Venezuela – die symbolische und die wahre Revolution
Errungenschaften, Defizite, Herausforderungen von Ana María Sanjuan
Bis Ende der 1980er-Jahre galt Venezuela im Vergleich zu seinen politisch instabilen Nachbarn als relativ sicheres Land mit soliden Institutionen, das selten von Schreckensnachrichten heimgesucht wurde. Der Schlüssel zu dieser Stabilität und Venezuelas Besonderheit lag in den hohen Erdölerträgen und einem Zweiparteiensystem mit gleichmäßiger Wahlbeteiligung, weshalb das Land zwei Jahrzehnte lang (von 1958 bis 1978) relativ effektiv regiert wurde und in der Wirtschaft Überschüsse erzielen konnte. Die Militärs wurden vom politischen Leben ferngehalten, indem man ihnen eine weitgehende Unabhängigkeit vom zivilen Staat zusicherte und sichere Pfründe sowie ökonomische Vorteile verschaffte.
Doch Venezuelas Illusion von Harmonie fand ein jähes Ende. Die Schuldenkrise von 1983 führte zu einer für das Land beispiellosen Rezession1 , die 1986 durch die Talfahrt der Erdölpreise verschärft wurde. Die daraus resultierende soziale Krise riss einen Teil der politischen und staatlichen Institutionen mit ins Verderben.
Bis dahin war die venezolanische Demokratie ein populistisches, auf den Ausgleich unter den Eliten ausgerichtetes System gewesen, das sich auf die – ungleiche – Verteilung der Öleinnahmen stützte, gesteuert durch die politischen Parteien. Als der venezolanische Staat nach Jahrzehnten die Kontrolle über die Verteilungspolitik verlor, bei der auch die nicht ganz so Reichen berücksichtigt worden waren, kam die ganze politische Konstruktion ins Wanken. Der Verlauf der Krise war katastrophal, es kam zu Volksaufständen, die brutal niedergeschlagen wurden: Der „Caracazo“, eine der größten Rebellionen, forderte 1989 innerhalb von 48 Stunden 598 Todesopfer.
1992 gab es zwei Putschversuche, der führende Kopf des ersten war ein Oberst namens Hugo Chávez Frías. 1993 wurde der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés, der der Acción Democratica angehörte, aufgrund von Korruptionsvorwürfen des Amtes enthoben. Ihn ersetzte ein Kandidat des Establishments, gewählt mit den Stimmen der Gegner des Establishments: Rafael Caldera, Gründer der christdemokratischen Partei Copei, setzte sich mit den Stimmen der Convergencia – eines Mitte-links Bündnisses aus der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) und anderen linken Parteien – gegen die Kandidaten der Acción Democrática und Copei durch. Damit zeigte sich die strukturelle Brüchigkeit des seit 1958 entwickelten Demokratiemodells.
Der Wahlsieg von Hugo Chávez 1998, der eine radikale institutionelle Umstrukturierung und den Kampf gegen die Korruption angekündigt hatte, bedeutete das Ende einer politischen Ära und den Beginn einer neuen, deren Ausgestaltung bis heute andauert. Das alte Venezuela war gescheitert, weil es ihm an Demokratie mangelte, weil die exklusive Herrschaft der Parteien gescheitert war und diese den Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Gesellschaft bei wachsender Armut und Ungleichheit nicht mehr gerecht wurden2 . Dazu kam die Veruntreuung staatlicher Einnahmen.
Mit Chávez wurde ein neues Machtkonzept auf den Weg gebracht, das die verschiedensten Akteure und Elemente in sich vereint – Militärs, Nationalisten, Christen, Populisten und diverse linke Traditionen – und durch einen starken politischen Personalismus gekennzeichnet ist. Es beruht im Wesentlichen darauf, dass der Staat seine strategische Rolle in der Wirtschaft zurückerobert und die politische Macht auf Gruppen übertragen wird, die bisher davon ausgeschlossen waren: Der „Chavismus“ ist sowohl für seine Anhänger als auch für die Opposition gleichbedeutend mit einer Regierung des Volkes und bedeutet die Anerkennung der Marginalisierten und die Rückkehr sozialer Themen ins Zentrum der Politik.
Randgruppen in der Mehrheit
Deshalb konnte er von Anfang an auf eine Mehrheit zählen, die sich zum Großteil aus gesellschaftlichen Randgruppen rekrutiert. Und diese sind dem Präsidenten, in dessen Führerschaft sich der politische Prozess bündelt, gefühlsmäßig sehr verbunden. Das neue Konzept bedeutete tiefgreifende Veränderungen für die Eliten, die Verwaltung und die politische Agenda Venezuelas. Demokratie sollte weit mehr als nur repräsentativ und liberal sein. Die neuen Machthaber verstehen darunter nicht nur einen institutionellen politischen Rahmen, der durch freie und allgemeine Wahlen und durch Gewaltenteilung bestimmt wird, sondern ein Modell für soziale Gerechtigkeit, mit den Mitteln einer partizipativen Demokratie.
Die Demokratisierung der Macht und der nationalen Reichtümer in einer extrem ungleichen Gesellschaft hat sich so zu einem politischen Gegenmodell entwickelt, das durch vier Wahlen von der Mehrheit der Bevölkerung bestätigt wurde, zuletzt im Dezember 2006, als Chávez 62,9 Prozent der Stimmen erhielt. Ein solch gutes Ergebnis hat kein venezolanischer Präsident in den letzten fünfzig Jahren erzielt. Währenddessen hat die Opposition in den vergangenen acht Jahren einen Stimmenanteil von rund 40 Prozent gehalten – ein Indiz, dass das Land gesellschaftlich wie politisch mehr oder minder polarisiert ist.
Die Wahlergebnisse belegten für den Präsidenten, dass er für seinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ politischen Rückhalt besitzt. Seine Politik gründet auf der Annahme, dass Kapitalismus nicht mit einer sozialen Demokratie vereinbar sei. Diese wiederum sei nicht machbar ohne eine solide partizipative oder direkte Demokratie. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts sollte sich an christlichen Werten und den Bedürfnissen der indigen Bevölkerung orientieren, sich auf José Carlos Mariátegui – den Mitbegründer der Sozialistischen Partei Perus – stützen und keinesfalls die autoritären Experimente des real existierenden Sozialismus des 20. Jahrhunderts wiederholen.
Und diesen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ begann man zu Anfang dieses Jahres mithilfe von fünf sogenannten Motoren umzusetzen:
a) des „Ley Madre“ (Muttergesetz) – eines Ermächtigungsgesetzes zum Erlass von Sondergesetzen, um die sozialistische Wirtschaft zu entwickeln;
b) der Verfassungsreform;
c) der Bildungsreform, um das Volk zu neuen Werten zu erziehen und individualistisch und kapitalistisch geprägte „Charaktere und Sitten“ umzubilden;
d) einer neuen Geometrie der Macht, um territoriale Machtverhältnisse symmetrisch umzugestalten;
e) einer Stärkung der kommunalen Kräfte zur schrittweisen Auflösung des bürgerlichen Staates.
Die Neugestaltung des Gesellschaftsvertrags wurde vor allem in der Wirtschaft vorangetrieben – durch die Verstaatlichung von strategisch wichtigen Betrieben (Erdöl, Elektrizität, Telekommunikation). Für eine Reihe von Gesetzesvorlagen sind Inhalte und Reichweite unbekannt, denn bislang schlummert das „sozialistische“ Projekt in dem unveröffentlichten Ermächtigungsgesetz. Dieses Gesetz, das für achtzehn Monate in Kraft sein soll, erstreckt sich über fast alle Bereiche – von der Wirtschaft bis zur Sicherheit. Die 33 Vorschläge zur Verfassungsänderung wurden der Nationalversammlung am 21. August vorgelegt und in erster Lesung gebilligt.3 Die Hauptpunkte sind: die Einführung von „Räten“ auf kommunaler Ebene, die unbegrenzt mögliche Wiederwahl des Präsidenten, Reformen des Steuersystems und des Handels, Neuregelungen von Unternehmensgewinnen, Vergünstigungen für kollektive und gemeinnützige Eigentums- und Unternehmensformen.
Aus verschiedenen politischen Lagern – auch aus dem der Chavisten – äußerte man sich alarmiert über die Machtkonzentration bei der Exekutive und über die zunehmend personalistischen und autoritären Wesenszüge der Regierung. So wurden die Vorschläge zur Verfassungsreform von einer vom Präsidenten ad hoc ernannten Arbeitsgruppe unter strengster Geheimhaltung erarbeitet, ohne dass eine öffentliche Diskussion über deren politische Tragweite stattgefunden hätte.
Bekämpfung der Armut, aber nicht der Ungleichheit
Zudem weckt die Art und Weise, wie die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV) betrieben wurde, gewisse militärische Assoziationen. Bereits 5,8 Millionen Venezolaner haben Beitrittsanträge gestellt. Die einzelnen Parteigruppen sollen als „sozialistische Bataillone“ betitelt werden; 22 000 von ihnen sollen im ganzen Land gebildet werden. Auch führte der Gründungsprozess zu offenen Konfrontationen und zur Zersplitterung der chavistischen Basis.
Die Bolivarische Revolution konnte dennoch einige politische Erfolge für sich verbuchen. Das sind vor allem die politische und soziale Einbeziehung der Ausgeschlossenen (dank der Umverteilung der Erdöleinnahmen) und die Möglichkeit einer aktiven Beteiligung der Bürger durch neue partizipative Mechanismen: städtische Komitees, Fachgruppen zur Wasserversorgung, kommunale Mitbestimmung, Kommunalbanken, Gesundheits- und Ernährungskomitees und so weiter. Diese Form der Demokratie bildet jedoch auch einen Nährboden für den „Caudillismo“, den Führerkult, und kann für die Handlungsfähigkeit der politischen Organe zur Gefahr werden.
Auch im Hinblick auf die politische Symbolik gab es wichtige Veränderungen, die den großen Rückhalt des Präsidenten erklären, trotz Verfehlungen und Unzulänglichkeiten in der Amtsführung: Als Chávez die Regierungsgeschäfte übernahm, kam es zu einem Kurswechsel in der Erdölpolitik mit dem Ziel, die Rendite zu maximieren. Aufgrund der international günstigen Rahmenbedingungen und dank gezielter Bemühungen der Opec-Staaten konnte Venezuela seine Einnahmen stabilisieren. Dies gestattete der Regierung eine ausgeprägte soziale Umverteilungspolitik. Die Bildungsausgaben stiegen in den letzten acht Jahren von 3 auf 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im laufenden Jahr sind 47 Prozent des Staatshaushalts für Sozialausgaben vorgesehen. Überdies ist der Konsum der ärmsten Bevölkerungsgruppe in den letzten drei Jahren um 159 Prozent gestiegen. Im Jahre 2006 verbrauchten die Venezolaner 54 Prozent mehr Lebensmittel als noch 2003 und 32 Prozent mehr als 1998.4
Hier ist wichtig zu unterstreichen, dass die bereits erwähnten Maßnahmen zwar zur Bekämpfung der Armut beigetragen haben, jedoch weniger zur gerechten Verteilung von Einkommen. Überdies bewegt sich diese Umverteilungspolitik, auch wenn sie demokratischer Natur ist, zwischen sozialer Unterstützung und einem übermäßig behütenden Sozialstaat. Das neue Gesetz zu den Consejos Comunales (Kommunalräten), in dem dem Präsidenten eine entscheidende und feste Rolle zugedacht ist, enthält dieselben Einschränkungen und Spannungen zwischen Hierarchie und direkter Demokratie.
Auf der Suche nach einem Alternativmodell zum Neoliberalismus beabsichtigt die Regierung, die Interventionsmöglichkeiten und die Protagonistenrolle des Staates zu stärken. Dieser Prozess erfordert wichtige institutionelle Veränderungen und findet während eines Höhenflugs der Erdölpreise statt, was den wirtschaftlichen Nationalismus zusätzlich fördert. Um die Wirtschaft weiter zu demokratisieren, zielten viele Maßnahmen der letzten acht Jahre darauf ab, kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Kooperativen den Zugang zu Krediten zu erleichtern. Auf diese Weise sollten neue Wirtschaftsakteure ins Spiel gebracht werden. Ebenso konzentrierte sich ein Großteil der staatlichen Bemühungen auf eine endogene Entwicklung und die Förderung von Kooperativen im Dienstleistungs- und Produktionssektor.
Dabei vollzieht sich in Venezuela eine politischer Prozess permanenter – und teilweise widersprüchlicher – Veränderungen. Einige davon deuten auf eine tatsächliche Demokratisierung von Macht und Wohlstand, manche aber auch auf eine gegensätzliche Entwicklung hin: Die Korruption beispielsweise lässt sich nicht eindämmen. Sie ist in Venezuela strukturell und hat eine lange Geschichte. Einer der Gründe für den Aufstieg von Chávez war die Annahme, dass durch die Verdrängung der politischen Elite der Korruption Einhalt geboten werden könne. Dies war nicht der Fall. Obwohl die Opposition das Problem gern für ihre Zwecke instrumentalisiert, ist das tatsächliche Ausmaß der Korruption nicht bekannt. Sie wird kontinuierlich beklagt, sogar vom Präsidenten selbst – ein weiterer Hinweis darauf, dass sie fortbesteht und sich sogar noch ausbreitet.
Die Personalisierung der Politik, die Konzentration auf die Figur Chávez (den viele verherrlichen, ohne zu erkennen, dass genau dies eine Schwäche im Veränderungsprozess bedeutet), die Intoleranz und das Sektierertum gegenüber Gegnern der Regierungspolitik sowie neuerdings der Umgang mit denen, die gerade erst dabei sind, sich den Veränderungen anzupassen – daran macht sich die Kritik an der offiziellen Amtsführung oder generell an der Strategie der Regierung fest. Fehlende Evaluation und Weiterentwicklung der 1999 gegründeten Institutionen, Ineffizienz, Vetternwirtschaft, die Errichtung von Industrie in ökologisch gefährdeten Territorien und in Gebieten der Indigenen, das Erstarken neuer wirtschaftlicher Eliten mit staatlicher Hilfe, die unwirksame Politik zur Verbrechensbekämpfung (die meisten Opfer von Kriminalität sind junge Menschen aus den unteren Bevölkerungsschichten5 ) – all dies ist immer noch Ausdruck einer Klassengesellschaft.
Die Widersprüchlichkeiten der aktuellen Entwicklung nähren Bedenken, die Demokratie des Landes sei mehr als krank, gar „tödlich verletzt“. Von anderer Seite heißt es, es gäbe bedeutsame Fortschritte in Sachen sozialer Integration, sprich, eine tatsächliche Demokratisierung der Gesellschaft. Der Diskurs hängt von der legitimen jeweiligen politisch-ideologischen Meinung ab und natürlich davon, welche Interessen verfolgt werden.
Hier sind kurz einige kritische Aspekte der politischen Agenda Venezuelas zu nennen:
a) Es ist nicht zu einer Wiederherstellung des politischen Systems gekommen. Dafür gibt es verschiedene Gründe; einer davon ist die Schwierigkeit, für diese zersplitterte Gesellschaft mit so unterschiedlichen Visionen einen gemeinsamen nationalen Nenner zu finden. Ein weiterer Grund ist die Einengung politischer Freiräume, sowohl für die Opposition als auch für Dissidenten innerhalb der Regierung. Noch immer fehlt eine grundsätzliche Übereinstimmung in zentralen Punkten: mit welchen Mitteln Politik gemacht wird, wie mit demokratischen Defiziten umgegangen wird oder mit Differenzen innerhalb der Regierung und der Opposition (die großen Parteien haben sich nach den Wahlen wieder zersplittert). Eine solche Umgebung kommt dem Personalismus und den autoritären Neigungen des Präsidenten noch mehr entgegen. Chávez beansprucht fortwährend alle politischen Entscheidungen für sich und drückt somit allen Initiativen, auch denen der Opposition, seinen Stempel auf.
b) Neben den prinzipiellen Schwierigkeiten bei der Verständigung sowohl innerhalb der Regierung wie der Opposition besteht noch eine weitere: Es gibt so etwas wie drei unabhängige oder nur lose miteinander verbundene Länder: das der von der Politik Ausgeschlossenen, das der daran Beteiligten und das der ideologisierten Bürokraten, die für die symbolische Revolution und den Staatsapparat verantwortlich sind.
c) Gewisse autoritäre Züge der derzeitigen Regierung sind deutlich erkennbar und ebenso deren drohende Verhärtung.
d) Der durch marktliberale Reformen über lange Jahre heruntergewirtschaftete venezolanische Staat hat sich noch nicht erholt, und bisher scheint es hierfür keine Strategie zu geben. Nach acht Jahren ist das eines der schwerwiegendsten Probleme des Landes: Der Staat lebt mit ständiger Improvisation, ist zunehmend ineffizient, filzokratisch und korrupt – was sich am Beispiel von derzeit 27 Ministerien zeigt, von denen 15 in den letzten vier Jahren geschaffen wurden.
Zur Überwindung dieser Defizite hat die Regierung auf eine Art „Bypass“ zur Umverteilung zurückgegriffen und „Missionen“ (bisher gibt es 21) gegründet. Diese sind gedacht als Anschubhilfen in den Sektoren Bildung, Ernährung, Gesundheit – einem Bereich grundlegender Bedürfnisse also, denen die regulären Institutionen des Staates trotz reichlicher Zuschüsse zu Beginn der Amtszeit von Chávez nicht nachkommen konnten. Die ursprünglich für einen begrenzten Zeitraum gegründeten Missionen entwickeln sich zu dauerhaften Mechanismen, ohne je einen gesetzlichen Rahmen erhalten zu haben oder andere zuständige Institutionen zu ersetzen; sie unterliegen keiner öffentlichen Kontrolle.
Angesichts dieser Problematik sind neue organisatorische Instrumente in Planung: Die bereits erwähnten Kommunalräte sollen nach und nach die Macht ganz in die Hände des organisierten Volkes übergehen lassen. Dafür sind hohe Ausgaben für mehr als 300 000 Räte im ganzen Land geplant. Die Räte sollen die Missionen zwar nicht ersetzen, werden aber eine wichtige Kontrollfunktion ausüben: Mittels kommunaler Organisation und Partizipation soll zum einen die Kontrolle über den Staat, zum anderen die teilweise Ersetzung staatlicher Aufgaben erfolgen. Der Plan sorgte anfangs für eine gewisse Verunsicherung, zumal es Überlegungen gab, den Räten legislative Funktionen einzuräumen.
e) Als Wirtschaftsgrundlage dient seit einem Dreivierteljahrhundert einzig und allein die Erdölförderung. Die wachsende Abhängigkeit von dem Rohstoff ist der wunde Punkt des Landes: Sie erschwert die Suche nach einer strukturellen Lösung der Arbeitslosigkeit und der ungerechten Einkommensverteilung. Trotz ihrer Bemühungen, den produktiven Sektor umzugestalten, hat die Regierung es bisher noch nicht geschafft, einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Das Land hält ein gewinnorientiertes kapitalistisches System (allerdings mit sozialen Akzenten) aufrecht, während entwicklungspolitische Maßnahmen erprobt werden (in Form von Kooperativen oder Unternehmen, die der sozialen Entwicklung dienen); gleichzeitig übernimmt es einen Sozialismus voller widersprüchlicher Ideen, die keine Anhaltspunkte bieten, wie ein Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus aussehen könnte. Der wäre gleichfalls von den Erträgen aus dem Erdölgeschäft abhängig. Man beginnt bereits von „gewinnorientiertem Sozialismus“ zu sprechen.
Ideologie und Alltag
Trotz dieser Widersprüche und Schwierigkeiten wächst die Wirtschaft in Venezuela, das Land weist das höchste Bruttoinlandsprodukt der Region auf. Die Prognosen für die venezolanische Wirtschaft sind günstig, auch wenn die ankündigten Verstaatlichungen und die konfusen wie zwiespältigen Aussagen der Regierung gegenüber privaten Unternehmen den Schwung vielleicht etwas bremsen könnten.
f) Schließlich geht eine Gefahr von der extremen Ideologisierung der Politik und des Alltags aus: Die symbolische Revolution überwiegt gegenüber einer realen. Wenn die Bolivarische Regierung in Besitz eines Monopols ist, dann im Bereich der Symbolik. Sie hat den Namen der Republik, das Wappen und die Nationalflagge geändert, historische freiheitskämpfende Persönlichkeiten wiederbelebt und schreibt die Geschichte über die Rolle Venezuelas in der Region neu. Die Symbolik hält auch in staatlichen Institutionen Einzug, in der PSUV und den nationalen Streitkräfte, bei der Bildungsreform und den alternativen Medien. Auf diese Weise werden Staat, Partei und Regierung immer mehr miteinander vermischt, wobei die Regierung im Vordergrund bleibt – ein neuartiges Phänomen in Venezuela. Der hegemoniale Drang des Chavismus spiegelt sich in der Vielzahl öffentlicher Verlautbarungen und werbewirksamer Präsenz wieder. Während sich die Ideologie zu einem Leitmotiv des politischen Wandels entwickelt, bringt sie das Risiko von Uniformität und Kontrolle mit sich.
Die Aufrüstung der Ideologie mit Symbolen der politisch-militärischen Welt der Linken führt auch zu einer Übernahme entsprechender Codices und Verhaltensmuster, also gewisser Formen von Sektierertum und Intoleranz, die sich in einem hohen Maß an Selbstgefälligkeit zeigen, der Wiederkehr von Parolen und der Gefahr einer landesweiten Uniformität. Diese Überideologisierung kann paradoxerweise zur ideologischen Banalisierung führen, die alle realen Debatten und Konfrontationen zum Erliegen zu bringen pflegt. In einigen Fällen ist es mittlerweile wichtiger, riesige Transparente mit dem Konterfei des Präsidenten an den Hauptverkehrsadern anbringen zu lassen oder sich rot zu kleiden, als die dringlichsten Probleme der Bevölkerung in Angriff zu nehmen oder zu benennen.
Es ist wichtig, neben den Errungenschaften auch die fortbestehenden Probleme aufzuzeigen, denn der venezolanische Öffnungs- und Demokratisierungsprozess ist noch von zahlreichen autoritären Merkmalen geprägt. Eine der wichtigsten Herausforderungen besteht darin, die Konsolidierung der sozialen und politischen Veränderungen auf demokratische, pluralistische und integrative Weise zu vollziehen, ohne zu einem autoritären, vertikalen System zu werden, das oppositionelle Kräfte ausschließt. Nur auf diese Weise lässt sich eine wirkliche Demokratisierung des venezolanischen Staates anstelle einer Machtübernahme durch eine neue Interessengruppe erreichen.
Eine weitere wichtige Herausforderung ist, den sozialen Zusammenhalt durch die Abschaffung sozialer Ungerechtigkeiten zu stärken. Hier ist noch eine Menge zu tun, trotz einiger Erfolge. Von elementarer Bedeutung ist auch die Bekämpfung unternehmerischer Seilschaften und der Günstlingswirtschaft. Man muss den Staat in der effektiven Ausübung seiner Funktionen stärken und die politische Beteiligung der Bürger an der Kontrolle des Staates weiterhin fördern, um Politik zum Wohl der ganzen Bevölkerung zu machen.
Fußnoten:
Aus dem Spanischen von Nina Küster
Ana María Sanjuan ist Leiterin des Friedenszentrums der Universidad Central de Venezuela. Dieser Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Antonio González Plessmann.
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