12.10.2007

Macau wächst ins Meer

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Macau wächst ins Meer

Märchenhafte Spielhöllen für betuchte Chinesen von Any Bourrier

Langsam nähert sich die Fähre dem Landungssteg. Zwischen zwei tiefen Buchten taucht eine schmale Landzunge auf. Hier ließen die Portugiesen von chinesischen Tagelöhnern im 16. Jahrhundert ein Fischerdorf zur Hafenstadt Macau ausbauen. Der ursprüngliche Name der Siedlung lautete A-Ma-Gao (Die Bucht von Ama). Nach einer Legende rettete die lokale Göttin Ama hier hunderte von Fischern aus den schrecklichen Stürmen, die so häufig im tropischen Südchina wüten.

Über die Jahrhunderte entstand eine portugiesisch-chinesische Stadt mit zwei Gesichtern. Heute sieht man am Meeresufer Türme aufragen, Spielkasinos, Denkmäler und sogar eine Miniaturstadt aus Südstaatenvillen, afrikanischen Hütten und europäischen Baudenkmälern. Das Stadtbild Macaus ist nur eine Kulisse aus Hochhäusern und Reklametafeln, ein misslungenes Beispiel chinesischer Modernisierung. Dass dieser tropische Luna-Park das andere Gesicht der Halbinsel verbirgt, den echten Schatz, ist sein größter Makel: das alte Macau, geheimnisvoll, widerspenstig und großzügig.

Die Geschichte dieser einzigartigen Stadt füllt bedeutend weniger Seiten als die Hongkongs. Aber der Prozess der Machtübernahme der Volksrepublik in der ehemaligen portugiesischen Kolonie, die im Dezember 1999 ebenfalls zur chinesischen Sonderverwaltungszone erklärt wurde, ist durchaus vergleichbar: die gleiche Dynamik, der gleiche wirtschaftliche Erfolg, das gleiche Autonomiestatut, das auf dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ basiert.

Macau hat die Steuer- und Zollhoheit, und es hat seine Währung behalten, den mit dem Hongkong-Dollar verbundenen Pataca. Doch die Verteidigungs- und Außenpolitik bestimmt Peking. Theoretisch wurde der Sonderverwaltungszone politische Autonomie gewährt. Tatsächlich jedoch ist die – nicht immer sanft ausgeübte – Einflussnahme häufig spürbar.

Seit das Königreich der Spielhöllen und Pfandleiher an China zurückfiel, verfolgt Macau ganz offen das Ziel, die Welthauptstadt dieses überaus rentablen Wirtschaftszweigs zu werden. Das hat es jetzt geschafft. Im April vergangenen Jahres übertraf Macau mit Einnahmen in Höhe von 7,2 Milliarden Dollar seinen Rivalen Las Vegas, wo nur 6,6 Milliarden Dollar verdient wurden. Die Steuern, die auf den Gesamtumsatz der Kasinos erhoben werden, stellen laut Finanzbehörde 73,9 Prozent von Macaus Haushaltseinnahmen.1

Seit 2002 hatte die 28,2 Quadratkilometer große Halbinsel ihre Anstrengungen verdoppelt, um diese „Großtat“ zu vollbringen. Daran waren zwei entscheidende Anordnungen Pekings maßgeblich beteiligt: Erstens die Aufhebung der Beschränkungen für Individualreisen im Oktober 2003 – allein im letzten Jahr stürmten 12 Millionen Touristen vom chinesischen Festland die Kasinos von Macau und sorgten damit für einen außergewöhnlichen Anstieg der Einnahmen. Die andere große Entscheidung war die Abschaffung des Kasinomonopols im Jahr 2001, das die portugiesische Regierung vierzig Jahre zuvor dem Milliardär Stanley Ho übertragen hatte.

Kurz darauf kam es zu einem Ansturm auf die Lizenzen für Spielbetriebe, an dem sich vor allem die großen Konsortien von Las Vegas beteiligten: Wynn, Sands und MGM Mirage mit ihren Luxuskasinos und „Resorts“, touristischen Hotelanlagen mit Restaurants, Bars, Gärten und Sportplätzen. Seit der Eröffnung des „Sands Macau“ im Mai 2004 haben sich die Investitionen vervielfacht. Unzählige Bauten sind entstanden, wie der gigantische Gebäudekomplex des Wynn, das im September 2006 eröffnet wurde: ein Kasino mit 200 Tischen, ein Hotel mit 600 Zimmern und mehreren Restaurants. Kostenpunkt: 1,2 Milliarden Dollar.

Ein falsches Venedig wie in Las Vegas

Offensichtlich reichen jedoch selbst diese überdimensionalen Kasinos nicht mehr aus. Macau will expandieren. Um Bauland zu gewinnen, soll im Chinesischen Meer Land aufgeschüttet werden. Bestes Beispiel ist das Megaprojekt Cotai, eine Verbindung der beiden Inseln Coloane und Taipa, die der Halbinsel gegenüber an der Mündung des Perlflusses liegen. Ein dem Meer abgerungener Landstreifen zwischen den Inseln bietet jetzt eine 4,7 Quadratkilometer große Freifläche. Dort entstehen Shoppingcenter, Hotels, ja selbst ein Stadion. Auf demselben Polder ließ der Milliardär Sheldon Gary Adelson eine riesenhafte Kopie seines berühmten „Venetian“ in Las Vegas nachbauen, eine fantastische Nachbildung Venedigs mit Kanälen, Gondeln und einem Dogenpalast. Das Venetian-Macau-Resort-Hotel, das am 28. August 2007 eröffnet wurde, bietet mit 750 Spieltischen das größte Kasino der Welt, außerdem 3 000 Suiten, ein riesiges Einkaufszentrum, Ausstellungsflächen, Tagungsstätten und Restaurants. 2,3 Milliarden Dollar hat der Bau der gesamten Anlage verschlungen.2

Im Augenblick sind vierzehn Kasinos 24 Stunden am Tag geöffnet, zu Lande oder auf dem Meer, in denen Spielergruppen – weitaus leiser, als man vermuten möchte – ohne Unterbrechung in fensterlosen Sälen unter gleißendem Neonlicht zocken. Das Publikum hier ist jünger, durchschnittlicher und nicht so aufgedonnert wie die traditionellen Besucher der örtlichen Kasinos. Denn der Charakter des Spiels hat sich verändert, wie Eric Sautedé, Forscher am Ricci-Institut und Chefredakteur der macauischen Zeitung Chinese Cross Currents, feststellt: „Die Öffnung des Markts für amerikanische Kasinobetreiber hat die Glücksspielindustrie in Macau vollkommen verändert. Wir sind in das Zeitalter des Glücksspiels für die Massen eingetreten. Vorher wurde der Gewinn von den großen Spielern erzielt, einer kleinen Bevölkerungsschicht, die sich in Privaträume zurückzog, wo der Mindesteinsatz bei 100 000 Euro lag. Heute spielt man in Gruppen um kleinere Summen, ganz offen und ohne jede Verschnaufpause. Dieser Wandel hat die Anziehungskraft Macaus erhöht und ermöglicht jetzt den Ausbau anderer Wirtschaftszweige wie des Business-Tourismus.“

Der Zuzug der Giganten aus den USA hat tatsächlich dafür gesorgt, dass die Geheimlotterien und versteckten Spielhöllen zurückgedrängt wurden und die Verwaltung die Glücksspielindustrie besser in den Griff bekam. Das Modell der Kasinos von Las Vegas, eingebettet in das Ambiente zivilisierter, familientauglicher Freizeitunterhaltung, passt perfekt zu den neuen Ambitionen Macaus. Die Stadtväter wollen nicht länger nur die Spielsüchtigen ansprechen, sondern das breite Publikum der Gelegenheitsspieler, die zwischen dem morgendlichen Shopping und der abendlichen Travestie-Revue noch eben ein paar Jetons setzen wollen.

Macaus unglaubliches Wachstum weckte aber auch schon kritische Nachfragen. So befürchtete man, dass eine derart gewaltsame Umwandlung schwierig zu bewältigen sei. Tatsächlich hatte niemand vorausgesehen, was passieren würde. Alle hatten sich von der großen Euphorie mitreißen lassen. Doch nun häufen sich die Probleme, und die Verwaltung zögert, sie anzupacken. So fehlen zum Beispiel Arbeitskräfte. Mit nur 465 000 Einwohnern benötigt Macau 200 000 zusätzliche Arbeitskräfte für seine neuen Kasinos. Da es verboten ist, Personal vom Kontinent anzuwerben, droht der Stillstand, wenn nicht eine andere Regelung zur Anwendung kommt, die Eric Sautedé „Pendler-Einwanderung“ nennt: „Menschen, die auf der anderen Seite der Grenze wohnen und nur für die Dauer ihrer Arbeitszeit im Stadtgebiet bleiben dürfen, wie es in Macau im 16. und 17. Jahrhundert üblich war.“

Aber Peking möchte nicht, dass die Sonderverwaltungszone ein Anziehungspunkt für die Millionen von Migranten wird, die aus dem Osten Chinas auf Arbeitssuche in den Süden strömen. Sie wären dann nämlich nicht länger dem chinesischen Gesetz, sondern dem macauischen unterworfen, weil sich die Zentralregierung dazu verpflichtet hat, das bestehende Rechtssystem der portugiesischen Exkolonie noch fünfzig Jahre lang bestehen zu lassen.

Die nächste Herausforderung für die Verwaltung Macaus ist die Immobilienspekulation, die das alte Hafenstädtchen in eine hektische Großstadt verwandelt hat. Deren stürmische Entwicklung der letzten vier Jahre hätte anderswo mindestens ein Jahrzehnt gedauert. Um die riesigen Kasinokomplexe hochzuziehen, benötigt die Sonderverwaltungszone Platz. Die Preise für Grundstücke und die Mieten sind daher ähnlich sprunghaft angestiegen wie die Gewinne der Kasinos.

Wohnungssuche wird zum Glücksspiel

Die Immobilienspekulanten haben einen Teil der Einheimischen vertrieben, die nach Auszahlung einer geringen Entschädigung ihre alten Häuser verlassen haben. Für die Einwohner Macaus, die seit Jahrhunderten direkt am Meer leben, ist es ein schmerzlicher Einschnitt. Manche Familie musste sich eine neue Wohnung kaufen, zu Preisen, die sich in den letzten vier Jahren verdreifacht haben. Die Verwaltung versucht die Wohnungsnot zu lösen, indem sie Sozialwohnungen bauen lässt, die jedoch täglich ein Stück weiter vom Zentrum wegrücken – von ursprünglich fünfzehn auf dreißig Kilometer Entfernung, wie es bei den Sozialwohnungen von Taipa der Fall war, die in den letzten Jahren errichtet wurden. Um dem Platzmangel zu begegnen, hat die örtliche Verwaltung der Regierung in Peking vorgeschlagen, die Insel Heng Qin, die im Osten Macaus recht nah an der chinesischen Küste liegt und zurzeit noch unbewohnt ist, langfristig zu pachten.

„Der Kasino-Boom hat zwiespältige Folgen für die Bevölkerung“, erklärt die Soziologin Emilie Tran, Professorin an der Universität Macau. „Rein wirtschaftlichen gesehen sorgen die neuen amerikanischen Glücksspielkonsortien für wachsenden Wohlstand. Außerdem finden die Einheimischen jetzt schneller einen Job als noch vor fünf Jahren. Und die stärkere Kaufkraft sorgt im Allgemeinen für eine Verbesserung der Lebensqualität. Die sozialen Dienste, die von der Verwaltung angeboten werden, wurden entschieden verbessert: Die Bildung, bis hin zur Universität, ist kostenlos, das Gesundheitssystem ebenfalls, und beide gehören zu den besten in ganz Asien.“

Die alte, geschäftige Kolonialniederlassung mit ihren Nachtschwärmern hatte schon immer ein anrüchiges Image: Mafia, Prostitution und Schattenwirtschaft. Die Ankunft der amerikanischen Spielmagnaten hat daran nicht viel geändert. „Die Schattenwirtschaft spielt immer noch eine große Rolle“, berichtet Emilie Tran. „Wir haben gerade den Skandal um die Banco Delta Asia miterlebt, die vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen wurde, weil die US-Regierung ihr vorgeworfen hatte, versteckte Privatkonten von nordkoreanischen Funktionären zu führen und illegale Waffengeschäfte zu decken.3

Doch das ist noch nicht alles: Es gibt auch noch den Drogenhandel, die illegale Einschleusung ausländischer Arbeitskräfte, darunter vieler junger Chinesinnen, die in den entferntesten Provinzen rekrutiert werden, wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Die Schleuser versprechen ihnen einen interessanten Job in einem Kasino, doch sobald die jungen Frauen in Macau eintreffen, wird ihnen der Pass weggenommen und sie werden gezwungen, sich zu prostituieren, um die Reisekosten abzuzahlen.“

Um ihr Image aufzubessern, setzt die macauische Sonderverwaltungszone auf große Sportveranstaltungen, wie das Autorennen Grand Prix Macau, und auf den Business-Tourismus, der mit zahlreichen Messen und jährlichen Ausstellungen Besucher anziehen soll. Zu dieser neuen Imagepflege gehört auch, dass 2007 zum „Jahr des Kulturerbes“ erklärt wurde. Indem man auf das kulturelle Erbe Macaus verweist, will man beweisen, dass es hier außer Kasinos und brandneuen Wolkenkratzern noch andere Reichtümer gibt.

Fußnoten: 1 Diese Steuern betrugen allein in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres 1,13 Milliarden Dollar, das ist eine Steigerung von 46,8 Prozent pro Jahr. 2 Dragages Macau, eine Tochterfirma der französischen Bouygues-Gruppe, ist bei diesem Projekt für die Fundamente verantwortlich. 3 Internationale Untersuchungen konnten bis heute keine Beweise für die Vorwürfe (vgl. S. 8/9) entdecken. Laut Tagesanzeiger vom 15. 7. 2007 beschuldigte das US-Schatzamt die kleine Banco Delta Asia in Macau, in Nordkorea hergestellte Dollarblüten in Umlauf gebracht und Geldwäsche für das Regime betrieben zu haben. (…) „Die Anschuldigungen des Schatzamts erwiesen sich als ziemlich haltlos.“

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Amy Bourrier ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Any Bourrier