14.10.2011

Flucht aus der Globalisierung?

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Flucht aus der Globalisierung?

Plädoyer für eine nationenübergreifende Kritik am modernen Kapitalismus von Jean-Marie Harribey

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Seit fast zwei Jahren leiden die Gesellschaften unter den von den Finanzmärkten ausgehenden Spekulationsattacken. Jetzt ist ein kritischer Punkt erreicht. Die wirtschaftlichen Strukturen geraten ins Wanken. Der Schleier der marktwirtschaftlichen Ideologie ist endgültig zerrissen. Die Hymnen auf die Globalisierung und Markteffizienz sind nur noch gedämpft zu vernehmen. Und es hat eine breite Diskussion begonnen, die sich um die mögliche Alternative einer „Antiglobalisierung“ dreht.

Das Besondere an dieser Diskussion ist, dass die Front nicht einfach zwischen den orthodoxen Marktgläubigen und ihren Gegnern verläuft, sondern quer durch die Reihen der Politiker und Ökonomen, die seit längerem (und vor allem seit dem Streit über die EU-„Verfassung“) gegen die Diktatur der Finanzmärkte gekämpft haben. In Leitartikeln, Aufsätzen und Büchern wird seit einigen Monaten öffentlich über Fragen des Protektionismus, des Ausstiegs aus dem Euro und der Entglobalisierung nachgedacht.1 Dabei geht es vor allem um den Charakter der kapitalistischen Krise, das Ausmaß notwendiger Regulierungen und die Frage demokratischer Souveränität.

Seit Beginn der 1980er Jahre werden die wirtschaftlichen Strukturen vor allem auf die maximale Rentabilität der Kapitalanlagen („Wertschöpfung für den Aktionär“) ausgerichtet. Die Arbeitskraft dagegen wird systematisch entwertet, was natürlich gut für die Kapitalrentabilität ist. Und zwar in dem Maße, in dem die Freiheit des Kapitalverkehrs die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Fiskal- und Sozialsystemen anheizt und damit den Sozialabbau verstärkt.

Der euphemistische Begriff „Globalisierung“ meint genau dieses: Die Neuaufstellung des Kapitalismus auf der globalen Stufenleiter sollte die seit den 1960er Jahren einsetzende Krise, sprich: den Fall der Profitrate, abwenden. Um den Triumph der herrschenden Klasse zu sichern – das heißt den Vorrang der Finanzwerte gegenüber den Lohneinkommen –, mussten die Strukturen der staatlichen Regulierung den Erfordernissen des Marktes angepasst werden.

Dieses Konstrukt hat nicht mehr als zwanzig Jahre gehalten. In den USA steigt die Profitrate schon seit Mitte der Nuller Jahre nicht mehr an. Und die Kredite, die man den Armen als Ausgleich für ihre unzureichenden Löhne aufschwatzte, konnten die Überproduktion nicht mehr absorbieren. So kam es zu der Schockwelle, die sich im Tempo der Kapitalzirkulation ausbreitet.

In Griechenland, Irland, Portugal, Spanien oder Italien geht es keineswegs um die zufällige Anhäufung nationaler Probleme, die jeweils spezifische Ursachen haben. Ihr simultanes Auftreten belegt vielmehr, dass die Krise des Kapitalismus zur vollen „Reife“ gelangt ist und die Logik der Wertschöpfung zugunsten des Aktienkapitals auf die Spitze getrieben hat. In diesem Prozess ist alles zur Ware geworden: Güter des täglichen Bedarfs und Dienstleistungen, Gesundheit, Bildung und Kultur, ja sogar die natürlichen Ressourcen und die gesamte Lebenswelt.

Die Globalisierung beschränkt sich keineswegs auf den freien Warenverkehr, also die Zirkulation der Güter. Der darüber schwebende Finanzsektor unterliegt ebenfalls der Logik des Wertgesetzes und damit einem doppelten Zwang, der heute einen unauflöslichen Zusammenhang bildet: Der Faktor Arbeit, der sich nicht endlos auspressen lässt, muss erstens neu bewertet werden; und dies zweitens auf einer Ressourcenbasis, die qualitativ wie quantitativ immer dünner wird.2 Die tiefere Ursache für die Finanzkrise ist also die kapitalistische Überproduktion und die Sackgasse, in die sich unser Entwicklungsmodell manövriert hat.

Die linken Befürworter einer Entglobalisierung argumentieren vor allem damit, dass die Deindustrialisierung und die Vernichtung von Arbeitsplätzen in den reichen Ländern eine Folge der Globalisierung sei. So schreibt der Ökonom Jacques Sapir: „Bis Mitte der 1990er Jahre waren die Produktivitätszuwächse der Schwellenländer nicht so groß, dass sie die Kräfteverhältnisse gegenüber den führenden Industrieländern verändert hätten. Doch seit Mitte der 1990er Jahre nimmt etwa in China oder in Osteuropa die Produktivität erheblich zu. Seither wandern ganze Zweige aus den Industrieländern ab.“3 Diese Aussage belegt allerdings gerade, dass die Umkehrung der Kräfteverhältnisse zwischen der herrschenden Klasse und den Lohnabhängigen in den Industrieländern mindestens 15 Jahre vor dem Aufstieg Chinas datiert.4

Es stimmt also durchaus, dass der in den letzten Jahren verschärfte Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt die Stellung der Besitzenden gestärkt hat; unzutreffend ist aber, dass für die verschlechterte Lage der Lohnabhängigen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern vor allem die Schwellenländer verantwortlich sein sollen.

In den reichen Ländern drückt sich die Klassengewalt des Neoliberalismus in einem Verhältnis von Kapital und Arbeit aus, das für das Kapital vorteilhaft ist, und in einer veränderten Aufteilung des Kuchens unter den Beschäftigen. Wobei die hohen Gehälter besonders stark angestiegen sind, vor allem durch Vergütungsanteile in Form von Aktienoptionen. Dieser zweite Aspekt hat mit der sozialen Stellung dieser Führungskräfte innerhalb des Unternehmens mindestens ebenso viel zu tun wie mit ihrer fachlichen Qualifikation, aber auch mit dem außerbetrieblichen Sozialdumping, das zulasten der Niedriglohngruppen geht.

Deshalb sollte man sich auf theoretischer Ebene davor hüten, einen Klassengegensatz in einen Konflikt zwischen Nationen umzudeuten. Frédéric Lordon hält allerdings diese Vorsicht für „vergebliche Liebesmüh“, denn es sei nun mal unbestreitbar, dass „die Strukturen der ökonomischen Globalisierung“ etwa chinesische und westeuropäische Arbeiter „objektiv in ein antagonistisches Verhältnis setzen“.5

Der entscheidende Punkt ist freilich, dass protektionistische Lösungen den Konflikt zwischen Nationen über den Klassenkonflikt stellen. Der Systemcharakter der globalen kapitalistischen Krise rührt von dem gesellschaftlichen Verhältnis, das für den Kapitalismus konstitutiv ist. Schon deshalb ist zweifelhaft, ob es für diese Gesellschaften einen nationalen Ausweg gibt.

In den allermeisten Staaten müssen die Regierungen die Kosten der Krise auf die Bevölkerungen abwälzen. Keine Regierung will oder kann die Folgen eines Zahlungsausfalls gegenüber ihren Gläubigern riskieren – und ein einziger Staatsbankrott könnte eine Kettenreaktion auslösen. Deshalb verdammen alle ihre Volkswirtschaft zur Rezession. Nun spielt die Globalisierung aber nicht nur auf der Ebene des Handels und der Finanzen. Internationale Großkonzerne etwa interessieren sich gar nicht mehr groß für einzelne Volkswirtschaften. Entscheidend ist deshalb die Frage, wie weiträumig der Kampf gegen die Krise angelegt sein muss.

Die G 20 könnte sich abschaffen

Oder anders gefragt: Welche Bereiche bedürfen angesichts der globalen Krise einer Regulierung? Und können wir starke internationale Institutionen einfach als „Chimäre“ abtun?6 Gewiss, wenn damit die Plattitüden von „globaler Governance“ gemeint sind oder die G 8, G 20 und andere Herrschaftszirkel, die sich stets ergebnislos vertagen. Und dennoch gibt es eine sehr reale Aufgabe: Es müssen globale Regulierungsmechanismen eingerichtet werden. Wie wichtig diese wären, auch wenn damit nicht gleich der Kapitalismus abgeschafft oder auch nur eingehegt wird, lässt sich an zwei Beispielen zeigen.

Das erste betrifft die Landwirtschaft. Die Deregulierung des weltweiten Agrarhandels hat zur Folge, dass in den Ländern des Südens die besten Böden für den Anbau von Exportprodukten und auf Kosten des Subsistenzanbaus vereinnahmt werden, dass dort die zahlungsfähige Nachfrage sinkt und dass die globalen Grundpreise extremen Schwankungen unterliegen. Wie aber sollen die einzelnen Länder relative Autarkie, also eine sichere Nahrungsmittelversorgung erlangen, wenn die Agrarmärkte nicht global streng reguliert werden, damit Nahrungsgüter und überhaupt sämtliche Rohstoffe nicht mehr der Spekulation und damit den Launen des Marktes unterliegen?7

Das zweite Beispiel ist der Kampf gegen den Klimawandel, der von vornherein global angelegt ist. Das Scheitern der Kioto-Nachfolgeverhandlungen in Kopenhagen (2009) und Cancún (2010) resultiert vor allem aus Interessenkonflikten zwischen den führenden Industrieländern, die starken Einflussgruppen und multinationalen Konzernen hörig geworden sind. Die Entstehung eines Bürgerbewusstseins für die Erhaltung der Gemeingüter, mit einer globalen Vision, kann bei solchen Konferenzen durchaus Einfluss ausüben. Das gilt etwa für den Aufruf der Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel, die im April 2010 auf Initiative der bolivianischen Regierung abgehalten wurde.

An den Beispielen Klima und Landwirtschaft lässt sich auch zeigen, dass das Entwicklungsmodell, auf dem die kapitalistische Globalisierung basiert, unbedingt revolutioniert werden muss. Gerade dieser Aspekt wird von manchen Befürwortern der Entglobalisierung ignoriert, die das Modell eines nationalen Fordismus im Auge haben. Denn das mag zwar besser reguliert sein als das neoliberale, läuft aber auf einen verheerenden Produktivismus hinaus. Entscheidend ist also die Frage, in welchem Raum und auf welcher Ebene die demokratische Souveränität anzusiedeln ist.

Was sagen die Verfechter der Entglobalisierung zu diesem Problem? „Die Lösung ist ganz offensichtlich die Wiederherstellung nationaler Souveränität“, schreibt Lordon, „denn sie hat gegenüber allen anderen den immensen Vorzug, dass sie schon da, also unmittelbar verfügbar ist – wozu natürlich strukturelle Veränderungen nötig sind, die diese Souveränität auch ökonomisch absichern, wie etwa: selektiver Protektionismus, Kapitalverkehrskontrollen, politischer Zugriff auf die Banken. Alles Dinge, die sich leicht verwirklichen lassen, wenn man nur will.“8

Die Souveränität wiedererwecken

Der Hinweis auf die drei wichtigen strukturellen Veränderungen ist völlig korrekt. Das Problem liegt in der Annahme, dass die nationale Souveränität ja „schon da“ und „unmittelbar verfügbar“ sein soll. Denn der Globalisierungsprozess hat ja vor allem bewirkt, dass die Demokratie ihrer Substanz beraubt und der Schlüssel zum gemeinsamen Haus den Finanzmärkten überlassen wurde.

Die äußerst schwierige Aufgabe, vor der die Bevölkerungen stehen, ist also eine andere: Es geht nicht darum, ihre Souveränität nur zu reaktivieren, sondern sie zu neuem Leben zu erwecken. Und das nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene, denn das Kräftemessen mit dem Kapital findet ja nicht nur und vielleicht nicht einmal überwiegend im nationalen Rahmen statt.

Damit stehen wir vor dem Widerspruch, dass sich die Demokratie noch und vor allem national artikuliert, während die notwendigen Regulierungen und Veränderungen – vor allem die ökologischen – jenseits der nationalen Ebene angesiedelt sind. Es gilt also, Schritt für Schritt eine Sphäre europäischer Demokratie zu schaffen. Weil die aktuelle Krise eben nicht einfach die Addition nationaler Krisen ist, kann auch der Ausweg kein nationaler sein.

Bleibt die Frage, mit welchen Schritten die Dekonstruktion des neoliberalen Kapitalismus beginnen soll. Erstens müsste man, und das möglichst sofort, einen Großteil der Staatsschulden für illegitim erklären, mit der Folge, dass sie nicht mehr bedient werden müssten. Wobei die Länder, die ihre Zahlungen einstellen, auf europäischer Ebene zu bestimmen wären, und zwar auf der Basis einer allgemeinen Schulden-Enquete. Der zweite Schritt wäre die Sozialisierung des gesamten europäischen Bankensektors, gefolgt von der Wiedereinführung einer kräftigen Steuerprogression.

Auf praktischer Ebene ist all das ohne Weiteres möglich; was bislang fehlt, ist nur der politische Wille zur „Sterbehilfe für die Rente“ (Keynes), also zur Abschaffung von Rentierseinkommen.9

Mittel- und langfristig geht es um die radikale Umgestaltung unseres gesamten Entwicklungsmodells im Sinne einer Überwindung des Kapitalismus. Die Abschaffung der aktuellen Finanzstrukturen wäre die erste Etappe, die mit dem Verbot von Freiverkehrsgeschäften (OTC-Handel)10 und Derivaten und mit der Besteuerung aller Finanztransaktionen (Tobinsteuer) beginnen könnte.

Unabdingbar ist darüber hinaus die strikte Begrenzung des Bereichs profitorientierter Geschäfte. Damit würde die Entwicklung wirtschaftlicher Aktivitäten begünstigt, die nichtkommerziell sind oder auf die Befriedung von Grundbedürfnissen zielen und dabei auf das ökologische Gleichgewicht Rücksicht nehmen.

Und wie soll man das Ganze nennen? Die notwendigen Schutzmaßnahmen (Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Schutz der Natur und anderes) müssen nicht zwangsläufig zu einem Protektionismus führen. Kniffliger ist zweifellos die erforderliche „Selektion“ zwischen Bereichen, die es zu „entglobalisieren“, und anderen Bereichen, die es gerade zu universalisieren gilt. Aber hier liegt zugleich die Chance, die eigenen Prioritäten zu bestimmen, eine sozioökologische Alternative für die Gesellschaft aufzuzeigen und schrittweise die Strukturen einer wahrhaft internationalen Zusammenarbeit aufzubauen.

So sieht das Programm eines „Altermondialismus“ aus, der keinerlei Abstriche an der Kritik der Globalisierung macht, ohne allerdings deren glattes Gegenteil vorzuschlagen.

Fußnoten: 1 Als Einstieg in die französische Debatte: „Démondialisation ou altermondialisme?“, alternatives-economiques.fr/blogs/harribey/2011/06/07, und: „La démondialisation heureuse? Éléments de débat et de réponse à Frédéric Lordon et à quelques autres collègues“, alternatives-economiques.fr/blogs/harribey/2011/06/16/. 2 Jean-Marie Harribey, „Crise globale, développement soutenable et conceptions de la valeur, de la richesse et de la monnaie“, Forum de la Régulation, Paris, 1./2. Dezember 2009, harribey.u-bordeaux4.fr/travaux/monnaie/crise-valeur-monnaie.pdf. 3 Jacques Sapir, „La mondialisation est-elle coupable?“, Gespräch mit Daniel Cohen in: Alternatives économiques, Nr. 303, Juni 2011. 4 In Frankreich vollzog sich die Verringerung des Lohnanteils am Wertzuwachs bei gleichzeitig hochschnellender Arbeitslosigkeit bereits im Lauf der 1980er Jahre. Siehe Jean-Philippe Cotis, „Partage de la valeur ajoutée, partage des profits et écarts de rémunérations en France“, Insee-Bericht, 2009. 5 Frédéric Lordon, „Comment rompre avec le libre-échange. La démondialisation et ses ennemis“, Le Monde diplomatique, August 2011. 6 So etwa Lordon, siehe Anmerkung 5. 7 Siehe Aurélie Trouvé und Jean-Christophe Kroll, „Degenerierte Böden. Eine Bilanz der europäischen Agrarpolitik“, Le Monde diplomatique, Januar 2009. 8 Frédéric Lordon, „Qui a peur de la démondialisation?“, 13. Juni 2011, blog.mondediplo.net/2011-06-13-Qui-a-peur-de-la-demondialisation. 9 Siehe François Chesnais, „Les dettes illégitimes. Quand les banques font main basse sur les politiques publiques“, Paris (Raisons d’agir) 2011. 10 Gemeint ist der außerbörsliche oder Over-the-Counter-Handel, der jeder Kontrolle entzogen ist. Im OTC-Geschäft werden 80 bis 90 Prozent des Handels mit Derivaten abgewickelt, die Warren Buffett als „Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien Jean-Marie Harribey, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bordeaux IV, ist Herausgeber des Attac-Bands „Le Développement a-t-il un avenir? Pour une société économe et solidaire“, Paris (Mille et une nuits) 2004.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2011, von Jean-Marie Harribey