12.10.2007

Schicksal, Gerechtigkeit, Leben

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Schicksal, Gerechtigkeit, Leben

Wer in einem Problemviertel aufwächst, hat Pech gehabt und muss sich für seine Herkunft auch noch schämen. Aber fehlt da nicht was? Überlegungen zur Privatisierung des gesellschaftlichen Elends anhand kluger sozialwissenschaftlicher Bücher von Noëlle Burgi

Ich heiße victoria, ich wohne hier im block, ich mache alles für 2,50 euros.“ Der Satz ist in Kleinbuchstaben mit blauem Leuchtstift außen auf die Tür eines Aufzugs geschrieben, auf der auch, in Großbuchstaben und mit dem Taschenmesser eingeritzt, „TOR ZUR HÖLLE“ zu lesen ist. Der Aufzug gehört zum höchsten Gebäude eines riesigen Komplexes mit Sozialwohnungen, der in einem ehemaligen grenzübergreifenden Bergbaugebiet im Norden Frankreichs und im belgischen Hainaut liegt. Die Anthropologin und Sozialarbeiterin Pascale Jamoulle hat dort in drei Wohnblocks, die die wohlklingenden und träumerischen Namen Les Mimosas, Les Amazones und La cité du Phare tragen, eine große Untersuchung über die sozialen Beziehungen durchgeführt.

Ihr Buch „Des hommes sur le fil“1 erzählt von der Lebenssituation, dem Werdegang und den Erfahrungen von drei Generationen von Männern, die „am Rande“ stehen und die in ihrer prekären Existenz mit der schwierigen (Re-)Konstruktion ihrer männlichen Identität konfrontiert sind. Mal beschreibend, mal berichtend untersucht Jamoulle von Kapitel zu Kapitel die Lebensbereiche Arbeit, Wohnsituation, Familie, Banden, Straße, gegenseitige Unterstützung und zeichnet dabei ein erschütterndes Bild von der gesellschaftlichen Gewalt, der Jugendliche und junge Erwachsene in den sogenannten Problemvierteln ausgesetzt sind (siehe auch Beitrag auf S. 11). Da die Menschen sie jedoch oft gegen sich selbst richten, besonders durch Risikoverhalten (Drogen, Ehrstreitigkeiten, Diebstähle, Ausreißen von zu Hause, Selbstverstümmelungen etc.), ist es oft schwierig, die Ursachen für diese Gewalt zu erkennen. Wessen Schuld ist es?, fragt man sich spontan.

Aber ist das die richtige Frage? Jamoulle stellt sie nicht direkt, jedenfalls nicht derart oberflächlich. Die Männer und Frauen, deren Stimmen und Lebenswege das Buch durchziehen, sind allerdings eindeutig empört über das „System“ und seine Institutionen. Tag für Tag müssen sie zusehen, wie ihre Lebensbedingungen schlechter werden. Die Eltern wachen nachts „vom Rechnen“ auf, weil das Geld so knapp ist. Sie schaffen es kaum oder gar nicht, ihre Kinder zu führen, ihnen Halt zu geben und in ihrem gefährlichen Leichtsinn zu bremsen. Ihre Autorität verwandelt sich in Ohnmacht angesichts der Unmöglichkeit, das Versprechen einer akzeptablen Zukunft mit der Weitergabe moralischer Regeln und Werte zu verbinden. „Die vorige Generation träumte vom sozialen Aufstieg ihrer Kinder, die jetzige hofft vor allem, dass sie nicht im Gefängnis landen.“

Was tun, um die Einkerkerung der Menschen in diesen Wohnblocks, die „Vaterlosigkeit in Serie“ produzieren, zu verhindern? Ohne Arbeit, von ihren Partnerinnen häufig vor die Tür gesetzt haben die Männer das Gefühl, weder Männer noch Väter sein zu können. Ihre von der Verantwortung belasteten Frauen werfen ihnen vor, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Die jungen Mädchen wachsen neben Männern auf, die in ihren Augen Schwächlinge sind. Die Kinder übernehmen die Macht. Die Erziehungsberechtigten, die Mutter, manchmal der Vater, selten beide zusammen, haben keinen Einfluss mehr auf sie. Von der Außenwelt als „Degenerierte“ wahrgenommen, sind sie tagtäglich Negativurteilen, einer repressiven, jugendfeindlichen Politik sowie verschiedenen Formen räumlicher und gesellschaftlicher Segregation und Ausgrenzung ausgesetzt. Nicht wenige dieser Jugendlichen landen im Gefängnis.

Die öffentliche Debatte über gesellschaftlich bedingtes Leid ist geprägt von einem verengten Blick auf die Spannung zwischen Ungerechtigkeit und Unglück. Unsere Gesellschaften neigen sehr dazu, dieses Leid entweder als durch abstrakte Kräfte (die „objektiven Zwänge“) verursachtes Unglück oder als moralisches Fehlverhalten der Betroffenen (Faulheit, Willensschwäche, mangelnde Bereitschaft, sich in die Gesellschaft zu integrieren) zu betrachten. Der Frage nach der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit weichen beide Deutungen gleichermaßen aus.

In eine solche Wohnsiedlung hineingeboren zu sein, ist ohne Zweifel ein Unglück, ein schweres Schicksal. Dass in den reichen westlichen Gesellschaften immer mehr Ghettos oder Problemviertel entstehen, ist aber etwas anderes als Unglück oder Schicksal. Die Ausweitung der Zonen sozialer Verletzbarkeit verweist vielmehr auf eine Ungerechtigkeit, die den weniger Glücklichen zugefügt wird, und sei es durch ein anonymes „System“, in dem so viele unsichtbare Hände wirken, dass sich die Absichten, Verantwortlichkeiten und Kausalitätsketten in den verästelten Kräfteverhältnissen verlieren. Im Zusammenhang mit den Wohnblocks von „Unglück“ zu sprechen, ist unangemessen, denn die Vorstellung von Unglück ordnet die Ursachen für soziale oder Naturkatastrophen automatisch den unverfügbaren, dem menschlichen Willen entzogenen Gesetzmäßigkeiten zu.

Wenn die Ungerechtigkeit nicht zu durchschauen ist

Das Wort Unglück impliziert Unausweichlichkeit, Resignation, Anpassung, Unterwerfung unter die Ordnung der Welt. Insbesondere dann, wenn die Institutionen sich darauf beschränken, die sozialen Opfer auf die Einhaltung der öffentlichen Ordnung, auf ihre psychologischen Probleme, ihre psychischen, privaten und emotionalen Ressourcen zu verweisen, führt die Vorstellung vom „Unglück“ letztlich dazu, dass Ungerechtigkeit völlig undurchschaubar wird und ebenso unverstanden wie folgenlos bleibt.2

Ungerechtigkeit rührt nicht einfach aus einem Verstoß gegen allgemein akzeptierte Gerechtigkeitsprinzipien her, zum Beispiel gegen die „Rechte“ und „Pflichten“ von Arbeitsuchenden. Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth definiert Ungerechtigkeit ausgehend von der tatsächlich durchlebten Erfahrung der sozialen Subjekte.3 Ungerechtigkeit zeigt sich, wenn diese tagtäglich mit Situationen von Ablehnung oder „Missachtung“ konfrontiert sind: Ihr Wert für die Gesellschaft wird geleugnet, ihre Rechte werden beschnitten, ihre physische Integrität verletzt. Ungerechtigkeit verweist somit auf Bedingungen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern garantieren können muss, damit sie ein gelingendes Leben führen können. Mehr als der schlichte Verweis auf bestehende Gerechtigkeitsregeln bildet der intuitive Anspruch auf eine „gerechte und gute“ Ordnung, die jedem die Bedingungen für die Möglichkeit eines wertvollen Lebens bietet, den Kern der Ungerechtigkeitsempfindung. Einzig dieser Anspruch erlaubt es, die vielen und mitunter paradoxen Formen durchschaubar zu machen, in denen die fehlende Anerkennung der Individuen und ihrer Lebensverhältnisse ihren Ausdruck findet.

Historiker, Soziologen und Anthropologen beschäftigt in diesem Zusammenhang immer wieder das große Paradox, dass ausgerechnet die Opfer, einschließlich der Menschen die große Katastrophen oder Konzentrationslager überlebt haben, enorme Schuldgefühle empfinden. Für Honneth wurzelt eine solches Schuldgefühl in der erfahrenen „Missachtung“. Es entsteht durch die Auflösung des Vertrauens in sich selbst als eine der Zuneigung würdige Person, durch den Verlust des Respekts sich selbst gegenüber als einem Mitglied einer Gemeinschaft rechtlich Gleicher und durch den Wegfall des Selbstwertgefühls als jemand, der durch sein Handeln einen Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben leistet. Dieser Verlust von Anerkennung, meint Honneth, stehe am Anfang negativer moralischer Erfahrungen, da den betroffenen Subjekten die Bedingungen einer positiven Identitätsbildung verweigert werden.

So kommt es zu Identitätskonstruktionen aus Scham und Selbstverachtung, wie Pascale Jamoulle sie in den Wohnsilos beobachtet hat: Die unweigerlich enttäuschten und „erniedrigten“ Subjekte bestrafen sich am Ende selbst. Die Scham verbietet ihnen, sich anderen zu öffnen, Ängste und Nöte mit ihnen zu teilen. Die Menschen fliehen aus ihren Familien, vergraben sich in Schweigen und Depression. Im schlimmsten Fall bringen sich die Väter um, junge Mädchen verstümmeln sich selbst: „Mein Wunsch zu sterben kam mit acht Jahren. Von da an wollte ich jeden Tag sterben. Und als ich fünfzehn, sechzehn war, habe ich es in die Tat umgesetzt. (…) Ich hasse mich und muss das beseitigen, was dafür verantwortlich ist, dass so viele unerwünschte Hände meinen Körper gelähmt und aus meinem Leben den Tod gemacht haben.“

Während die Wirkung der Selbstanklage im Allgemeinen darin besteht, den bestehenden Ängsten und Leiden weitere hinzuzufügen, erfüllt sie darüber hinaus doch eine andere, auf Anhieb viel befriedigendere Funktion. Sie erlaubt dem Subjekt, der kaum erträglichen Unausweichlichkeit einer anonymen Verantwortlichkeit und damit im Grunde dem Unglück zu entkommen, bloß eines von vielen zufälligen Opfern in einer sinn- und regellosen Welt zu sein, in der uns die Ereignisse in willkürlicher Weise treffen können. Das Schuldgefühl erlaubt uns, „die Illusion der eigenen Zentralität“ aufrechtzuerhalten, die Vorstellung zu nähren, dass das Leben uns eine einzigartige Behandlung zugedacht habe, dass Gefühle einen Sinn hätten und dass jeder Einzelne von uns mehr sei als nur ein minimales statistisches Atom.

„Warum ausgerechnet ich?“ So lautet die Frage, die sich die Opfer stellen. Ihr ist auch der amerikanische Journalist Louis Uchitelle ständig begegnet, der in seinem Buch „The Disposable American“ (zu Deutsch etwa: „Der Wegwerf-Amerikaner“)4 immer wieder auf die Themen Verlust des Selbstwertgefühls und Selbstanklage zurückkommt. Alle aus einem Beschäftigungsverhältnis entlassenen Personen, mit denen er gesprochen hat – allesamt qualifizierte Arbeitskräfte –, stellten sich diese Frage, unabhängig von ihrer besonderen Situation oder den Umständen ihres Arbeitsplatzverlusts: Fabrikschließung, Fusion/Übernahme, Frühverrentung oder sonstige Formen der ökonomischen „Rationalisierung“. Der Werdegang all dieser Menschen zeichnet ein facettenreiches Bild der „modernen Kündigung“ in den Vereinigten Staaten.5 Sie wurde seit Mitte der 1970er-Jahre zu einem langfristigen und vielfach verwendeten Instrument, um neue Strategien der Gewinnakkumulation zu fördern und zu nutzen.

Von der üblich gewordenen Kündigung, die die Angst um den Arbeitsplatz als etwas Normales und Selbstverständliches erscheinen lässt, bleiben nicht einmal mehr die privilegierten Schichten verschont. Inzwischen lernen auch sie die Qualen der Selbstentwertung kennen. Obwohl die Menschen sich hervorheben, indem sie „Warum ausgerechnet ich?“ fragen, werden sie sehr schnell kleinlaut und machen die Erfahrung der „Missachtung“.

So hatten beispielsweise sämtliche Gesprächspartner Uchitelles zu Beginn ihrer Laufbahn als „Arbeitsuchende“ gewaltige Hoffnungen in ihre berufliche Weiterqualifikation gesetzt. Dazu wurden sie auch durch die damalige Ideologie nach Kräften ermutigt. 1982 machte sich die bereits alte Vorstellung breit, dass man die Menschen lediglich ausbilden müsse, damit sie Arbeit fänden. Präsident Ronald Reagan hatte behauptet, Facharbeitsplätze blieben vakant, was die vielen Stellenanzeigen in den Zeitungen belegten. So verzichtete der Staat darauf, Stellen im öffentlichen Dienst zu schaffen, um das fehlende Angebot im privaten Sektor auszugleichen, und beschränkte sich auf die (knauserige) Finanzierung von Ausbildungsprogrammen.

Nun gibt es aber auf dem Arbeitsmarkt der USA, wie Uchitelle konstatiert, zu viele qualifizierte Arbeitskräfte. Die erzwungene Mobilität führt fast immer zu deutlichen Einkommensverlusten. Der Trend geht also zu Jobs mit Gehältern, die niedriger liegen, als es der Qualifikation entsprechen würde; zudem fallen noch die unternehmensfinanzierten Gesundheits- und Rentenversicherung weg. Im Übrigen „trennen sich“ viele Arbeitnehmer von ihrem früheren Arbeitgeber nur, um anschließend zu schlechteren Bedingungen bei einem Subunternehmer zu landen.

Natürlich lässt sich die Situation von Führungskräften oder speziell qualifizierten Arbeitnehmern – Uchitelle hat vor allem eine Gruppe von Mechanikern befragt, die einst in den Wartungshallen von United Airlines beschäftigt waren – nicht mit der von Armen vergleichen. Von Lohnarbeit können die Menschen in den von Pascale Jamoulle untersuchten Wohnblocks nur träumen. Ihre Bedeutung hat sie freilich auch hier nicht eingebüßt. In den Köpfen der Menschen ist bezahlte Arbeit nach wie vor ein Schlüsselwert. Besser als jede andere Distinktionsstrategie – und derer gibt es viele – kann sie diejenigen, die über einen Arbeitsplatz verfügen, offenbar aufwerten und vom „Kern der Benachteiligten“ fernhalten. Aber die Arbeit hat für die Männer und Frauen in diesen Wohnvierteln ihre festen Konturen verloren. Sie ist prekär, temporär, interimistisch oder intermittierend und bringt zwangsläufig und immer wieder die Erfahrung der „Missachtung“ mit sich. Wer für sechs Monate oder ein Jahr eine Arbeit ergattert, kann sich noch so „tapfer“ schlagen, er kann Vertretungen machen und die härtesten Schichten akzeptieren – zum Vertragsende wird er von seinem Arbeitgeber doch vor die Tür gesetzt. Dann fängt man wieder bei Null an. „Das hat mich fertiggemacht“, sagt ein Betroffener.6

Sozialphilosophische oder politische Arbeiten, insbesondere die von Axel Honneth, wollen uns anregen, über Dinge nachzudenken, die keine Binsenweisheit sind. Zu sagen, dass die höheren sozialen Schichten auf dem Arbeitsmarkt besser zurechtkommen als die unteren, ist eine Binsenweisheit. Und tatsächlich, die entlassenen Arbeitskräfte, mit denen Louis Uchitelle gesprochen hat, arbeiten heute wieder. Man hört nichts mehr von ihnen. Ihre offensichtliche Ergebenheit in ein unglückliches Schicksal – Deklassierung, Einkommensrückgang, Verlust von sozialer Anerkennung und Selbstvertrauen – sowie vor allem die Tatsache, dass sie die öffentliche Ordnung nicht stören, geben aber keinerlei Auskunft über die ihnen widerfahrene Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit.

Sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zeigen können

Das etablierte Rechtssystem als Ausgangspunkt des Nachdenkens über Ungerechtigkeit zu setzen, führt unweigerlich zu Fehleinschätzungen, weil, wie Axel Honneth betont, Gesellschaften lebendig und konfliktuell sind. Dass die Jugendlichen in den Wohnblocks illegale Aktivitäten betreiben, ist eine unbestreitbare Tatsache (auch wenn sie beileibe nicht die Einzigen sind). Dies schmälert aber nicht die Ungerechtigkeit, deren Opfer diese jungen Menschen sind. Es geht weniger um die Frage, ob sie dem Gesetz gehorchen oder nicht, als vielmehr um die sozialen Bedingungen, die es ihnen erlauben würden, sich, so der von Honneth zitierte Adam Smith, „ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen“.

Genau diese Scham kann man bekämpfen, indem man „Kohle“ macht, um später ins legale „Business“ einzusteigen. Für die Mehrzahl der Jugendlichen, die Jamoulle getroffen hat, sind kleine illegale Geschäfte eine „Hilfe“. Und eine Möglichkeit, das Stigma abzuschütteln, das an ihnen haftet: „Bei den Allerärmsten kommt es erst recht darauf an, dass man etwas hermacht. Wenn du wie ein feiner Herr angezogen bist, wirst du gegrüßt. Du kannst am gesellschaftlichen Leben teilhaben.“

Das Risiko, das mit solchen illegalen Aktivitäten verbunden ist, bietet darüber hinaus die Möglichkeit, „sich einen Namen zu machen“. Seinen Wert zu beweisen. So zu sein wie der Vater an der Walzstraße oder auf dem Gerüst – wenn auch in einem anderen Register, dem der Illegalität. Und so kommt es zu kollektiven Verhaltensweisen: „Eine Sozialsiedlung braucht einen Ruf. Es muss ‚Kerle geben, die sich zeigen‘, sonst ist man kein richtiger Wohnblock.“

Auch was die „legale“ Arbeitspraxis angeht, taugt das Gesetz kaum, um Ungerechtigkeit zu erfassen. Laut Annie Thébaud-Mony verfolgen Legalität und Kriminalität tatsächlich gemeinsame Interessen. In ihrem Buch „Travailler peut nuir gravement à votre santé“ (zu Deutsch etwa: „Arbeiten schadet der Gesundheit“) beschäftigt sich die französische Soziologin mit den Praktiken in verschiedenen Industriesektoren (Asbestproduktion, Atomkraft, Stahl, Chemie, Nahrungsmittel, Dienstleistung). Ihre Analysen zeigen, dass tatsächlich „Menschen bewusst Gefahren ausgesetzt werden“, um Strategien der Zulieferung und Produktionsverlagerung durchzusetzen, und dass die gesundheitlichen und sozialen Risiken ausgelagert und vorzugsweise den Schwächsten, nämlich Zeitarbeitskräften, Ausländern aufgebürdet werden.

Ein Beispiel unter vielen: Gaetano, Sohn eines Stahlarbeiters, träumt davon, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Eine Zeitarbeit gibt ihm Gelegenheit dazu und führt ihn in eine Zweigniederlassung des französischen Stahlkonzerns Usinor-Sacilor. Laut Arbeitsvertrag soll er ein Blechlager am Boden sortieren. Aber als er am Arbeitsplatz erscheint, fordert ihn der Vorarbeiter auf, in neun Metern Höhe mit dem Schweißbrenner ein Metallgerüst zu zerlegen. Das ist eine völlig andere und überaus gefährliche Aufgabe, die normalerweise ein erfahrener Schweißer oder Schlosser durchführt, der imstande ist, selbst Sorge für seine Sicherheit zu tragen.

Gaetano sträubt sich, versucht, von dem Vertrag zurückzutreten. Der Vorarbeiter bleibt bei seiner Aufforderung, wird wütend: Der Auftraggeber sei unter Druck, die Zeit dränge, die künftigen Geschäfte des Zulieferers wären womöglich gefährdet … Also gibt Gaetano nach. Er klettert hoch, ausgestattet mit einem Schweißbrenner, mit dem er zum ersten Mal in seinem Leben hantiert. Er zerschneidet das Blech, aber das Blech zerschneidet seinen Haltegurt. Gaetano stürzt hinab. Er ist auf der Stelle tot. Da er Zeitarbeiter war, taucht sein Unfall nicht in der Sozialbilanz der Zweigniederlassung auf. Nicht das Stahlunternehmen wird strafrechtlich belangt, sondern nur die Zulieferfirma und der Vorarbeiter. Das ist derart praktisch für die Auftraggeber, dass daraus bereits ein Verkaufsargument wurde: „Unternehmen … vergebt euer Problem an Subunternehmen … Dann habt ihr weniger Arbeitsunfälle.“

Das Beispiel spricht für sich. Würden wir von Gaetano sagen, dass er ein guter Bürger war? Dass er Recht und Ordnung respektiert hat? Anders als der junge Mann aus der Sozialsiedlung, der sich ebenfalls an seinem Stahlarbeiter-Vater misst, es jedoch „vorziehen würde“, im „Business“ und im „Dope“ den Beweis seines eigenen Wertes zu suchen? Wäre Gaetano vom Standpunkt der sozialen Ungerechtigkeit aus ein besserer Mensch? Oder vielleicht „unglücklicher“? War er wirklich nur Opfer eines Unglücks? Hätte der Unfall nicht verhindert werden können? Doch, das hätte er, wie die meisten Unfälle, von denen Thébaud-Mony spricht. Aber er musste geschehen, damit die Ungerechtigkeit nicht unsichtbar bleibt. Man kann kaum hoffen, „Missachtung“ zu bekämpfen, ohne die Frage der sozialen Ungerechtigkeit in den öffentlichen Raum zu stellen.

Im letzten Kapitel seines Buches zeigt Louis Uchitelle Wege auf, die, wenn sie denn beschritten würden, eine wirkliche demokratische Debatte und eine Protestbewegung gegen die „modernen Kündigungen“ bewirken könnten. Und Annie Thébaud-Mony berichtet von einigen bei Arbeitsunfällen Geschädigten, die sich mit Hilfe von lokalen, europäischen und internationalen Netzwerken Gehör verschaffen konnten. Erst wenn die Ungerechtigkeit aus der Unsichtbarkeit heraus ans Licht der allgemeinen Öffentlichkeit tritt, ist der amerikanische Vorstandsvorsitzende John Trani widerlegt, der bei General Electric gearbeitet und die Schule von Jack Welsh8 durchlaufen hat: Um Erfolg zu haben, müsse man, so Tranis Maxime, „die Realität betrachten, wie sie ist, ohne zu hoffen, dass sie sich verändert“.

Fußnoten: 1 Pascale Jamoulle, „Des hommes sur le fil. La construction de l’identité masculine en milieux précaires“, Paris (La Découverte) 2005. 2 Judith N. Shklar hat in „The Faces of Injustice“, New Haven/London (Yale UP) 1990, den Unterschied zwischen Unglück und Ungerechtigkeit analysiert. („Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl“, Berlin (Rotbuch) 1992). 3 Vgl. Axel Honneth, „Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie“ (2005) sowie „Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie“, 2007 (beide: Frankfurt am Main (Suhrkamp)). 4 Louis Uchitelle, „The Disposable American. Layoffs and Their Consequences“, New York (Knopf) 2006. 5 Die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in den USA betrug 1978 elf Jahre und liegt heute bei siebeneinhalb Jahren. In der gleichen Zeitspanne ist die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit von dreizehn auf zwanzig Wochen gestiegen. 6 Viele qualitative Untersuchungen belegen, wie verbreitet diese Erfahrung ist. Siehe beispielsweise Noëlle Burgi, „La Machine à exclure. Les faux-semblants du retour à l’emploi“, Paris (La Découverte) 2006, oder Stéphane Beaud und Michel Pialoux, „Violences urbaines, violence sociale. Genèse des nouvelles classes dangereuses“, Paris (Fayard) 2003. 7 Annie Thébaud-Mony, „Travailler peut nuire gravement à votre santé“, Paris (La Découverte) 2007. 8 Jack Welsh war von 1981 bis 2001 Manager bei General Electric und hat in der Zeit zehntausende Stellen abgebaut.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Noëlle Burgi ist Wissenschaftlerin am Centre de Recherches Politiques de la Sorbonne (CRPS) und Autorin von „La Machine à exclure. Les faux-semblants du retour à l’emploi“, Paris (La Découverte) 2006.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Noëlle Burgi