Dilma im Lula-Land
Brasiliens neue Präsidentin kämpft mit alten Strukturen von Dario Pignotti
Das „System Lula“ in Brasilien war stets weit davon entfernt, den basisdemokratischen Ansätzen und Vergesellschaftungsbestrebungen von Hugo Chávez in Venezuela nachzueifern oder auch nur den Bruch mit den agrarwirtschaftlichen Oligarchien und mächtigen Medienkonzernen zu wagen, wie es Néstor Kirchner und Cristina Fernández in Argentinien versucht haben. Es hat sich als zukunftsträchtiges politisches Phänomen mit hegemonialen Tendenzen und starkem Rückhalt im Volk und als mehrheitsfähige Alternative etabliert, gefestigt durch drei Wahlsiege (2002, 2006 und 2010). Lulas Wahlprogramm war völlig anders als das der sozialistischen Orthodoxien und wird inzwischen als „Sozialdemokratie des Südens“ bezeichnet.
„Wir machen keine sozialistische Revolution“, erklärte Marco Aurélio Garcia, außenpolitischer Berater unter Lula da Silva wie unter Dilma Rousseff. „Obwohl die Sozialdemokratie zu einem bestimmten Zeitpunkt ein erfolgloses Projekt war, gelten seine Prämissen weiterhin. Ich meine die Idee, die ökonomische und soziale Demokratie mit der politischen in Einklang zu bringen. Was könnte man mehr anstreben?“1
Mit seinen belehrenden, manchmal paternalistischen Reden festigte Lula seine Führungsposition und trug die Regierung auf die Straße, sprach zu den Leuten im Landesinneren, am liebsten vor Arbeitern in großen öffentlichen Unternehmen und in den Favelas. Dabei nahm er gern Bezug auf seine eigene Biografie, beschwor die Zeit der Gewerkschaftskämpfe und das „Selbstwertgefühl der Armen“, wertete den Begriff des „Volkes“ auf und würdigte den Etatismus von Getúlio Vargas (der mit Unterbrechungen von 1930 bis 1954 regiert hat) im Gegensatz zu seinem Antagonisten par excellence, seinem Amtsvorgänger Fernando Cardoso. Die Rehabilitierung von Vargas, dem Begründer des staatlichen Erdölunternehmens Petrobas, sollte ihre perfekte Symbolisierung in einem Bild finden, auf dem Lula im April 2006 mit ölverschmierten Händen Brasiliens Selbstversorgung feiert.
Weder die abstrakten Inhalte der „Sozialdemokratie des Südens“ noch die millionenschwere offizielle Propaganda können den Erfolg des „Systems Lula“ hinlänglich erklären, das seine massenhafte Unterstützung zweifellos den Maßnahmen der Regierung verdankt: 50 Millionen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten kommen in den Genuss von Zuwendungen der „bolsa família“2; 40 Millionen haben die extreme Armutsgrenze hinter sich gelassen haben oder sind in die untere Mittelschicht aufgestiegen. So lautete im Jahr 2010, als Lula mit Zustimmungswerten von 80 Prozent aus seinem Regierungsamt schied, die Bilanz einer Politik der sozialen Förderung seit 2003. Zu diesen 80 Prozent gehört auch die sozial und politisch ausgegrenzte Wählerschaft, die keiner politischen Gruppierung angehört, in der Vergangenheit oft als Manövriermasse für konservative Populisten diente und jetzt aus eher pragmatischen denn ideologischen Gründen dem „System Lula“ anhängt.
Trotz alledem wurde praktisch keines der sozialen Hilfsprogramme der letzten Jahre gesetzlich verankert, was sie als dauerhafte Errungenschaften etabliert und zu einer strukturellen Demokratisierung beigetragen hätte. Das liegt zum einen an Lulas Zögerlichkeit, der eher zu Kompromissen als zur Konfrontation neigt; noch mehr aber am Widerstand der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), der Cardoso, der ehemalige Präsident, sowie der zweimalige – und beide Male unterlegene – Präsidentschaftskandidat José Serra angehören.
So sabotierte die PSDB, solange sie konnte, die Einführung einer Quote, um Schülern öffentlicher Schulen3 das Studium an staatlichen Universitäten zu ermöglichen, sowie die Besteuerung des Scheckverkehrs zur Finanzierung des staatlichen Gesundheitswesens; beide Maßnahmen brandmarkte sie als „demagogisch und populistisch“. Die Mitte-links-Partei wurde 1988 gegründet und übernahm in den 1990ern kritiklos das neoliberale Credo. In den zwei Legislaturperioden unter Präsident Cardoso wurde das staatliche Minenunternehmen Vale do Rio Doce4 sowie die Telekommunikation für privates Kapital geöffnet und das staatliche Erdölmonopol der Petrobras beendet, was 1995 zu heftigen Protesten der Ölarbeitergewerkschaft führte, die gewaltsam unterdrückt wurden.
Ende 2002 war Cardosos Anhängerschaft auf weniger als 30 Prozent geschrumpft. Er war so unbeliebt, dass eine erneute Kandidatur aussichtslos war. Das „System Lula“ begreift sich als die Negation des Systems Cardoso, worunter es die paradigmatische Allianz zwischen Finanzmacht und Auslandsmärkten der 1990er Jahre versteht.
Der Politologe André Singer sieht Parallelen zwischen den Anfängen der Regierung Lula 2003 und dem New Deal von US-Präsident Roosevelt in den 1930er Jahren, der „eine sprunghafte Verbesserung der Lebensqualität für die Armen und mehr Gleichheit zwischen den Bürgern“ bewirkte. Dieser Regulierungsrahmen prägte das politische Leben in den Vereinigten Staaten auf Jahrzehnte hin – eine Zukunftsperspektive, die sich auch dem Giganten in Südamerika bieten könnte.
Nach dieser These erlebt Brasilien derzeit eine Entwicklung hin zu einer neuen „produktivistischen“ Koalition, in der sich gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Unternehmer, gleichermaßen betroffen von sinkenden Realeinkommen infolge der weltweit höchsten Realzinsen5 , zeitweilig verbünden. Hinzu kommt, dass sich das „System Lula“ darauf festgelegt hat, die Privatisierungen zu stoppen und die Handlungsfähigkeit des Staatsapparats zu steigern. Die Prioritäten galten dem industriellen Aufschwung, der Reduzierung der Arbeitslosigkeit6 sowie der Belebung der Binnennachfrage – was ein Übergreifen der globalen Krise von 2008 auf die brasilianische Wirtschaft verhinderte. 2010 stieg das Bruttoinlandsprodukt sogar um 7,5 Prozent.
Ein Kabinett aus Intrigen und Verrat
Als Pragmatiker ging Lula Bündnisse mit den schlimmsten Vertretern der traditionellen politischen Eliten ein, um die Handlungsfähigkeit seiner Regierung sicherzustellen. In dieses undurchsichtige Geflecht von Allianzen integrierten die Regierung und die Arbeiterpartei (PT) sogar offen korrupte Politiker – bis hin zu Figuren wie den Allroundopportunisten Michel Temer von der mächtigen Zentrumspartei PMDB, der so lange ein ergebener Gefährte Cardosos war, bis er gegen die Zusage, im Oktober 2010 als Vizepräsidentschaftskandidat aufgestellt zu werden, die Seiten wechselte.
Die Koalition der PT mit der PMDB und anderen Minderheitsparteien wie der rechten Partido da República (PR) war ebenso Teil von Lulas Konzept wie die Idee, seine Ministerin Rousseff als seine Nachfolgerin vorzuschlagen. Dilma Rousseff zog am 1. Januar dieses Jahres in den Palácio do Planalto ein mit einem Kabinett, das Lula zusammengesetzt hatte; ein Erbe, das sich inzwischen zur Belastung auszuwachsen scheint. Denn ohne Vizepräsident Temer und seine PMDB ist es praktisch unmöglich, zu regieren. Doch ihr Mitwirken im Kabinett bedeutet ständige Intrigen und Verrat, wie Rousseff in neun Monaten Regierungszeit hat feststellen müssen.
Alles in allem denkt Rousseff, auch sie Pragmatikerin, dennoch nicht daran, mit der PMDB die Klingen zu kreuzen, denn das zöge automatisch den Verlust der parlamentarischen Mehrheit nach sich. Immerhin hat sie fünf Minister entlassen, darunter Verteidigungsminister Nelson Jobim, der die Wahrheitskommission zu den Verbrechen der Militärdiktatur nicht gerade schätzte, oder Verkehrsminister Alfredo Nascimento, der sein Ressort zum Zentrum unlauterer Machenschaften hatte verkommen lassen. Beide genossen Lulas Schutz. Doch der Sturz Nascimentos und seiner PR reichen nicht aus, um der grassierenden Korruption Herr zu werden.
Die schwierigste Hürde für die Regierung Rousseff ist jedoch der unverhältnismäßig hohe Leitzins, ein weiteres Ei, das ihr Vorgänger ihr ins Nest gelegt hat: Er übertrug Henrique Meirelles, dem ehemaligen Vorstandschef der Bank of Boston, für acht Jahre das Amt des Präsidenten der Zentralbank. Wenn auch Rousseff zunächst Lulas Linie fortsetzte, indem sie etwa zuließ, dass der Zinssatz auf 12,5 Prozent anstieg, übte sie Ende August dann doch so viel Druck aus, dass die Zentralbank den Leitzins auf 12 Prozent senkte.
Sollte sich dergleichen in den nächsten Monaten wiederholen, würde das ein Ende der „Unabhängigkeit“ bedeuten, mit der die Zentralbank de facto bislang agierte; das wäre auch ein harter Schlag für die monetaristischen Strömungen, die gegenüber den Befürwortern einer entwicklungsorientierten Politik, die sich um Wirtschaftsminister Mantega scharen, an Terrain verlieren.
Applaus und Hochrufe empfingen Dilma Rousseff bei der Eröffnungsfeier des IV. Parteikongresses der PT am 2. September in Brasília. Die Präsidentin, die im Jahr 2000 der Partei beitrat, wird sowohl von der Führung als auch von der Basis respektiert. Unter der Militärdiktatur (1964–1985) war sie als Widerstandskämpferin im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung 1972 studierte sie Wirtschaftswissenschaften und spezialisierte sich auf Energiefragen. In der Intrigenwelt von Brasília ist sie ein Neuling, doch an politischer Erfahrung mangelt es ihr nicht. Zwei Jahre jünger als Lula, ging sie fast zehn Jahre früher als er in den Untergrund und engagierte sich auch nach ihrer Haft in der legalen Opposition.
Das Präsidentenamt übernahm sie allerdings nur auf Lulas ausdrücklichen Wunsch. Die größten Ovationen der 1 300 Delegierten der PT galten dann auch ihm, dem ehemaligen Metallarbeiter, der die Partei 1980 mit gegründet und 2002 im dritten Anlauf den Wahlsieg errungen hatte. Damals stand Lula den politischen, wirtschaftlichen, ideologischen und rassischen Machtzirkeln seines Landes sehr fern, das 1888 als letztes auf dem amerikanischen Kontinent die Sklaverei abgeschafft und die ersten allgemeinen und freien Wahlen erst 1989 verfassungsmäßig verankert hatte (vorher galt ein Gesetz, das das Wahlrecht für Analphabeten einschränkte).
Lula liegt die Politik im Blut, und so hat er auch, nachdem er die Präsidentenschärpe abgelegt hatte, keinen Tag die politische Bühne verlassen. Bereits am Abend des 1. Januar hielt er eine Rede vor Gewerkschaftlern in São Bernardo do Campo, dem Industrieballungsraum von São Paulo, und im Februar landete er zum ersten Mal wieder in Brasília, um an einer Veranstaltung der PT teilzunehmen. Drei Monate später kehrte er erneut in die Hauptstadt zurück, um Dilma Rousseff bei ihrer ersten Kabinettskrise den Rücken zu stärken.
In diesem Jahr besuchte Lula mehr als 20 Länder und wurde unter anderen von Fidel Castro, José Zapatero, Sebastián Piñera, Hugo Chávez und Evo Morales empfangen. Er leitete eine offizielle Delegation bei der Afrikanischen Union und hielt einen Vortrag über den Libyenkrieg sowie den Arabischen Frühling in Doha. Er empfing den Sänger Bono und Ollanta Humala, den neuen Präsidenten von Peru. Im Oktober wird er höchstwahrscheinlich nach Buenos Aires reisen, um dort zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate Präsidentin Cristina Fernández zu treffen. Dazu übernahm er nun den Ehrenvorsitz der PT und führt Verhandlungen mit anderen Parteien zur Bildung gemeinsamer Fronten für die Kommunalwahlen von 2012, die erste Bewährungsprobe für Rousseffs Regierung.
Die Aufteilung der Macht zwischen Dilma, die in der Regierung und in Staatsangelegenheiten das Sagen hat, und Lula, der in der Partei, den Wahlkampfstrategien und bei der Agenda der offiziösen Diplomatie den Ton angibt, lässt mehrere Lesarten zu. Am verbreitetsten ist die der Globo-Mediengruppe, nach der Lula der Präsidentin nur wenig Handlungsspielraum lässt, während er selbst die relevanten Kräfte neu gruppiert, um sich für eine dritte Amtszeit im Jahr 2014 zu rüsten.
In ihrer Rolle als größte Medienmacht der politisch zerstrittenen konservativen Opposition verbreitet die Globo-Kette in ihren Nachrichten und Fernsehmagazinen, es gebe eine Entfremdung zwischen der Präsidentin und ihrem Vorgänger. Ihre Argumentationsschiene: Rousseff müsse, wenn sie Erfolg haben wolle, Lulas „verfluchtes Erbe“ begraben.
Man sollte Lula nicht beim Wort nehmen, wenn er theatralisch versichert, nie mehr in den Palácio do Planalto zurückkehren zu wollen. Nicht umsonst wird der Exstaatschef wegen seines politischen Improvisationstalents gern mit der nationalen Fußballlegende Garrincha verglichen: Als Stürmer war der Weltmeister von 1958 und 1962 ein Teufelskerl. Es ist jedenfalls schwer vorauszusehen, ob Lula nicht doch erneut kandidieren wird. Wenngleich die Unterschiede zwischen Dilma und Lula hinsichtlich ihres politischen Stils und Temperaments nicht zu übersehen sind, bedeutet die neue Administration im Wesentlichen eine Fortsetzung der alten.