen Herrschaft unterworfen wären. Er verbündete sich mit dem paschtunischen Nationalistenführer Abdul Ghaffar Khan und seinen „Rothemden“ (ihre Uniformen waren von Ziegelstaub gefärbt). Als die Briten den Rückzug vom indischen Subkontinent antraten, war die antiimperialistische Rhetorik Ghaffar Khans in den paschtunischen Gebieten auf fruchtbaren Boden gefallen. Um den Nationalisten entgegenzukommen, beschlossen die Briten, in der pakistanischen Nordwestlichen Grenzprovinz (heute: Khyber Pakhtunkhwa) ein Referendum abzuhalten.

Nationalisten gegen Taliban

Daraufhin verlangte Ghaffar Khan, die Wahl solle nicht nur zwischen Indien und Pakistan möglich sein, sondern auch für einen unabhängigen Staat namens Pasthtunkhwa. Prompt forderte die Regierung in Kabul als vierte Option die Vereinigung mit Afghanistan. Der letzte britische Vizekönig Lord Louis Mountbatten ließ jedoch nur die zwei ursprünglichen Alternativen zu. Daraufhin rief Ghaffar Khan zu einem Boykott des Referendums auf. 45 Prozent der Bevölkerung gingen nicht zu den Urnen; von denen, die abstimmten, optierten 99 Prozent für Pakistan.

Aber die nationalistische Bewegung löste sich nicht auf. Vor zehn Jahren erlebte ich im Nordwesten Pakistans eine Kundgebung mit tausenden Leuten in roten Hemden. Es war eine Demonstration der Awami National Party (ANP), die direkt aus der Khuadai-Khidmatgar-Bewegung von Abdul Ghaffar Khan hervorgegangen ist und derzeit von seinem Enkel Asfandyar Wali Khan geführt wird. Der beschränkt sich bewusst darauf, mehr Autonomie zu verlangen, denn Sezessionsforderungen sind nach pakistanischem Recht verboten. Doch kaum jemand zweifelt daran, dass er die paschtunische Unabhängigkeit anstreben würde, wenn es möglich wäre.

Man kann die ANP als unbedeutende Regionalpartei ansehen, denn sie ist in der Nationalversammlung, dem Unterhaus des pakistanischen Parlaments, nur noch mit zwei Abgeordneten vertreten. Man könnte aber auch argumentieren, dass sie eine der wichtigsten Parteien des Landes ist. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen vertritt sie progressive und liberale Positionen und opponiert offen gegen die Taliban. Während sich alle politischen Kräfte Pakistans mit den Dschihadisten arrangiert haben, ist die ANP in diesem Punkt kompromisslos. Dafür zahlt sie allerdings auch einen hohen Preis.

Die pakistanischen Taliban machen gnadenlos Jagd auf ANP-Führer. Nachdem immer mehr Kader von Taliban umgebracht worden waren, verlor die ANP bei den Wahlen 2013 ihren Rückhalt bei den Wählern – die nicht mehr davon ausgingen, dass die Partei in Islamabad etwas für sie erreichen konnte. Ihr einsamer Widerstand gegen die religiösen Extremisten wurde auch durch die Befürchtungen der Zentralregierung unterminiert, die ANP bedrohe die territoriale Einheit Pakistans. Dabei hat man in Islamabad eine existenzielle Bedrohung des Landes viel eher von den Dschihadisten zu befürchten.

Den Zielen der paschtunischen Nationalisten standen schon immer zwei unüberwindliche Hindernisse entgegen. Zum einen ist ihr Land zwischen zwei Staaten aufgeteilt, die nicht gewillt sind, einen Teil ihres Territoriums aufzugeben. Die Parallele zum Kaschmirkonflikt ist offensichtlich: Dort blockiert die Line of Control (LoC) die Versuche der kaschmirischen Nationalisten, sich von Indien und Pakistan loszusagen; hier vereitelt die Durand-Linie die Träume der paschtunischen Nationalisten von einem eigenen Staat.

Das zweite Hindernis: Die Regierungen in Kabul und Islamabad haben es geschafft, potenzielle Separatistenführer zu kooptieren, indem sie einigen wenigen Paschtunen aus prominenten Familien höhere Posten im Militär oder in der Verwaltung verschafft haben. In Pakistan sind die Paschtunen heute in Armee und Behörden so stark vertreten, dass der Preis für die Unabhängigkeit höher ist, als die meisten zu zahlen bereit wären. Dasselbe gilt für paschtunische Geschäftsleute in Karatschi, die viel zu verlieren hätten.

Damit sind die Nationalisten, wiewohl sie von zahlreichen Paschtunen durchaus unterstützt werden, zur Rolle des bloßen Zuschauers in einem anderen Konflikt verdammt: dem zwischen den religiösen Führern und den Stammesführern. Zum Zeitpunkt der pakistanischen Staatsgründung hatten noch die Stammesältesten die Oberhand. Die Mullahs galten damals als ungebildete, sozial wenig angesehene Amtsträger, die hauptsächlich für Trauungen und Begräbnisse zuständig waren.

In den letzten zehn Jahren kam es jedoch vor, dass Stammesälteste auf beiden Seiten der Durand-Linie zur Verteidigung ihrer Interessen eigene Privatarmeen (Laschkar) aufstellten, die gegen Taliban-Einheiten eingesetzt wurden. Alle Regierungen, die den Taliban den Kampf ansagten, haben versucht, sich die Loyalität der Stämme zu sichern. Doch diese Politik war vermutlich auch deshalb kontraproduktiv, weil sie die Stammesstrukturen gefestigt hat, die ein Hemmnis für die soziale und ökonomische Entwicklung sind. Und das hilft auf lange Sicht nur den Dschihadisten bei der Rekrutierung neuer Anhänger. In gewisser Hinsicht lässt sich der Ursprung der Taliban in Afghanistan und Pakistan auf eine revolutionäre Strategie zurückführen, die auf die Zerschlagung der Stammesstrukturen zielt: In den letzten zehn Jahren haben die pakistanischen Taliban fast 1 000 Stammesälteste umgebracht.

Die ethnischen, religiösen und stammesmäßigen Verflechtungen in den Paschtunengebieten zu ergründen, ist nicht so einfach. Nehmen wir zum Beispiel die Figur von Dschalaluddin Haqqani, dem Gründer und Anführer des Haqqani-Netzwerks. Diese gefürchtete Kampftruppe hat im Laufe der letzten 40 Jahre mit verschiedenen dschihadistischen Organisationen kooperiert, mit al-Qaida wie mit den afghanischen und den pakistanischen Taliban; aber auch mit den Regierungen von Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Manchmal haben die Haqqanis auch zwischen all diesen Kräften vermittelt. Und in Afghanistan haben sie mit Erfolg sowohl die sowjetische als auch die US-Armee bekämpft. Dschalaluddin Haqqani finanziert seine militärischen Unternehmungen über internationale Geschäfte, vom Handel mit Alteisen bis zu Entführungen. Zeitweilig hatte er sogar einen eigenen Privatflughafen. Zwei seiner Kinder wurden durch US-Drohnen getötet und eines von US-Soldaten im Osten Afghanistans; ein viertes starb letztes Jahr unter mysteriösen Umständen in Islamabad.

Mythen und Traditionen

Im Gegensatz zu anderen Stammesführern hat Haqqani schon früh arabische Freiwillige für den Kampf gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan rekrutiert. Einer der ersten war Osama bin Laden, weshalb man sagen könnte, dass die Haqqanis die ersten globalen Dschihadisten waren – lange bevor bin Laden selbst auf diese Idee gekommen wäre. Sehr früh nahmen sie auch Kämpfer aus anderen Ländern in ihr Netzwerk auf: aus China, Tschetschenien, den zentralasiatischen Republiken und aus Europa. Heute sind die Haqqanis dank ihrer Macht und ihrer internationalen Verbindungen eng mit den afghanischen Taliban verbündet, haben sich diesen aber nie untergeordnet. Das Netzwerk unterhält nicht nur Stützpunkte im Osten Afghanistans, sondern auch religiöse und militärische Ausbildungszentren auf der pakistanischen Seite der Durand-Linie.

Man ist also auf ein gutes Verhältnis mit dem Staat Pakistan angewiesen, weshalb man Islamabad bestimmte Dienstleistungen anbietet. Zum Beispiel hat das Haqqani-Netzwerk in den 1990er Jahren pakistanische Kämpfer ausgebildet, die in Kaschmir zum Einsatz kamen; in jüngerer Zeit organisierte es Bombenattentate gegen die indische Botschaft und US-Einrichtungen in Afghanistan – in einigen Fällen in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Militärgeheimdienst ISI.

Im September 2011 schafften die Haqqanis eine ganze Lastwagenladung Sprengstoff aus Pakistan über die Grenze, um eine Nato-Basis zu attackieren. Die US-Stellen waren über den Plan informiert und baten die Pakistaner, den Lastwagen zu stoppen. Obwohl der pakistanische Armeechef General Kayani versprochen hatte, einzugreifen, konnte die Fracht nach Afghanistan gelangen. Dort wurde der Weitertransport zwar von US-Drohnen überwacht, aber die wurden von den Haqqanis ausgetrickst: In einem Tunnel tauschten sie das Fahrzeug aus. Durch die Lkw-Bombe wurden 77 US-Soldaten verletzt.

Die USA hatten sich lange bemüht, den Schein guter Beziehungen mit Pakistan zu wahren, aber nach diesem Vorfall platzte dem obersten Militär im Pentagon der Kragen. „Das Haqqani-Netzwerk agiert geradezu wie ein Arm des pakistischen Geheimdienstes“, beschwerte sich Admiral Mike Mullen am 22. September 2011 vor dem Senatsausschuss für militärische Angelegenheiten. Ein Jahr später setzte Washington die Haqqanis auf seine Liste terroristischer Organisationen. Doch die genossen in Pakistan weiterhin volle Handlungsfreiheit, wobei die Regierung sogar über ihre engen Beziehungen zu den pakistanischen Taliban hinwegsah.

Bis zum Sommer 2013 hatte die Armee die pakistanischen Taliban aus sechs der sieben Stammesregionen vertrieben. Bei diesen Operationen fielen etwa 5 000 pakistanische Soldaten. Die letzte Offensive, die den Taliban auch noch Nordwaziristan abgenommen hätte, zögerte der Generalstab in Rawalpindi hinaus. Der Grund: Das Haqqani-Netzwerk sollte seine Operationen möglichst ungestört fortsetzen können. Als die Offensive dann im Frühjahr 2014 anlief, wurden die heimlichen Verbündeten rechtzeitig gewarnt, so dass sie sich in die relative Sicherheit Afghanistans zurückziehen konnten.

Wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen, wenn man den Paschtunen 1947 die Chance gegeben hätte, sich selbst zu regieren? In diesem Fall, argumentiert der paschtunische Journalist Abubakar Siddique, hätten sie sich vielleicht auf ihre eigenständigen moderaten Traditionen besonnen, für die historische Figuren wie der Islamgelehrte Pir Roshan stehen.3 Roshan hatte im 16. Jahrhundert die paschtunischen Stämme durch seinen Widerstandskampf gegen die Mogul-Herrschaft geeinigt. Er war nicht nur der Schöpfer der paschtunischen Schriftsprache, er nahm auch intellektuelle Einflüsse von außen auf und übernahm die milde Scharia-Interpretation des Sufismus.

Dass sich in der paschtunischen Gesellschaft eine militantere Richtung durchsetzen konnte, lag an der Atmosphäre der Unsicherheit, die in dem neuen Staat Pakistan dominierte. Den Regierungen in Karatschi (der ersten Hauptstadt) und später in Islamabad passten weniger tolerante Denkweisen besser ins Konzept. Das pakistanische Militär unterstützte mehrfach dschihadistische Aktionen gegen Kabul, auch als Reaktion auf afghanische Versuche, die Durand-Linie infrage zu stellen.

Auf diese Weise wurden die Dschihadisten für die pakistanische Strategie instrumentalisiert. Jahrelang wurden sie für ihren Kampf gegen die sowjetischen Truppen mit gigantischen Geldsummen (in Höhe von rund 20 Milliarden Dollar) ausgestattet, die ihnen aus den USA und Saudi-Arabien zuflossen. Letztlich hat die Regierung in Islamabad durch ihre Unterstützung religiöser Parteien und durch die Gründung eines ganzen Netzwerks von Medresen, in denen fanatische Glaubenskrieger ausgebildet wurden, selbst die Bedingungen geschaffen, unter denen sowohl die Taliban als auch al-Qaida gedeihen konnten.

Aus Sicht der Paschtunen bescherte ihnen die Gründung Pakistans also nicht die nationale Emanzipation, sondern lediglich eine neue Fremdherrschaft. Für Siddique ist die ständige Erneuerung regressiver Machtstrukturen eine bessere Erklärung für die heutige Lage als die andere verbreitete Theorie, die den Dschihadismus in der vermeintlich traditionellen Gewaltbereitschaft von Stammesgesellschaften verwurzelt sieht. Siddique glaubt, dass „Westler“ die paschtunische Gesellschaft auch deshalb falsch einschätzen, weil sie häufig ein romantisches Bild von deren Rechtskodex, dem Paschtunwali, haben, als dessen Leitwerte Ehre, Rache und Gastfreundschaft gelten. Verständlicherweise reagiert Siddique ärgerlich, wenn heute ausländische Journalisten – so wie gestern die britischen Imperialisten – „seine“ Kultur auf ein „orientalistisches“ Fantasiegebilde reduzieren.4 Und was den Paschtunwali betrifft, so sieht er nicht nur die Lösung von Streitfragen mittels Gewalt vor, sondern auch mittels Entscheidungsprozessen, die über ausführliche Beratungen und Diskussionen einen Konsens anstreben.

Auch Hassan Abbas, der als Polizeioffizier im Nordwesten Pakistans diente, widerspricht dem Bild der Paschtunen als wilde Stammeskrieger, deren Traditionen mit der modernen Welt unvereinbar seien. Er bietet eine völlig rationale Erklärung dafür, dass die Paschtunen gegen Briten, Sowjets und US-Amerikaner gekämpft haben: Weil sie stets in den Randzonen fremder Imperien gelebt haben und mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit von Invasoren heimgesucht wurden, habe sich bei ihnen eine Kultur des Widerstands entwickelt.5

Das politische Überleben der afghanischen Taliban nach ihrer Niederlage von 2001 führt Abbas auf mehrere Faktoren zurück: zum Beispiel auf die Präsenz von US-Truppen und auf die Profite krimineller Banden, mit denen die Taliban verbündet waren. Die Stärke der pakistanischen Taliban wiederum erklärt er damit, dass der Staat keine Kontrolle über die Stammesgebiete ausübte und dass Präsident Musharraf (Regierungschef von 2001 bis 2008) eine Zeit lang den ehrgeizigen Plan verfolgte, Fraktionen innerhalb der Taliban-Bewegung zu unterstützen, die den pakistanischen Interessen förderlich zu sein schienen.

Zwar wurden die pakistanischen wie die afghanischen Taliban von Saudi-Arabien unterstützt. Doch der wichtigste Faktor war, dass in Pakistan die Angst vor dem wachsenden Einfluss Indiens in Afghanistan und in Belutschistan alles andere überlagert hat. Als Instrument gegen den indischen Einfluss fand man vor allem die afghanischen Taliban nützlich, während die pakistanischen Taliban für Islamabad immer mehr zum Problem wurden. Das Ziel der afghanischen Taliban, die Macht in Kabul zurückzugewinnen, war mit den Interessen Pakistans vereinbar – nicht dagegen die wachsende Unabhängigkeit der pakistanischen Taliban, die sich der Kontrolle Islamabads zu entziehen versuchten.

In pakistanischen Geheimdienstkreisen gab es Leute, die frustriert waren, weil sich die pakistanischen Taliban nicht für den Kampf in Afghanistan mobilisieren ließen. Beunruhigend war auch, dass die pakistanischen Taliban ihre Kämpfer nicht nur im paschtunischen Grenzgebiet, sondern in ganz Pakistan rekrutierten. Den militanten Sektierern aus dem Pandschab oder den Absolventen radikaler Medresen in Karatschi ging es dabei weniger um den Kampf gegen die USA an der Seite der afghanischen Paschtunen als vielmehr darum, die pakistanische Regierung zu stürzen und ein religiöses Regime zu etablieren – und das nicht nur in Islamabad.

Die strategischen und ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Taliban-Bewegungen zeigen sich auch in anderen Bereichen. So bekämpfen die ideologisch radikaleren pakistanischen Taliban die Polio-Impfkampagne des UNHCR, während die eher pragmatischen afghanischen Taliban durchaus bereit sind, die Arbeit der Impfteams zu unterstützen.

Wenn ausländische Beobachter über die „Paschtunenfrage“ nachdenken, tun sie das zumeist in der Hoffnung, die Lösung des Konflikts in den paschtunischen Gebieten beiderseits der Durand-Linie sei den westlichen Sicherheitsinteressen förderlich. Auch die Paschtunen wollen eine Lösung, aber aus ganz anderen Gründen. Sie wollen die Armut und die Unsicherheit, deren brutalisierender Wirkung sie seit mehreren Generationen ausgesetzt sind, endlich hinter sich lassen. Deshalb haben viele ihrer Heimat den Rücken gekehrt: In Karatschi leben heute mehr Paschtunen als in Peschawar oder Kandahar. Und viele von ihnen würden der These von Siddique zustimmen, dass ihr Land ohne ökonomische Entwicklung keine Zukunft hat.

An diesem Punkt stehen die paschtunischen Nationalisten vor einem Dilemma. So fordert Siddique größere Anstrengungen, um die Paschtunen in die bestehenden staatlichen Strukturen zu integrieren. Zum Beispiel will er die repressive Frontier Crimes Regulation6 durch Gesetze ersetzt sehen, die für ganz Pakistan gelten. Doch jede Art politischer Modernisierung bedeutet automatisch die Anerkennung der Durand-Linie als internationale Grenze. Moderne Staaten existieren nur, weil sie Grenzen haben, die sie kontrollieren. Doch diese hier würde die Teilung des paschtunischen Volks besiegeln.

Siddique versucht, dieses Problem durch den Vorschlag zu umgehen, man könne ja die Durand-Linie anerkennen, zugleich aber einen freien Grenzverkehr gestatten. Diese Lösung kann aber nicht funktionieren: Solange die Taliban-Kämpfer die Grenze leichter überschreiten können als die Sicherheitsorgane der beiden Staaten, haben sie einen entscheidenden Vorteil. Mullah Omar, der Anführer der afghanischen Taliban, hat seine Basis in Pakistan, während Mullah Fazlullah, der pakistanische Taliban-Führer, von Afghanistan aus operiert. Das Misstrauen zwischen Kabul und Islamabad ist zudem so ausgeprägt, dass die Geheimdienste beider Seiten froh sind, dem Feind der anderen Seite Unterschlupf bieten zu können.

Im Nahen Osten und in Nordafrika setzen die Regierungen auf unterschiedliche Methoden, um religiöse Bewegungen einzudämmen. In Syrien werden sie vom Assad-Regime umgebracht. In Ägypten steckt sie das Sisi-Regime ins Gefängnis. In Tunesien werden sie mit politischen Mitteln in Schach gehalten. In Pakistan und Afghanistan konnten sich jedoch die beiden Taliban-Bewegungen behaupten, obwohl sie mit allen Mitteln bekämpft werden.

Es ist kaum zu erwarten, dass mit dem Abzug der Isaf-Truppen aus Afghanistan die inneren Konflikte ein Ende finden.7 Der Iran, Indien und China beginnen bereits das von den USA hinterlassene Vakuum zu füllen. Blickt man auf die Geschichte zurück, muss man befürchten, dass jede der neuen Mächte einen anderen Warlord unterstützen wird, um die eigenen Interessen zu wahren – oder wenigstens die Konkurrenten daran zu hindern, Einfluss auf die Regierung in Kabul zu gewinnen. Und die Paschtunen werden erneut ins Kreuzfeuer geraten.

Fußnoten: 1 Zwei in Paketen nach Chicago versteckte Bomben an Bord von zwei Flugzeugen wurden damals bei Zwischenlandungen in England beziehungsweise Dubai entdeckt und entschärft. 2 Diese „Verordnung über Grenzkriminalität“ ermöglichte den Kolonialbehörden verwaltungsrechtliche Ermessensentscheidungen und die Anwendung von Gewohnheitsrecht. 3 Abubakar Siddique, „The Pashtun Question: The Unresolved Key to the Future of Pakistan and Afghanistan“, London (Hurst Publishers) 2014. 4 Zur Kritik des westlichen „Orientalismus“ siehe zum Beispiel Edward Said, „Kultur der Einfühlung – über Orientalismus“, Le Monde diplomatique, September 2003. 5 Hassan Abbas, „The Taliban Revival: Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier“, New Haven (Yale University Press) 2014. 6 Siehe Anmerkung 2. 7 Siehe Camelia Entekhabifard, „Afghanistan – was bleibt“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Owen Bennett-Jones war BBC-Korrespondent unter anderem in Islamabad. Autor von „Pakistan: Eye of the Storm“, New Haven/London (Yale University Press) 2013. © London Review of Books; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.01.2015, von Owen Bennett-Jones