14.10.2011

Koloss aus Schrott

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Koloss aus Schrott

Russlands militärisch-industrieller Komplex 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion von Vicken Cheterian

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Glaubt man den Wirtschaftsdaten, dann geht es der russischen Rüstungsindustrie besser denn je seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Vor allem der Export boomt: 2001 betrug er noch 3,7 Milliarden US-Dollar, 2009 waren es schon 7,4 Milliarden, 2010 lag er knapp über 10 Milliarden Dollar. Außerdem hat die Staatsführung im vergangenen Jahr eine umfassende Reform der Streitkräfte eingeleitet, die eine Modernisierung der militärischen Ausrüstung beinhaltet. Ministerpräsident Dmitri Medwedjew erklärte kürzlich, dass dafür im Zeitraum von 2011 bis 2020 Ausgaben von 22 Billionen Rubel (700 Milliarden US-Dollar) vorgesehen seien – das entspricht 2,8 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts. Das Verteidigungsbudget wurde seit 2010 von 42 Milliarden auf 63 Milliarden Dollar angehoben und macht damit heute ein Fünftel des russischen Staatshaushalts aus.1

Zwei Jahrzehnte lang musste die russische Rüstungsindustrie vom Exportgeschäft leben. Dank der geplanten Investitionen in die Modernisierung der Streitkräfte kann der militärisch-industrielle Komplex nun mit staatlichen Mitteln rechnen, wie sie seit den Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr geflossen sind. Addiert man Waffenexporte und staatliche Ausgaben, so kann die russische Rüstungsindustrie in den nächsten zehn Jahren auf Investitionen in Höhe von rund 800 Milliarden US-Dollar hoffen. Steht das Land, nach zwei Jahrzehnten Deindustrialisierung, auf der Schwelle zu einem neuen industriellen Aufschwung?

Was sich oberflächlich wie eine Erfolgsgeschichte liest, ist bei genauerer Betrachtung eine Enttäuschung. Tatsächlich ist die russische Rüstungsindustrie, zu Sowjetzeiten einer der modernsten Wirtschaftszweige, heute angeschlagen und erneuerungsbedürftig. Zwanzig Jahre nach dem Ende der UdSSR und dem Einstieg in die Marktwirtschaft lassen sich an dieser Branche Charakter und Richtung des russischen Transformationsprozesses ablesen. Durch massive Investitionen allein dürfte der Niedergang der Rüstungsbetriebe kaum aufzuhalten sein.

Obwohl die russische Armee aus dem „Fünftagekrieg“ gegen Georgien im August 2008 siegreich hervorging, wurde nur einen Monat später eine grundlegende Reform der Streitkräfte eingeleitet. „Das war eine weise Entscheidung der Regierung“, meint der unabhängige Militärexperte Alexander Golz. „Es kommt nicht oft vor, dass nach einem gewonnenen Krieg eine Militärreform beschlossen wird. Nach zehn Jahren üppiger Zuwendungen wurde 2008 deutlich, dass Russland eine veraltete Armee hat und im Umgang mit modernen Waffen versagt. Daraufhin beschloss [Verteidigungsminister] Serdjukow die radikalste Reform der Streitkräfte seit 150 Jahren.“

Bereits in den 1990er Jahren hatte der Feldzug gegen Tschetschenien Zweifel an der Kampfkraft der russischen Armee genährt, der Fünftagekrieg aber war ein Schock für die militärische und politische Führung. Zwar war der Ausgang des Kriegs bereits nach 48 Stunden entschieden, und fünf Tage nach Beginn des Konflikts musste Georgien einen Waffenstillstand zu Moskaus Bedingungen unterzeichnen. Doch dieses Scharmützel mit einem militärisch unbedeutenden Staat machte die strukturellen Schwächen der russischen Streitkräfte deutlich. Weder die Befehlsketten noch die militärische Aufklärung oder die Kommunikationssysteme genügten noch modernen Standards.

Obwohl Georgien keine Luftwaffe besaß, musste Russland den Verlust von vier Flugzeugen durch Bodenbeschuss einräumen (Georgiens Militär behauptete, 21 russische Flugzeuge abgeschossen zu haben). Drei der offiziell abgeschossenen Maschinen waren Suchoi-25-Erdkampfflugzeuge, die vierte allerdings ein Tupolew-22-Langstreckenbomber, der zur Aufklärung eingesetzt war.2 Zwar besaß Russland die Luftüberlegenheit, mehr Truppen und militärische Ausrüstung, doch Georgien verfügte über die bessere Technologie – zum Beispiel T-72-Panzer, die in Tschechien nachgerüstet worden waren, Drohnen aus Israel und moderne Kommunikationssysteme. Technologisch war Russland im Nachteil, nur durch das gewaltige Übergewicht an Material konnten seine Streitkräfte die kleine georgische Armee besiegen.

Der doppelte Schritt einer Militärreform und gleichzeitiger Modernisierung der Ausrüstung zeigt, wie schockiert die Führung in Moskau über den Zustand der Armee war.3 Zuvor hatte das Militär über einen Zeitraum von 15 Jahren kaum neue Ausrüstung erhalten. Die Luftwaffe zum Beispiel hatte bis 2003 kein einziges neues Flugzeug bekommen und seitdem auch nur eine Handvoll Maschinen. Im November 2010 erklärte Ministerpräsident Dmitri Medwedjew, nur 15 Prozent der militärischen Ausrüstung seien auf dem neuesten Stand der Technik. Nun sollen bis 2015 rund 30 Prozent und bis 2020 etwa 70 Prozent der Armeewaffen auf den neuesten Stand gebracht werden.4

Ob die russische Rüstungsindustrie liefern kann, was die Armee für diese Modernisierung braucht, ist allerdings ungewiss. In der UdSSR bildete der militärisch-industrielle Komplex das Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft. Schätzungen zufolge wurden zwischen 20 und 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Rüstung aufgewendet.5 Doch nach dem Ende der Sowjetunion konnte sich der Rüstungssektor nur noch durch Exportaufträge über Wasser halten – es waren die ausländischen Kunden, die bestimmten, welche Betriebe überlebten und welche aufgeben mussten.

In den letzten zwanzig Jahren hat Russland keine neuen Waffensysteme mehr entwickelt. Alle Rüstungsgüter waren entweder noch zu Sowjetzeiten produziert worden oder wurden zumindest vor 1990 entwickelt – bis auf zwei Ausnahmen: Die 5. Generation6 der russischen Kampfflugzeuge und die Bulawa-Interkontinentalraketen. Der Mehrzweckjäger Suchoi T-50 soll dem F-22 Raptor der US-Luftwaffe Konkurrenz machen, dessen Leistungen bislang unerreicht sind. Anfang 2010 fanden die ersten Testflüge statt. Nicht nur die russische Luftwaffe, sondern auch die indische und die vietnamesische Militärführung haben bereits Interesse bekundet. Experten sind allerdings skeptisch, denn Triebwerke und Aeronautik des Prototyps entsprechen eher einer Weiterentwicklung der 4. Generation als einer neuen 5. Generation.

Kochtöpfe statt Überschalljäger

Die ersten Tests der U-Boot-gestützten RSM-56-Bulawa-Interkontinentalraketen verliefen ebenfalls wenig erfolgreich. „Auffällig war, dass bei den gescheiterten Teststarts der Bulawa jedes Mal ein anderes Bauteil versagte“, berichtet der Rüstungsexperte Alexander Golz. „Die Produktionsketten in der russischen Rüstungsindustrie sind fehlerhaft, und man hat Probleme mit der Serienfertigung.“ Seit dem Ende der Sowjetunion haben tausende Ingenieure und gut ausgebildete Leute das Land verlassen, und seit viele Industriebetriebe dichtgemacht haben, müssen die Flugzeug- und Raketenhersteller einen Großteil der Ersatzteile zeitaufwendig selbst fertigen.

Vieles deutet darauf hin, dass heute nicht einmal die Serienproduktion der Waffensysteme aus Sowjetzeiten gesichert ist. Nach einem Besuch von Expräsident Wladimir Putin im März 2006 in Algier unterzeichnete Russland mit der algerischen Führung einen Rüstungsvertrag im Wert von 8 Milliarden US-Dollar. Russland sollte Algerien verschiedene Waffensysteme liefern, darunter 35 MiG-29-Kampfflugzeuge. Die bis 2008 ausgelieferten fünfzehn Maschinen gab Algerien allerdings wegen „Qualitätsmängeln“ zurück: Die elektronische Ausstattung entsprach nicht den vertraglichen Vereinbarungen, und einige Teile der Flugzeuge stammten offensichtlich aus alten sowjetischen Lagerbeständen. Russland nahm die MiGs anstandslos zurück und übergab sie der russischen Luftwaffe.

Ein weiteres Beispiel ist die bizarre Geschichte eines Flugzeugträgers, der zu Sowjetzeiten gebaut wurde und unter dem Namen „Baku“ in See stach. Aus Kostengründen musterte Russland das inzwischen in „Admiral Gorschkow“ umbenannte Schiff 1996 aus und bot es zum Verkauf an. 2004 kaufte Indien den Flugzeugträger für 950 Millionen US-Dollar und taufte ihn „Vikramaditya“. Im Kaufvertrag waren verschiedene Umbauten festgelegt, unter anderem der Abbau von Marschflugkörpern, um mehr Platz für Flugzeuge zu schaffen. Das Schiff sollte eigentlich 2008 übergeben werden, doch nach zahlreichen Verzögerungen und Vertragsänderungen ist der Auslieferungstermin inzwischen auf 2012 verschoben worden. Die Umbaukosten haben sich verdreifacht.

In Indien, dem wichtigsten Kunden der russischen Rüstungsindustrie, führte die „Gorschkow-Affäre“ zu heftiger Kritik und der Forderung, man solle sich nach zuverlässigeren Partnern im Rüstungsgeschäft umsehen.7 Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, läuft Russland Gefahr, seine Spitzenposition auf dem weltweiten Rüstungsmarkt zu verlieren.

In den 1990er Jahren war China der wichtigste Kunde der russischen Rüstungsindustrie. Aber diese Zeiten sind vorbei: Inzwischen baut man dort moderne Panzer (Type 99) und eigene Kampfflugzeuge (J-10), die der russischen 4. Generation entsprechen. Anfang 2011 stellte China sogar den Prototyp eines Kampflugzeugs der 5. Generation vor – wenige Tage vor dem Besuch des US-Verteidigungsministers in Peking. Noch sind die chinesischen Streitkräfte Hauptabnehmer der neuen Waffen aus eigener Produktion, doch bereits in wenigen Jahren könnte China Russland im Exportgeschäft Konkurrenz machen.

In den neuen Trend passt auch die russisch-französische Vereinbarung vom Januar 2011 über die Lieferung von zwei Kriegsschiffen der „Mistral“-Klasse an die russische Marine. In Russland war das Geschäft umstritten, weil der Auftrag in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar nicht an die kaum ausgelasteten russischen Werften ging. Bis zu 700 Soldaten, 60 Truppentransporter und 16 Helikopter fasst ein Schiff der Mistral-Klasse – damit ist es eine mächtige Angriffswaffe in einem Landkrieg wie dem jüngsten russisch-georgischen Konflikt.

Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass die russische Führung auf ausländische Zulieferer zurückgreift: Bereits 2009 wurde mit dem Unternehmen Israel Aerospace Industries (IAI) ein Vertrag über die Lieferung von 12 Aufklärungsdrohnen im Wert von 59 Millionen US-Dollar abgeschlossen, und 2010 vereinbarten die Partner einen Lizenzvertrag zum Bau von Drohnen mit israelischer Technologie in Russland.8

Ruslan Puchow, Direktor des privaten Moskauer Forschungszentrums für Rüstungsindustrie und Waffenhandel (Cast), überraschen die russischen Waffenimporte nicht: „Die UdSSR war ein Ausnahmefall“, meint er mit Blick auf die Sowjetjahre, als die einheimische Rüstungsindustrie alle Waffen für die Rote Armee selbst hergestellt hat. „Selbst die USA, deren Militärhaushalt die Hälfte der weltweiten Rüstungsausgaben ausmachen, kaufen heute noch Waffen im Ausland.“ Nach Ansicht Puchows will die russische Führung „Druck auf die Rüstungsindustrie ausüben, bessere Qualität pünktlicher zu liefern und günstigere Preise zu machen“.

Künftig dürfte das Verteidigungsministerium also häufiger ausländische Angebote prüfen, vor allem, wenn die geplante groß angelegte Modernisierung tatsächlich umgesetzt wird. Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow hat bereits erklärt, dass sogar der Kauf von Hightechwaffen aus den USA angedacht ist. Das US-Militär kauft bereits schon mehr Waffen, allerdings keine hochwertige Ware, in Russland ein. Für das Pentagon sind vor allem die billigen und einfach zu handhabenden Lowtechwaffen interessant: Sie werden an jene neuen Verbündeten der USA weitergegeben, deren Armeen seit Langem an russisches Gerät gewöhnt sind. So will die US-Militärführung für 800 Millionen US-Dollar 59 MI-17-Transporthubschrauber kaufen, um sie an Afghanistan, den Irak und Pakistan auszuliefern.9

Die Maiparade – Show mit alten Panzern

Russlands Militär hat in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder neue „Reformen“ erfahren, wobei der Begriff in den 1990er Jahren nur eine höfliche Umschreibung des unerwartet steilen Niedergangs der Streitkräfte war.10 Als 1999 ein neuer Krieg in Tschetschenien begann, erhielt das Militär zusätzliche Finanzmittel, und obwohl dieser grausam geführte Krieg viele Opfer unter der Zivilbevölkerung und den kämpfenden Truppen forderte, verhalf er der russischen Armee zu neuem Ansehen. Putin nutzte die militärische Symbolik, um das Bild eines neuen starken Russlands zu suggerieren: Er ließ die Tradition der Maiparade auf dem Roten Platz wiederaufleben und schickte ab 2007 wieder strategische Tupolew-Bomberstaffeln zu regelmäßigen Flügen in den russischen Luftraum.

Dennoch ist Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der angesehenen Zeitschrift Russia in Global Affairs, überzeugt, „dass Russland seine imperiale Haltung aufgegeben hat. Putin stellt in seinen Reden sogar den Zweiten Weltkrieg als den Krieg Russlands dar und übergeht den Beitrag der anderen Völker in der damaligen Union. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde immer als einigendes Band zwischen allen Sowjetbürgern verstanden“, meint Lukjanow, „Putin ging es nie darum, das alte Sowjetreich zurückzugewinnen – er will Russland nur wieder den Status einer Großmacht verschaffen.“

Der Journalist und Autor Andrei Soldatow sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Krieg gegen Georgien im August 2008 und der Militärreform, die 2020 abgeschlossen sein soll. Die sei schon lange vorher geplant gewesen. „Das Militär fühlt sich vielmehr verraten, weil nach dem Sieg in Georgien viele der Spezialeinheiten (Speznas) aufgelöst wurden, die 2008 im Einsatz waren.“ Tatsächlich führte die Entlassung von rund 100 000 Offizieren in den letzten zwei Jahren zu Protesten im ansonsten fügsamen und eher unpolitischen Offizierskorps.

Im Rahmen der Reform hat Russland auch die Wehrpflicht aufgegeben: Die Armee soll von 1,2 Millionen Soldaten auf eine Million reduziert werden, dabei beläuft sich die reale Truppenstärke schon jetzt auf weniger als 750 000 Mann. Als Russland mit Frankreich den Vertrag über die Mistral-Kriegsschiffe abschloss, protestierten nur Georgien und die drei baltischen Staaten. Obwohl die beiden Schiffe offensichtlich für den Einsatz in der Ostsee und im Schwarzen Meer bestimmt sind, erhoben weder Polen noch die Türkei Einwände – beide Staaten wissen genau, dass Russland nicht mehr über die militärischen Kapazitäten verfügt, um ihnen gefährlich zu werden. Moskaus Großmachtanspruch stützt sich einzig und allein auf ein veraltetes Atomwaffenarsenal.

Wie kam es zu diesem dramatischen Niedergang der einst so mächtigen russischen Rüstungsindustrie? Darauf gibt es zwei Antworten: „Das Hauptproblem ist die massive Korruption“, meint der Universitätsdozent Alexander Perendijew, der in der sowjetischen und russischen Armee als Offizier gedient hat. „Unsere Führung glaubt, dass sich alles regeln lässt, wenn man nur genug Geld aufwendet.“ Ähnlich sieht es Alexander Puchow vom Cast: „Serdjukow, der frühere Leiter der staatlichen Steuerprüfung, wurde vor allem deswegen zum Verteidigungsminister ernannt, um die massiven Betrügereien wenigstens etwas einzudämmen.“

Präsident Medwedjew hat die Bekämpfung der Korruption in der Verwaltung wiederholt zum obersten Ziel erklärt, aber ob wirklich konkrete Resultate erzielt werden können, bleibt fraglich. Alexander Perendijew meint, dass nur ein radikaler politischer Wandel die Bekämpfung der Korruption in der Armee und im militärisch-industriellen Komplex voranbringen würde: „Staatliche Kontrolle muss sein, anders kann man diesem System nicht beikommen.“ Das zweite grundlegende Problem besteht darin, dass es im Verlauf der vielen Reformschübe seit der Perestroika nie eine seriöse Planung für den Umbau der Rüstungsindustrie und die künftige wirtschaftliche Rolle des militärisch-industriellen Komplexes gegeben hat.

Nun ist in den russischen Führungskreisen wieder von der „Modernisierung“ des Landes die Rede. Begriffe wie „Reform“ möchte man vermeiden – zu tief sitzt das Trauma des Zusammenbruchs, der aus Michail Gorbatschows Versuch einer Reform des Sowjetsystems folgte. Politische Reformen kommen nicht infrage, aber Präsident Medwedjew und seine Berater wissen genau, dass Russland von seinen Öl- und Gasexporten abhängig ist und die strukturellen Grundlagen der Wirtschaft hoffnungslos veraltet sind.

Bodenschätze machen zurzeit 70 Prozent der russischen Exporte aus, der Anteil des Maschinenbaus beträgt nur 5 Prozent.11 Wie alle vorigen Bemühungen ist auch Medwedjews Modernisierung von oben diktiert, die sich darauf beschränkt, die Korruption in der stetig wachsenden Bürokratie zu bekämpfen und der Wirtschaft eine technische und technologische Erneuerung zu verordnen.

Man sollte meinen, dass zumindest in Regierungskreisen darüber diskutiert wird, wie die vielbeschworene Modernisierung Russlands mit den angekündigten Milliardeninvestitionen in der Rüstungsindustrie zusammenhängt. Doch darüber erfährt man merkwürdigerweise nichts. Stattdessen liest man, dass Medwedjew ein „russisches Silicon Valley“ in Skolkowo bei Moskau plant, das 2 Milliarden US-Dollar kosten soll.12 „Wir haben in Russland schon 32 ‚Wissenschaftsregionen‘, die in der Sowjetära aufgebaut wurden“, berichtet die Politologin Oksana Gaman-Golutwina von der Staatlichen Universität Moskau. „Und das Einzige, was dort fehlt, sind finanzielle Mittel.“ Folgerichtig könne auch ein weiteres Zentrum keinen grundsätzlichen Wandel aus dem Hut zaubern.

In der Modernisierungsdebatte werden die aus der Sowjetära geerbten wissenschaftlichen Infrastrukturen ebenso ignoriert wie die Überbleibsel des militärisch-industriellen Komplexes. Russlands Regierung verspricht große Investitionen für die militärische Ausrüstung und übersieht dabei, dass eine funktionsfähige Rüstungsindustrie fortschrittliche Ideen braucht.

Außerdem hätte man erwartet, dass schon mit den Reformen in der späten Sowjetzeit versucht wurde, die Militärausgaben zu reduzieren, um eine neue Wirtschaft aufbauen zu können, die zivilen Bedürfnissen und friedlichen Zielen dient. Doch von den Neuerungen der Perestroika unter Gorbatschow über die Privatisierungen unter Jelzin bis hin zu Putin und Medwedjew zieht sich ein roter Faden: die Vernachlässigung des Potenzials der Rüstungsindustrie, des stärksten Sektors der russischen Wirtschaft. Fjodor Lukjanow von Russia in Global Affairs fasst es so zusammen: „Während der Perestroika bedeutete der wirtschaftliche Umbau, dass Fabriken, die Überschalljäger gebaut hatten, sich auf die Produktion von Töpfen umstellen sollten. In den Reformjahren unter Gaidar [Wirtschaftsminister Anfang der 1990er] konnte man mit der Rüstungsindustrie gar nichts mehr anfangen – sie wurde aus der Wirtschaft ausgegliedert und produzierte nur noch für den Export. Seitdem ist sie kein richtiger Teil des russischen Wirtschaftssystem mehr.“

Ein Grund, warum die sowjetische und später die russische politische Führung die Hightechbetriebe der Rüstungsindustrie nicht als entscheidenden Baustein in ihren Reform- und Modernisierungsvorhaben anerkannt haben, könnte in der besonderen Rolle dieses Sektors zu Sowjetzeiten liegen: Der militärisch-industrielle Komplex verschlang nicht nur gewaltige Summen, sondern blieb auch intransparent und verweigerte sich jeder Veränderung. Für alle Reformer seit Gorbatschow schien ein Wandel zum Besseren nicht mit der Rüstungsindustrie, sondern nur gegen sie durchsetzbar.13

Die Tragik eines Vierteljahrhunderts der Reformen besteht darin, dass die politisch Verantwortlichen nicht wussten, wie sie die fortschrittlichen Bereiche dieser Industrie als wertvolle Aktiva für die Zukunft der Volkswirtschaft nutzen sollten – die Politik überließ sie einfach dem allmählichen Niedergang. Die aktuelle Debatte um die Modernisierung Russlands folgt nicht nur einer Logik des Diktats von oben, sondern stützt sich auch auf die simple Vorstellung, man könne einfach alles importieren, was sich anderswo bewährt hat. In einer Volkswirtschaft, deren Oberschicht gewaltige Profite aus dem Export von Öl, Gas und anderen Bodenschätzen zieht, stellt sich die Frage, wozu man eigentlich auf Spitzentechnologie setzen sollte.

Fußnoten: 1 Das US-Verteidigungsbudget für 2011 beläuft sich auf 708 Milliarden Dollar. Siehe die UPI-Meldung vom 10. November 2010: www.upi.com/Business_News/Security-Industry/2010/11/10/Russia-confirms-2011-defense-spending-hike/UPI-91241289393180/. 2 Russische Militärexperten verzeichnen sechs Abschüsse – mindestens vier davon durch russische Bodentruppen. Siehe Rouslan Poukhov (Hg.), „The Tanks of August“, Cast, Moskau, 2010, S. 99–101: cast.ru/files/The_Tanks_of_August_sm_eng.pdf. 3 Siehe den Artikel von Alexander Chramtschichin, Nesawissimaja Gaseta, 9. August 2010, www.ng.ru/politics/2010-08-09/3_kartblansh.html. 4 Siehe die Agenturmeldung von RIA Nowosti vom 25. November 2010: en.rian.ru/military_news/20101125/161496063.html sowie Bloomberg, 18. März 2011: www.bloomberg.com/news/2011-03-18/medvedev-says-russia-to-triple-military-salaries-next-year-1-.html. 5 Siehe William E. Odom, „The Collapse of the Soviet Military“, (Yale University Press) 1998, S. 104. 6 Die 5. Generation moderner Kampfflugzeuge wurde von den US-amerikanischen Rüstungskonzernen Lockheed-Martin und Boing 2005 mit dem F-22 Raptor eingeläutet. 7 Siehe dazu The Times of India, 24. Juli 2009, timesofindia.indiatimes.com/NEWS/India/Second-hand-Gorshkov-costlier-than-new-warship-CAG-/articleshow/4817109.cms. 8 Siehe die UPI-Agenturmeldung vom 15. Oktober 2010: www.upi.com/Business_News/Security-Industry/2010/10/15/Israel-signs-400-million-deal-with-Russia/UPI-10991287154490/. 9 Siehe Wall Street Journal, 8. Juli 2010: online.wsj.com/article/SB10001424052748704178004575350872444463104.html#articleTabs%3Darticle. 10 Siehe Vicken Cheterian, „Die russische Armee: Militärische Defizite und politische Ambitionen“, Le Monde diplomatique, September 2000. 11 Siehe BBC News, 12. November 2009: news.bbc.co.uk/2/hi/8356122.stm. 12 Siehe Ria Novosti, 1. Juni 2010: en.rian.ru/business/20100701/159652602.html. 13 Siehe Archie Brown, „Der Gorbatschow-Faktor: Wandel einer Weltmacht“, Frankfurt am Main (Insel) 2000. Aus dem Englischen von Edgar Peinelt Vicken Cheterian ist Journalist und Autor, sein jüngstes Buch (als Herausgeber) „From Perestroika to Rainbow Revolutions“ erscheint in Kürze bei Hurst (London).

Le Monde diplomatique vom 14.10.2011, von Vicken Cheterian