14.10.2011

Der versprochene Staat

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Der versprochene Staat

Mit dem Antrag auf eine UN-Vollmitgliedschaft setzen die Palästinenser alles auf eine Karte von Alain Gresh

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Das Streben der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) nach einem eigenen Staat gleicht dem Paradox des griechischen Philosophen Zenon von Elea über Achills Wettrennen mit einer Schildkröte1 : Immer wenn die PLO ihrem Ziel näher zu kommen scheint, muss eine weitere Wegstrecke zurückgelegt werden, eine neue Bedingung erfüllt oder ein weiteres Zugeständnis gemacht werden.

Im Jahr 1999 verkündete die PLO ihre Absicht, nach Ablauf der im Oslo-Abkommen von 1993 festgelegten Übergangsperiode der Selbstverwaltung für Gaza und das Westjordanland einen palästinensischen Staat zu gründen. Im März desselben Jahres gab die Europäische Union (EU) bekannt, dass sie bereit sei, dessen Anerkennung „zu gegebener Zeit“ in Erwägung zu ziehen.

Im März 2002 proklamierte der UN-Sicherheitsrat seine Vision für den Nahen Osten, in dem die Staaten Israel und Palästina Seite an Seite bestehen sollten. 2003 veröffentlichte das Nahostquartett aus EU, USA, Russland und UN eine „Roadmap“ für die Schaffung eines palästinensischen Staates bis Ende 2005. Nachdem die Gespräche ausgesetzt worden waren, brachte der damalige US-Präsident George W. Bush Palästinenser, Israelis, die EU, Russland, Syrien und Ägypten im November 2007 in Annapolis (Maryland) wieder an einen Tisch. Nach dem Treffen versprach ein Kommuniqué die Schaffung eines palästinensischen Staates bis Ende 2008. In seiner Rede vor der UN-Vollversammlung 2010 sagte US-Präsident Obama, er hoffe, dass Palästina im Jahr 2011 als Vollmitglied der UN aufgenommen werde. Heute, ein Jahr später, kündigte er ein US-Veto gegen den palästinensischen Aufnahmeantrag an.

1969 – zwei Jahre nach der arabischen Niederlage von 19672 – übernahmen die bewaffneten Milizen der Fedajin die Kontrolle über die PLO und lösten die alte Führung ab, die durch ihre Zusammenarbeit mit den unterlegenen arabischen Regimen diskreditiert war. Zu Kernelementen der PLO-Strategie wurden daraufhin der bewaffnete Widerstand (der in der „Dritten Welt“ viel Zuspruch fand), die Befreiung ganz Palästinas (und die Zerstörung der zionistischen Strukturen Israels), die Errichtung eines demokratischen Staats, in dem Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenleben sollten, und das Recht des palästinensischen Volks, über seine Zukunft ohne die Einmischung anderer arabischer Staaten zu entscheiden.

Der größte Erfolg der PLO bestand in der Einigung der Palästinenser – von in Kuwait arbeitenden Ingenieuren, über Bauern in Hebron bis zu den Flüchtlingen im libanesischen Burj-al-Barajneh-Camp – und in der Stärkung des palästinensischen Nationalgefühls und Unabhängigkeitsstrebens. Doch das Scheitern des bewaffneten Kampfs, die Skepsis vieler Israelis gegenüber der Möglichkeit eines demokratischen palästinensischen Staats und die Weigerung vieler internationaler Verbündeter (vor allem aus dem sozialistischen Lager), die Zerstörung Israels zu unterstützen, brachten die PLO dazu, sich auf den diplomatischen Weg zu konzentrieren.

Hier hatte die PLO bereits einige Erfolge vorzuweisen: Palästina war auf die politische Landkarte zurückgekehrt – das Schicksal der Palästinenser war nicht länger nur ein Flüchtlingsproblem, sondern eine Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker – und die Arabische Liga hatte die PLO bereits als „einzige legitime Repräsentantin des palästinensischen Volkes“ anerkannt. Im September 1974 trat Jassir Arafat vor der UN-Vollversammlung auf und ein Jahr später erhielt die PLO dort den Beobachterstatus.

Doch diese Fortschritte trafen immer auch auf Widerstand. So weigerten sich Israel und die USA, mit einer „Terrororganisation“ zu verhandeln. Es brauchte viele Jahre, geheime Treffen und den Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987, bevor sich zahlreiche Stimmen (auch in Israel) erhoben, die nach einem Kompromiss verlangten. Im November 1988 rief der Palästinensische Nationalrat den palästinensischen Staat aus und akzeptierte den 1947 durch die UN-Vollversammlung angenommenen Teilungsplan.

Diese Position bestätigte Arafat auf der UN-Vollversammlung am 13. Dezember 1988 in Genf. Doch die USA waren noch nicht zufrieden. Eine Woche später bestanden sie darauf, dass Arafat ein von der US-Regierung aufgesetztes Statement verlas, in dem die PLO dem Terror abschwor, die Sicherheitsratsresolution 2423 akzeptierte und den Staat Israel anerkannte.

Als sich Jassir Arafat und Israels damaliger Ministerpräsident Jitzhak Rabin auf dem Rasen des Weißen Hauses am 13. September 1993 die Hände reichten und das erste Oslo-Abkommen über die „vorübergehende Selbstverwaltung“ der Palästinenser unterzeichnet worden war, schien eine neue Ära anzubrechen.

18 Jahre später ist klar, dass der von der PLO eingeschlagene Weg in einer Sackgasse endet. Die Palästinenser haben keine Souveränität im Westjordanland oder in Jerusalem: Selbst in der Zone A4 gehören israelische Übergriffe zum Alltag und jeder palästinensische Bürger kann von der Besatzungsmacht verhaftet werden. Die Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland wuchs von 100 000 im Jahr 1993 auf heute fast 300 000. In Ostjerusalem stieg ihre Zahl von 150 000 auf 200 000.

Die palästinensische Wirtschaft wird im Keim erstickt, und alle Berichte über einen „Boom“ im Westjordanland unterschlagen, dass dort das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf heute niedriger ist als im Jahr 2000 und nur eine sehr kleine Gruppe vom Aufschwung profitiert.5 Und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die in der „Terrorismusbekämpfung“ mit den israelischen Besatzern zusammenarbeitet, hat sich mit einem autoritären Regierungsstil, der an die benachbarten arabischen Regime erinnert, bei ihren Bürgern unbeliebt gemacht.

Der Arabische Frühling änderte die Spielregeln

Im Januar 2006 straften die Palästinenser die PA ab und wählten die Hamas. Dieser Sieg wurde ihnen von der „internationalen Gemeinschaft“ und dem mit ihr verbündeten Mahmud Abbas weggeschnappt, der den Verhandlungsprozess fortsetzte, als sei nichts geschehen. Doch die Hamas war auch nicht besser als die PLO in der Lage, den Palästinensern eine glaubwürdige Strategie anzubieten. Die Hamas geriert sich als Anführer des bewaffneten Kampfs. Dabei ist sie genauso erfolglos wie die Fedajin nach 1967. Seit fast drei Jahren setzt sie gegenüber allen in Gaza aktiven Organisationen einen Waffenstillstand mit Israel durch und regiert in Gaza genauso autoritär wie die Fatah im Westjordanland.

Doch seit vor fast einem Jahr der arabische Frühling kam, haben sich die Spielregeln verändert. Der Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten Anfang 2011 und die unnachgiebige Haltung der Türkei gegenüber Israel haben die Position der USA und Israels geschwächt. Zudem ist mit Husni Mubarak einer der wichtigsten Verbündeten Abbas’ von der Bildfläche verschwunden, und die Hamas wurde durch den Aufstand gegen ihren Unterstützer Assad in Syrien geschwächt. Die Enttäuschung über Obamas Unfähigkeit, Israels Ministerpräsidenten Netanjahu unter Druck zu setzen, wächst. Und ob sich gut ein Jahr vor den US-Präsidentschaftswahlen daran etwas ändern wird, ist äußerst fraglich.

Trotz gewisser Anzeichen für den wachsenden Widerstand gegen den neoliberalen Kurs ihrer Regierung stehen die meisten Israelis – traumatisiert durch die zweite Intifada und manipuliert durch die staatliche Propaganda – hinter ihrer unnachgiebigen Staatsführung. Dabei wirkt Benjamin Netanjahu im Vergleich zu seinem Außenminister Avigdor Lieberman geradezu moderat.

Shelly Yachimovich, die neue Chefin der Israelischen Arbeitspartei, erklärte kürzlich, die israelische Siedlungspolitik sei „weder eine Sünde noch ein Verbrechen“, da sie von einer Regierung unter Führung der Arbeitspartei initiiert wurde (was stimmt) und auf einem „breiten Konsens“ beruht habe. Diese Aussage kommentierte der ehemalige Geschäftsführer des American Jewish Congress, Henry Siegman, mit den Worten: „Es ist schon eine groteske Vorstellung, dass das Einvernehmen zwischen den Dieben deren Diebstahl legitimieren würde. Aber davon abgesehen: Wenn das die Ansichten der Arbeitspartei im heutigen Israel sind, wie soll da aus einem Friedensprozess jemals ein akzeptables Friedensabkommen herauskommen?“6

Und warum sollten die Israelis überhaupt den Status quo verändern? Dank der Kooperation der Palästinensischen Autonomiebehörde herrscht heute weitgehend Ruhe und Ordnung im Westjordanland. Und die zunehmende internationale Isolation hat für Israel kaum negative Folgen, solange es von den USA unterstützt wird und die EU die wirtschaftlichen, politischen und Handelsprivilegien aufrechterhält. Ohne Sanktionen, Boykottaktionen und die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung hätte das Apartheidregime in Südafrika nie geendet. Der gute Wille der weißen Bevölkerung allein hätte niemals ausgereicht.

Angesichts der vergeblichen Verhandlungsversuche und der Umbrüche in der arabischen Welt hat sich Abbas nun an die UN gewandt, wobei der genaue Hintergrund des Antrags unklar bleibt. Handelt es sich um einen Strategiewechsel? Oder sollte diese Aktion den Palästinensern eine bessere Ausgangsposition für neue Verhandlungen verschaffen?

Die palästinensische Bevölkerung ist skeptisch gegenüber den Initiativen ihrer politischen Führung. Sie weiß, dass sie, wie auch immer die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat ausfällt, weiterhin unter der Besatzung leben muss. Vergeltungsmaßnahmen der USA oder Israels sind hingegen wenig wahrscheinlich. Sie würden den einzigen palästinensischen Repräsentanten schwächen, den die USA und Israel anerkennen, und die für Israel vorteilhafte Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen gefährden. Ein Veto Washingtons würde allerdings auch dessen Einfluss in der Region schwächen. Prinz Turki al-Faisal, ehemaliger saudischer Botschafter in den USA, behauptete gar, damit würden die Beziehungen zwischen Riad und Washington aufs Spiel gesetzt (was jedoch überzogen scheint).7

Abbas hat seinen Antrag gegen den Widerstand von USA und EU bei UN-Generalsekretär Ban Ki Moon abgegeben, der ihn an den Sicherheitsrat weitergeleitet hat. Das Nahostquartett hat prompt reagiert und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch aufgerufen, mit einem ehrgeizigen Zeitplan von einem Jahr. Der Vorschlag des Quartetts hat indes viele Mängel. Er fordert die Wiederaufnahme direkter Gespräche „ohne Vorbedingungen“. Das ist die israelische Position und bedeutet die Fortführung des Siedlungsbaus. Zudem fehlt – ebenfalls in Übereinstimmung mit der israelischen Position – die Bezugnahme auf die Grenzen von 1967. Und das Quartett sagt nicht, was passiert, wenn der Zeitrahmen der Verhandlungen nicht eingehalten wird. Bisher sind solche Deadlines meist folgenlos verstrichen.

Die einzige Weg nach vorn besteht für die PLO darin, eine Abstimmung im Sicherheitsrat (und gegebenenfalls ein US-Veto) zu erzwingen. Danach müsste der Gang zur Vollversammlung folgen, um den Status eines beobachtenden Nichtmitgliedstaats zu erlangen (wie ihn die Schweiz bis zum Jahr 2002 innehatte). Das würde den Weg frei machen für eine Mitgliedschaft beim Internationalen Gerichtshof (IGH) und beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).8

Die Entscheidungen des IGH mögen wenig bewirken (wie zum Beispiel 2004, als der IGH die israelische Trennmauer verurteilte), doch der IStGH bietet die Möglichkeit, führende Politiker, Offiziere, Soldaten und Siedler (von denen einige europäische Pässe besitzen) strafrechtlich wegen „Kriegsverbrechen“ zu verfolgen, oder gar den Siedlungsbau selbst anzufechten, der gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts des IStGH als Kriegsverbrechen bewertet werden könnte.9 Mit diesem Weg würde die palästinensische Führung den engen Rahmen der Oslo-Abkommen verlassen, eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse vorantreiben und neue Kraft aus den arabischen Revolutionen und der Mobilisierung der palästinensischen Bevölkerung ziehen.10

Fußnoten: 1 Dem griechischen Philosophen Zenon von Elea (490–430 v. Chr.) wird das Paradox von Achill und der Schildkröte zugeschrieben, in dem er versucht zu belegen, dass auch ein schneller Läufer eine Schildkröte nicht einholen kann, wenn diese einen Vorsprung hat. 2 Der israelische Angriff auf Ägypten, Syrien und Jordanien während des Sechstagekriegs von 1967 endete mit der Besetzung des ägyptischen Sinai, des Westjordanlands, Ostjerusalems, Gazas und der syrischen Golanhöhen. 3 Die Resolution 242 wurde am 22. November 1967 nach dem Sechstagekrieg vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet. Sie betonte die Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg und bezeichnete die Palästinenser lediglich als „Flüchtlinge“. 4 Die Oslo-Abkommen unterteilten das Westjordanland in drei Zonen: Zone A sollte unter vollständige Kontrolle der PA gestellt werden; Zone B unter palästinensische Kontrolle, allerdings mit Zuständigkeit Israels für die Sicherheit; Zone C unter vollständige Kontrolle Israels. 5 Siehe Sandy Tolan, „Eine Reise von Ramallah nach At-Tuwani“, Le Monde diplomatique, April 2010. 6 Henry Siegman: „September Madness“, Foreign Policy, 15. September 2011, mideast.foreignpolicy.com/posts/2011/09/15/september_madness. 7 Siehe Turki al-Faisal: „Veto a state, lose an ally“, New York Times, 11. September 2011. 8 Zur Debatte über den palästinensischen Beitritt siehe: „Palestinian Membership at the United Nations: All Outcomes are Possible“, Doha Institute, 11. September 2011, english.dohainstitute.org. 9 Zur Haltung der beteiligten Parteien und den Möglichkeiten, die sich aus dem Appell an die UN ergeben, siehe: „Curb your enthusiasm: Israel and Palestine after the UN“, International Crisis Group, Brüssel, 12. September 2011. Der Bericht bezieht allerdings keine Stellung und übersieht, dass das zentrale Problem in der illegalen Besatzung besteht. 10 Viele in der palästinensischen Führung glauben, dass diese Mobilisierung friedlich sein sollte. Doch die Erfahrung zeigt, dass die israelische Armee auch gegen friedliche Demonstranten mit Gewalt vorgeht. Siehe den Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem: „Show of Force: Israeli Military Conduct in Weekly Demonstrations in a-Nabi Saleh“, 12. September 2011, btselem.org/download/201109_show_of_force_eng.pdf. Aus dem Französischen von Jakob Horst

Le Monde diplomatique vom 14.10.2011, von Alain Gresh