12.10.2007

Dinschawai, 1906

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Dinschawai, 1906

Als Aiman al-Sawahiri, einer der Anführer von al-Qaida, am 16. November 2005 die Sprengstoffattentate vom 7. Juli in London rechtfertigte, nannte er Großbritannien einen der schlimmsten Feinde des Islam. Das Land sei im Laufe der Geschichte für den Tod von hunderttausenden von Muslimen verantwortlich gewesen, von Palästina bis Afghanistan, von Delhi bis Dinschawai. Der westlichen Öffentlichkeit dürfte der Name dieses ägyptischen Dorfes wenig sagen. Doch im kollektiven Gedächtnis von Millionen von Menschen hat der Name Dinschawai eine wichtige Bedeutung. Als Präsident Gamal Abdel Nasser am 26. Juli 1956 die Verstaatlichung der Suez Canal Company ankündigte, kam in seiner berühmten Rede auch das Dorf Dinschawai vor.

Am 13. Juni 1906 war eine kleine Gruppe britischer Offiziere beim Taubenschießen im Nildelta mit Bauern aus dem Dorf Dinschawai in Streit geraten. Ein Offizier kam bei der Auseinandersetzung ums Leben. Der britische Generalkonsul Lord Cromer (Ägypten stand seit 1882 unter britischer Oberhoheit) berief ein Militärgericht ein und machte unmissverständlich klar, dass er ein Exempel statuieren wollte und Todesurteile erwartete. Vier Bauern wurden zum Tod durch Erhängen verurteilt. Einige wurden vor den Augen ihrer Familie ausgepeitscht. Andere in Zwangsarbeitslager geschickt.

In Ägypten löste diese Willkürjustiz große Empörung aus. Und sie trug dazu bei, dass sich nach zwanzig Jahren der Lethargie eine neue nationale Bewegung erhob. Ahmed Schauki, der „König der Dichter“, verfasste zornige Verse, und Mustafa Kemal, Herausgeber der bis dahin unbedeutenden Zeitschrift al-Liwa, mobilisierte die Öffentlichkeit und gründete in der Folge die erste große nationalistische Partei Ägyptens.

In London verlieh man unterdessen Lord Cromer einen Verdienstorden. Aber schon bald kamen in Teilen der Öffentlichkeit, in der Presse und im Parlament Zweifel an seinen Maßnahmen auf. Bereits am 21. Juni 1906 hatte die Tageszeitung The Guardian Mail Bedenken gegen die angekündigten Verurteilungen geäußert. Auch der Schriftsteller George Bernard Shaw protestierte.

Am 24. Dezember 1907, nachdem die Regierung die Freilassung aller Gefangenen aus Dinschawai bekannt gegeben hatte, schrieb Wilfrid Scawen Blunt, ein britischer Orientkenner, der mit fast allen muslimischen Intellektuellen in Kontakt stand, in sein Tagebuch: „Der Fall ist damit abgeschlossen, aber er hat das britische Empire stärker erschüttert als jedes andere Ereignis in den vergangenen Jahren. Er hat uns von Cromer befreit [der zurücktreten musste], aber er wirkt nach, in Indien, in Persien, in ganz Asien. Ägypten ist aus seiner langen Lethargie wachgerüttelt worden und hat durch diese Episode zu einem neuen Nationalismus gefunden.“1 Alain Gresh

Fußnote: 1 Wilfrid Scawen Blunt, „My Diaries, Part Two, 1900 to 1914“, London (Martin Secker) 1920, S. 198.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Alain Gresh