12.10.2007

Sogenannte Problemviertel

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Sogenannte Problemviertel

In den französischen Banlieues wurde die Armut entpolitisiert von Sylvie Tissot

Seit über zwanzig Jahren erreichen uns die dramatischen, manchmal reißerischen Berichte aus den „Ghetto-Siedlungen“, „Problemvierteln“ und „Ausländerbezirken“.1 Grund genug, sich Sorgen zu machen – und mehr als das. Schließlich bezeichnen diese räumlichen Begriffe, die in Frankreich in den Jahren 1985 bis 1995 aufkamen, mehr als ein, wenn auch verzerrtes „Abbild“ der sozialen Wirklichkeit. Es geht hier nicht nur um Unwahrheiten und Übertreibungen, sondern auch und vor allem um eine bestimmte Sichtweise auf die Armut in den Städten. Typisch dafür ist, dass die Ursprünge von sozialen, wirtschaftlichen oder gar rassistischen Unterdrückungsmechanismen aus dem Kontext der offensichtlichen „ernsten Probleme“ ausgeblendet werden.

Damit man verstehen kann, wie es dazu überhaupt kommen konnte, muss man zunächst einmal die Perspektive wechseln und den Blick nicht nur auf die „Problemviertel“ und ihre Bewohner richten. Die Frage ist: Wie wurde damals, als der Staat die sogenannte soziale Stadtentwicklung durchsetzte, das Problem solcher Viertel eigentlich definiert? Die entsprechenden Programme führten zur Erneuerung zahlreicher Städte, wobei auch Experten für soziale Entwicklung ihre Begleitprogramme vor Ort anbieten konnten. Aber die finanziellen Aufwendungen bewirkten zu keiner Zeit eine soziale und räumliche Umverteilung der Einkommen. Vielfach wurden „Marshallpläne für die Vorstädte“ gefordert, doch es geschah wenig. Hingegen gab es erhebliche Einschnitte bei der kommunalen Versorgung, vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Bei der sozialen Stadtentwicklung ging es nicht nur um die Bebauung. Die entscheidende Parole für die Erneuerung der heruntergekommenen Viertel lautete: Bürgerbeteiligung. Es gab Vorbereitungstreffen mit den Betroffenen und gemeinsame Ausflüge, Bürgerkomitees durften ihre Vorschläge einbringen. Gefördert von Aktivisten vor Ort, entwickelte sich die Zusammenarbeit durchaus zufriedenstellend.

Solche Verfahren sind unverzichtbar – aber indem sich die Aktivität auf diesen Bereich konzentrierte, traten andere, vor allem wirtschaftliche Aspekte in den Hintergrund. Denn das Hauptproblem der Bewohner dieser Viertel, überwiegend Arbeiter und/oder Migranten, war die Arbeitslosigkeit. Der Staat kümmerte sich nun um die „Viertel“, aber um den Preis einer neuen Sicht auf ihre „Probleme“. Dabei spielten räumliche Muster zur theoretischen Erfassung der Armut eine zweifelhafte Rolle: Die Bewohner wurden nicht mehr nach ihrem sozialen Status, sondern nach ihrer nationalen, kulturellen oder ethnischen Herkunft bewertet. Diese Ethnisierung der sozialen Frage (die natürlich schon lange vorher existierte) hatte zur Folge, dass allein die sogenannte ethnische Herkunft als Problem, wenn nicht als Bedrohung für die Gesellschaft erschien – und nicht etwa auch der Rassismus, unter dem die Menschen zu leiden hatten.

„Bürgersinn“, „Bürgerbeteiligung“, „Projekte“, „Nähe“ und „Nachbarschaft“, „Durchlässigkeit“ und „Abstimmung“ zwischen „Partnern“ – alle diese programmatischen Begriffe sind längst so vertraut, dass sie selbstverständlich wirken. Sie zu hinterfragen, fällt auch darum schwer, weil sie inzwischen geradezu fortschrittlich erscheinen. Heute dominieren die politische Debatte Begriffe wie „Unsicherheit“ oder „rechtsfreie Räume“. Doch die Bürgerbeteiligung, gedacht als Allheilmittel gegen das „Übel der Vorstädte“, war von Anfang an sehr eng gefasst. Gestützt auf die Vorstellung, ein Wohnviertel müsse ein neutraler und friedenstiftender Ort sein, wurden die sozialen Probleme psychologisiert und entpolitisiert. Individueller Einsatz und bescheidene Lösungen galten als wünschenswert, Konfliktbereitschaft und allzu „politische“ Forderungen entsprechend als unerwünscht.

So finden sich zum Beispiel in den zahlreichen Büchern für die neuen Experten der sozialen Entwicklung auch Anleitungen zur „Umwandlung von Forderungen in Vorschläge“ und von Anträgen auf „Unterstützung in Entwicklungsprojekte“. Vor allem aber galt die Parole: Die Einwohner müssen lernen, sich selbst zu helfen, statt sich helfen zu lassen. So leistete die Politik der sozialen Stadtentwicklung ihren Beitrag zur Neudefinition von sozialen Maßnahmen als Appell an die Einzelnen und ihre „Selbstverantwortung“. Die Einwohner sollten den notwendigen Wandel „selbst angehen“.

Die Forderung nach mehr Flexibilität in der gesetzlichen Arbeitsmarktpolitik nach 1997 und die Bevorzugung von hochqualifizierten Arbeitnehmern in der Einwanderungspolitik unter der Regierung Jospin hatte auch etwas mit der in den Jahren zuvor etablierten Sichtweise auf die Probleme in den Stadtvierteln zu tun. Armut galt mittlerweile als vor allem lokales und psychologisches Problem – die Betroffenen sollten sich eben bessern, statt die Schuld auf soziale Zwänge zu schieben.

Die Geschichte dieser Entpolitisierung besitzt einige überraschende Aspekte. Tatsächlich liegen ihre Anfänge in einer starken Protestbewegung. In den 1960er-Jahren hatten Wissenschaftler, Stadtplaner, Sozialarbeiter und Militante gegen die autoritären und technokratischen Planungseingriffe des Staates Front gemacht: Sie setzten auf „Nachbarschaftlichkeit“ und wollten unter Einbeziehung örtlicher Gemeinschaften und in besserer Abstimmung mit den Bewohnern eine umfassende Erneuerung der Städte bewirken. In einigen europäischen Ländern, aber auch in den USA, entstand eine starke Bewegung gegen die brutale Umgestaltung der Innenstädte und gegen eine Urbanisierung durch Hochhäuser, Stadtautobahnen und große Wohnblocks. In den 1970er-Jahren wurden die seit Kriegsende geltenden Grundsätze der Wohnungsbaupolitik – zum Beispiel Planung durch den Staat – noch einmal in Frage gestellt – wenn auch aus gänzlich anderen ideologischen Motiven: Es war der Beginn der wirtschaftsliberalen Ära. Die folgende Krise der Stadtplanung führte dann zu neuen Formen des Nachdenkens und des Umgangs mit den städtischen Problemen.

So ist die „soziale Stadtentwicklung“ ein Resultat von Reformbewegungen. Aber ihre konkrete Ausformung erklärt sich erst durch den Kontext, in dem sie institutionalisiert wurde. In den 1980er-Jahren, als in Frankreich die damals regierende Linke zu einer rigiden Sparpolitik überging, gab es in den unteren Rängen der Verwaltung nicht wenige Förderer der sozialen Entwicklung in den Stadtvierteln – die meisten hatten lange in Bürgerinitiativen oder halböffentlichen Institutionen wie Stadtteilgruppen gearbeitet, viele kamen auch aus der 1968er Protestbewegung. Für sie schien die „soziale Stadtentwicklung“, die alle Erfahrungen aus den Vierteln des sozialen Wohnungsbaus verarbeiten sollte, nicht nur die Chance für eine berufliche Profilierung zu bieten, sondern auch die für ein neues politisches Engagement. Allerdings mussten sie sich auf die knapperen Etats und die neuen Vorstellungen von sozialen Maßnahmen einstellen: Es ging nicht mehr um Umverteilung, sondern darum, den Ärmsten ein gewisses soziales Minimum vor Ort zu verschaffen. An die Stelle von Strategien zur Mobilisierung der Bewohner trat der effektive und professionelle staatliche Eingriff samt statistischer Erfassung, und es entstand eine neue Branche – die soziale Stadtentwicklung.

Die Vertreter dieser Profession passten sich den politischen Gegebenheiten an, aber einigen war das nicht genug. Sie hätten lieber den Staat saniert als nur die Armenviertel, und so entdeckten sie das Thema „Modernisierung der öffentlichen Dienstleistungen“. Diese Leistungen wurden allerdings, gemäß den bereits geltenden wirtschaftsliberalen Prinzipien, häufig einfach nur abgebaut.2 Und so war zu erleben, wie alte Kämpfer einerseits den Bewohnern von Problemvierteln unterstellten, sich in der sozialen Hängematte auszuruhen, und andererseits den Staat beschuldigten, diese Haltung zu fördern und unflexibel und unangemessen zu reagieren.

In den Ministerien und Universitäten entstanden viele Studien, die nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Probleme behandelten. So kam unter anderen die Idee auf, mit den Schwierigkeiten in den problematischen Vorstädten käme die „soziale Frage“ wieder auf die Tagesordnung. Nach dieser Lesart, die von den Medien und auch von Vertretern der sozialen Stadtentwicklung gern aufgegriffen wurde, war die Konfrontation von „Ausgeschlossenen“ und „Integrierten“ wesentlicher Teil des vor allem städtischen Problems. Einige Arbeiten leiteten aus der Vorstellung der „sozialen Marginalisierung“ direkt die Auffassung ab, das Problem der Beschäftigung sei hier nicht mehr relevant, und die Vorstädte müssten als „abgetrennte“ oder „aufgegebene“ Gebiete gesehen werden. Es gehe darum, diesen „vergessenen“ – wohlgemerkt nicht etwa „ausgebeuteten“ oder „unterdrückten“ – Bevölkerungsgruppen Hilfe zu bieten.3

Ein weiterer entscheidender Faktor war die Haltung der Stadtverwaltungen, vor allem in Gemeinden mit linker Mehrheit, die besonders viele Viertel des sozialen Wohnungsbaus aufwiesen. Die soziale Stadtentwicklung erhielt viel Lob und galt Anfang der 1990er-Jahre als neuer Ansatz zur sozialen Integration der Jugendlichen in den Armenvierteln – und damit als Schutz gegen „Aufstände“. Vor allem die Idee von der „Demokratie vor Ort“ schien ein Mittel zu sein gegen die wachsende Entfremdung zwischen der politischen Führungsschicht und den Bürgern, im Besonderen den Armen.4

Die räumliche Verortung sozialer Probleme verstellt den Blick auf die Einflüsse, die aus ganz anderen Welten auf die Armenviertel einwirken – aus den „guten Vierteln“ etwa, über deren Abgeschlossenheit kaum berichtet wird, oder aus der Arbeitswelt, deren Wechselfälle das Leben von Arbeitnehmern bestimmen.5

Doch man kann die Bedeutung der symbolischen Auseinandersetzungen gar nicht genug betonen, die in dieser Frage seit Jahrzehnten geführt werden – in den Ministerien, unter den Experten, in den Medien und sogar unter Intellektuellen. Ihr vorläufiges Resultat: Der Einfluss wirtschaftspolitischer Entscheidungen wird heruntergespielt, der Auftrag des Sozialstaats, die Schwachen zu schützen und zu fördern, ist in Frage gestellt, und die zunehmende Duldung von Diskriminierung findet keine Erwähnung mehr.

Fußnoten: 1 Siehe dazu: Loïc Wacquant, „Parias urbains, Ghetto, Banlieues, Etat“, Paris (La Découverte) 2006. 2 Siehe Yasmine Siblot, „Faire valoir ses droits au quotidien: Les services publiques dans les quartiers populaires“, Paris (Presses de la Fondation nationale des sciences politiques) 2006. 3 Siehe: François Dubet, Didier Lapeyronnie, „Les quartiers d’exil“, Paris (Seuil) 1992. 4 Siehe: Michel Koebel, „Le Pouvoir local ou la Démocratie improbable“, Broissieux (Editions du Croquant) 2006. 5 Siehe: Michel Pinçon, Monique Pinçon-Charlot, „Grandes fortunes: dynasties familiales et formes de richesse en France“, Paris (Payot) 2006; siehe auch: Stéphane Neaud, Michel Pialoux, „Retour sur la condition ouvrière: enquête aux usines Peugeot de Souchaux“, Paris (Fayard) 2005.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Sylvie Tissot ist Dozentin für Sozialwissenschaften an der Marc-Bloch-Universität (Strasbourg); Verfasserin von „L’Etat et les quartiers. Genèse d’une catégorie d’action publique“, Paris (Seuil) 2007.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Sylvie Tissot