12.10.2007

Lizenz zum Foltern im Dienst der USA

zurück

Lizenz zum Foltern im Dienst der USA

Seit Jahren fliegt die CIA mutmaßliche Terroristen in Länder, deren Verhörmethoden berüchtigt sind. Als die Praxis bekannt wurde, gab es weltweit Proteste. Doch die „renditions“ gehen weiter, nur besser getarnt. Zum Beispiel am Horn von Afrika von Stephen Grey

Reza Afsherzadegan spähte in den Himmel. Er sah die amerikanischen Flugzeuge, die Jagd auf mutmaßliche Al-Qaida-Leute machten. Zusammen mit anderen Flüchtlingen war Reza mit Booten an der Südküste Somalias abgesetzt worden. Jetzt warteten sie auf einen einheimischen Führer, der sie über die Grenze nach Kenia bringen sollte.

Das war im Januar dieses Jahres. Kurz zuvor hatten äthiopische Armeeeinheiten die islamistische Regierung in Mogadischu gestürzt, die nur wenige Monate an der Macht gewesen war. Sogleich hatten die USA die Region zur neuen Front im globalen Krieg gegen den Terrorismus erklärt. Sie waren überzeugt, dass die islamistische Regierung gesuchte Terroristen beherbergt und neue Dschihadisten ausgebildet hatte, die nun aus Somalia fliehen wollten. Sie wollte man jetzt mit Hilfe verbündeter Nachbarländer abfangen.

Reza stammt aus London. Der 25-jährige Informatikstudent gibt an, er sei erst ein paar Wochen zuvor nach Mogadischu gekommen, um Jugendliche an Computern auszubilden. Der Machtwechsel bedeutete für ihn, dass er im afrikanischen Busch saß und um sein Leben fürchtete. Über ihm kreisten Hubschrauber und in großer Höhe die Spionageflugzeuge. „Wir verkrochen uns immer wieder unter Büschen“, berichtet Reza. „Wir dachten: Die suchen uns, wir werden gejagt.“

Wenige Tage später geriet Reza tatsächlich in die Unterwelt der geheimen Gefängnisse und Verhöre. Dort erlebte er vier Wochen lang, was es heißt, als Verdächtiger im „Krieg gegen den Terror“ zu gelten. Am Ende kam er wieder frei, doch zuvor hatte er erfahren, wie das System der sogenannten renditions funktioniert, bei dem Verdächtige einfach gefasst und ohne juristisches Verfahren in ein anderes Land verschleppt werden.

Eines Morgens wurde Reza von Gewehrfeuer und Explosionen geweckt. Von irgendwo her rückten offenbar Soldaten an. Die Gruppe stob auseinander. Die meisten rannten in Todesangst in Richtung der kenianischen Grenze. Reza blieb zunächst allein zurück, lief dann aber hinter den anderen her: „Ich ließ meine Sachen zurück, meinen Pass, meine Essensrationen, alles. Ich rannte und rannte, aber ich hörte die Schüsse immer näher kommen.“

Als die Gefahr vorüber war, fand sich Reza irgendwo im Busch wieder, zusammen mit dreißig anderen Flüchtlingen, von denen er die meisten nicht kannte. Die Gruppe blieb zusammen und marschierte los. Die einzige Orientierung bot die Sonne. „Wir hatten nur zwei Dosen Thunfisch, eine Packung Zucker und eine Packung Kekse“, erzählte mir Reza in einem Interview für den britischen Channel 4.1 Sie tranken Wasser aus Regenpfützen, irgendwann fingen sie mit Hilfe einer Falle ein kleines Reh, das sie fast roh verschlangen.

Am 13. Tag waren die meisten dem Zusammenbruch nahe. Einige überlegten schon, ob man die Schwächsten zurücklassen müsse. Während sie in der Mittagshitze in einem Wäldchen Rast machten, hörten sie plötzlich einen Hahn krähen. Irgendwo hinter den Bäumen musste ein Dorf liegen.

In dem Dorf wurden sie zunächst gut aufgenommen. Man brachte sie zu einer Moschee und gab ihnen Honig. Dann aber tauchten kenianische Soldaten auf. Nachdem man sie festgenommen hatte, wurden sie getreten und herumgestoßen und angeschrien: „Ihr seid von al-Qaida! Endlich haben wir euch geschnappt.“

Man brachte sie in die nächstgelegene Stadt Kiunga, wo sie an Offiziere der kenianischen Terrorbekämpfungstruppe übergeben wurden. Dann flog man sie nach Nairobi. Reza fand sich in einer überfüllten Gemeinschaftszelle wieder, mit einem Eimer als Toilette. Man befragte ihn immer wieder, ob er in Somalia in einem Terroristencamp gewesen war: „Sie wollten wissen, ob ich mit Waffen zu tun oder eine militärische Ausbildung gehabt hatte. Ich sagte ihnen, ich hätte nie irgendwelche Waffen gesehen. Sie starrten mich nur an und sagten: Du lügst. Niemand glaubte mir meine Geschichte.“

Dann entdeckte Reza, dass unter den Häftlingen auch Frauen und Kinder waren: „In einer Zelle gegenüber sah ich eine Frau mit vielleicht fünf Jahre alten Kindern, das war unglaublich. Unglaublich war aber auch, wie sie die behandelt haben.“

Obwohl die Kenianer seine Forderung, Kontakt mit der britischen Botschaft aufzunehmen, beharrlich ablehnten, brachte man Reza und die anderen schließlich in ein Hotel, wo sie von Offizieren des britischen Auslandsgeheimdienstes MI5 verhört wurden. Ähnlich erging es den anderen ausländischen Gefangenen. Man verwehrte ihnen jeden Kontakt zu einem Anwalt oder zu ihren Botschaften, wie es die Wiener Konvention vorschreibt. Stattdessen wurden sie vom Geheimdienst ihres jeweiligen Landes verhört.

Nachdem die Kenianer Reza und drei andere britische Staatsbürger, die vor dem Krieg in Somalia geflohen waren, einen Monat lang in Nairobi festgehalten hatten, wuchs seine Hoffnung, dass man ihn direkt nach London schicken würde. Aber dann sah er, wie auf Autos und Lkws weitere Gefangene herangeschafft wurden. „Als ich kenianische Gefangene sah, war mir klar, dass es nicht nach London gehen würde.“

Mit gefesselten Händen und verbundenen Augen verfrachtete man sie in ein Flugzeug, das sie nach Somalia zurückbrachte. In der Stadt Baidoa wurden sie an äthiopische Soldaten übergeben. „Ich fragte mich: Können sie uns einfach nach Somalia schicken? Der MI5, die Briten, die wissen doch von unserer Existenz. Aber sie schicken uns nach Somalia! Dürfen die so was?“

Sie landeten in einer dunklen Zelle im Keller. „Es wimmelte von Kakerlaken“, berichtet Reza. „Es kam kaum Licht herein. Nach Sonnenuntergang war es stockfinster. Man hatte ständig das Gefühl, zu ersticken.“

Reza hatte Glück. Nach zwei Tagen wurden er und die anderen Briten von einem Konsularbeamten in Somalia herausgeholt. Aber bevor man sie nach Hause flog, waren sie Zeugen einer unglaublichen Operation geworden.

Mehr als achtzig Menschen wurden gefesselt und mit verbundenen Augen von Kenia nach Somalia und dann nach Äthiopien verschleppt, als „gefährliche internationale Terroristen“, wie die kenianische und die äthiopische Regierung behaupteten. Zu der Gruppe gehörten mindestens elf Frauen, von denen fünf hochschwanger waren, und elf kleine Kinder, darunter ein Baby von sieben Monaten.

Obwohl diese Menschen wochenlang in drei verschiedenen Ländern inhaftiert waren, ohne dass man jemanden über ihren Verbleib informiert hätte, wurden die meisten ohne Anklageerhebung entlassen. Mindestens vier der Frauen brachten im Gefängnis ein Kind zur Welt.

Als ich zum ersten Mal von den abgefangenen Flüchtlingen aus Somalia hörte, war noch völlig unklar, wie ihre Geschichte geendet hatte. Die meisten von ihnen waren seit ihrer Festnahme im Januar an der kenianischen Grenze wie vom Erdboden verschluckt. Zwar gab es Gerüchte über US-Spezialeinheiten, die in der Region operierten, und über Verhöre durch FBI-Experten in Nairobi, aber von „renditions“ hatte niemand etwas gehört.

Nun lief diese ganze Aktion zwar unter strikter Geheimhaltung, aber das will in Afrika nicht viel heißen. Zum Glück gelang es einigen Gefangenen, ein Mobiltelefon ihrer Bewacher zu benutzen. Einer der britischen Staatsbürger konnte zwei Menschenrechtsgruppen in London erreichen. Auf diesem Wege erfuhren die Rechercheure von Reprieve und Cageprisoners von einer Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die im Polizeigefängnis von Nairobi als geheime Gefangene gehalten wurden. Vom Reprieve-Büro aus versuchte ich, die Festgenommenen in ihren Zellen anzurufen. Aber der Kontakt war wieder abgebrochen.

Dann begann in Nairobi die Organisation Muslim Human Rights Forum (MHRF) Proteste zu organisieren und die Behörden nach dem Schicksal der Häftlinge zu fragen. Am Ende konnte sie sich auf juristischem Wege Kopien der Flugdokumente verschaffen, die den Rücktransport von mehr als 90 Gefangenen von Kenia in das somalische Kriegsgebiet belegten.2 Wie mir der MHRF-Vorsitzende Al-Amin Kimathi erzählte, ergab sich aus diesen offiziellen Listen, wie viele Frauen, Kinder und Babys sich an Bord befunden hatten. Und jetzt wurde auch klar, dass es sich nicht etwa um mutmaßliche Terroristen handelte, sondern um die Familienangehörigen von gesuchten Terroristen.

Als Al-Amin mir im MHFR-Büro in Nairobi die Flugdokumente zeigte, deutete er auf die Fotos von drei Kindern und einer Frau: Luqmaan (15 Jahre), Asma (13), Sumaiya (4) und ihre Mutter Halima. Dies war die Familie von Fasul Abdullah Mohammed, der als einer der Planer der Bombenanschläge von 1998 auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania gilt. Angeblich war er in Somalia untergetaucht, und die US-Dienste waren seit langem hinter ihm her. Laut Al-Amin befanden sich die vier nur deshalb in diesem Flugzeug, weil die Behörden es nicht geschafft haben, ihren Mann zu schnappen: „Man glaubt, die Frau könnte die Verfolger auf seine Spur bringen, und die Festnahme der Kinder könnte ihn aus seinem Versteck herauslocken. Eine groteske Praxis: Diese Kinder sind schlicht und einfach Geiseln.“

Das Muslim Human Rights Forum hat Kontakt mit den Familien der Festgenommenen aufgenommen, zu denen auch kenianische Staatsbürger gehörten, die man von Nairobi nach Somalia zurückgebracht hatte. Und bald sollte man die meisten oder gar alle dieser Gefangenen von Somalia nach Äthiopien weiterschicken. Es war eine koordinierte Rendition-Operation: Die Gefangenen wurden nach Addis Abeba transportiert, um dort verhört zu werden – und zwar durch ein Team von US-Verhörspezialisten.

Während meiner Recherchen in Nairobi erzählte mir Al-Amin, eine der nach Äthiopien verbrachten Frauen sei zu ihrer Familie nach Tansania zurückgeschickt worden. Also reiste ich mit ihm nach Moshi am Fuß des Kilimandscharo.

Fatma Chande ist 25 Jahre alt. Sie berichtet, wie sie nach ihrer Ankunft in Äthiopien von US-Agenten verhört wurde, wie auch die meisten anderen der Gruppe. Dabei sagte man ihnen ganz offen, dass die ganze Verhaftungs- und Überstellungsaktion von den Amerikanern inszeniert worden sei. Aber schon die Kenianer hatten ihr gesagt, „dass es die Amerikaner sind, die Jagd auf meinem Mann machten. Die Polizei versuchte mich zu der Aussage zwingen, dass mein Mann ein Al-Qaida-Mitglied ist. Ich sagte ihnen, er sei Geschäftsmann und habe nichts mit al-Qaida zu tun. Sie schlugen ständig mit den Fäusten auf den Tisch. Sie drohten, mich zu strangulieren, wenn ich nicht die Wahrheit sage.“

Laut Fatma ist es beim Transport von Kenia nach Äthiopien den Kindern am schlimmsten ergangen: „Als wir auf dem Flughafen ankamen, fesselte man uns die Hände und zog uns die Kopftücher über die Augen. Die Männern bekamen Kapuzen auf. Die Kinder schrien die ganze Zeit, dass sie nach Hause wollen.“

Ein Premier als Komplize mit reinem Gewissen

In Äthiopien nahmen FBI-Agenten Fatma ihre Fingerabdrücke ab, dazu musste sie eine DNA-Probe abgeben. Von anderen Frauen erfuhr sie, dass alle über ihre Männer ausgequetscht wurden: „Die Amerikaner wollten wissen, was ihre Männer machten und welche Verbindungen sie zu al-Qaida hatten.“ Mindestens eine Frau kam im Gefängnis in die Wehen, erzählte Fatma, sie hat gesehen, wie man sie mit dem Kind in die Zelle zurückbrachte.

In Äthiopien gab die Regierung zu, dass sie 41 „mutmaßliche internationale Terroristen“ in Gewahrsam hatte. Über den Verbleib der meisten von ihnen, darunter elf Kindern, könne man allerdings nichts sagen, außer dass sie nach Somalia zurücktransportiert wurden. Die Regierung räumte ein, dass sie weder dem Roten Kreuz noch Anwälten erlaubt hatte, Kontakt mit diesen Menschen aufzunehmen.

Um herauszufinden, was damals geschehen ist, fuhr ich nach Addis Abeba. Dort bekam ich ein Interview mit Ministerpräsident Mele Zenawi, der seit 1991 als Alleinherrscher regiert. Zenawi gab unverblümt zu, dass man Frauen und Kinder ins Gefängnis gesteckt hatte: „Sie müssen verstehen, um welchen Feind es sich handelt, den wir in Mogadischu und in Somalia bekämpfen. Da haben wir internationale Terroristen, die in Somalia mit ihren Frauen und Kindern Unterschlupf finden. Man findet die Frau, aber nicht den Ehemann, und die Frau macht sich vom Kriegsschauplatz davon. Man weiß nicht, ob die Frau nur die Ehefrau ist oder eine Genossin und Kollegin im Handwerk des Terrorismus. Man findet sie auf der Flucht. Man nimmt sie fest.“

Die Regierung gibt an, inzwischen seien die meisten der Gefangenen entlassen, einschließlich aller Frauen und Kinder. Aber viele von ihnen werden nach wie vor vermisst. Zenawi bestätigt die enge Kooperation Äthiopiens mit den USA, bestreitet aber, dass die Operation von den Amerikanern koordiniert wurde. Jeder Geheimdienst, der Informationen über die Gefangenen hatte, durfte sie verhören, behauptete Zenawi.

Aber nachdem die Gefangenen freigelassen worden waren, ergab sich aus deren Aussagen eindeutig, dass die Verhöre in Addis Abeba von den Amerikanern geführt worden waren. Jeden Tag wurden Gefangene in eine bestimmte Villa gebracht. Einige von ihnen erklärten später im äthiopischen Fernsehen, dass man sie nicht misshandelt habe. Aber wie wir heute wissen, hatte man ihnen zugesichert, man werde sie sofort nach ihrem Fernsehauftritt freilassen. Stattdessen wurden sie wieder in Gefängnis gebracht und weiteren Verhören unterzogen.

Eine der Männer, die im Fernsehen ihre gute Behandlung beteuert hatten, war ein Tunesier namens Adnan. Er schickte mir aus Kairo eine Videokassette, auf der er auch einen US-Amerikaner beschrieb, der die Gefangenen regelmäßig geschlagen hat. Man habe ihm gedroht, dass man ihn nach Tunesien zurückschicken würde, und dort werde er gefoltert: „Sie versuchten mich zu zwingen, bestimmte Dinge zu gestehen. Als ich mich weigerte, wurde ich in einen anderen Raum gebracht. Dort wurden mir die Hände hinter dem Rücken gefesselt und die Augen verbunden. So musste ich sechs Stunden lang stehen, ohne Schuhe. Einer von ihnen sagte: Du bist ein Verbrecher, ein Mörder. Man wird dich verurteilen. Und dann wird man dich hinrichten.“

Die Geschichte der Flüchtlinge aus Somalia führt exemplarisch vor Augen, mit welchen Methoden der Krieg gegen den Terror weiterbetrieben wird und wie die USA ihre Gefangenen behandeln – auch nach all den Skandalen um Abu Ghraib, um die Gefangenen von Guantanamo Bay und um das Programm der „extraordinary renditions“.

Aufgrund der Kritik gehen die USA die Sache nun anders an. Im Rahmen der neuen Politik, die man „host nation detention“ (Verwahrung bei Gastnationen) nennt, achtet man darauf, dass sich US-Amerikaner möglichst nicht mehr eigenhändig mit den Gefangenen befassen. Dann nämlich kann Washington – egal, was ihnen widerfährt – jede Verantwortung abstreiten.3

Doch es bleibt beim alten Prinzip: Viele Gefangene werden ohne jede legale Grundlage über Grenzen gebracht, um in anderen Ländern verhört zu werden, und zwar von US-Amerikanern. Diplomaten westlicher Länder in Nairobi haben mir bestätigt, dass die Abläufe genau koordiniert waren. Ein erfahrener Diplomat meinte: „Sie können davon ausgehen, dass die Amerikaner in allen Etappen involviert waren. Man schickt die Gefangenen nach Äthiopien; damit haben die Amerikaner einen geeigneten und geheimen Ort, wo sie ihre Verhörspezialisten hinschicken können.“ Zumindest gibt es heute auf europäischem Boden keine geheimen CIA-Gefängnisse mehr, und auch der europäische Luftraum wird bei Rendition-Flügen nicht mehr so großzügig in Anspruch genommen.

Und doch haben die „Überstellungen“ keineswegs aufgehört. Und das ist auch logisch, denn den USA passt es prinzipiell nicht ins Konzept, dass über die Schuld oder Unschuld mutmaßlicher Terroristen ein reguläres Gericht zu befinden hat. Also gibt es für sie keinen anderen Weg, als die Rendition-Politik fortzusetzen.

In der NBC-Sendung „Today Show“ antwortete Präsident Bush im vergangenen Jahr auf die ausländische Kritik. Dabei erklärte er vor allem an die Adresse der Europäer: „Ich muss noch einmal betonen: Für sie war der 11. September nur ein schlechter Tag; für uns war er ein Mentalitätswandel.“ Dieser Unterschied wird in Europa beharrlich übersehen. Die USA sehen sich nach wie vor im Krieg und entsprechend verhalten sie sich auch.4

An der texanischen St. Mary’s University in San Antonio gibt es ein „Center for Terrorism Law“. Sein Leiter Jeffrey Addicott erklärte mir in einem Interview, dass die Suche nach neuen Rechtsprinzipien in Washington nicht die höchste Priorität genießt: „Aus meiner Sicht steht Gerechtigkeit am Ende der Dringlichkeitsliste, so ist es in jedem Krieg. Da ist es nämlich das Wichtigste, den Feind zu vernichten; und das Zweitwichtigste, Informationen zu besorgen, um den Feind vollends auszuschalten. An dritter Stelle kommt dann das Anliegen, die Hauptschuldigen zur Verantwortung zu ziehen, und das betreibt man im Allgemeinen nach Einstellung der Feindseligkeiten.“

Addicott arbeitete früher als Rechtsberater der US-Spezialeinheiten und berät auch heute noch ab und zu das Pentagon. Er gibt zu, dass man in juristischer Hinsicht Fehler gemacht hat, aber man müsse eben Härte zeigen: „Diese Leute sind Mörder. Sie wollen uns töten, uns alle oder jedenfalls so viele, wie sie schaffen. Dies ist kein Schach. Es ist keine akademische Übung. Es ist die Realität.“

Beim Kampf gegen den Terrorismus mit militärischen Mitteln und nach dem Militärrecht stellt sich für die USA ein permanentes Problem: Viele ihrer Verbündeten und besonders die Europäer sind durch ihre Verfassungen oder ihr Grundgesetz darauf verpflichtet, die Aktionen der USA gemäß ihrem eigenen Rechtssystem zu beurteilen. So ist es zum Beispiel in Italien.

Nachdem die Untersuchungsrichter in Mailand die wichtigsten Fakten aufgedeckt haben, zeigt sich klar, dass die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi beim bekanntesten Rendition-Fall auf europäischem Boden, der Entführung des ägyptischen Predigers Abu Omar im Mai 2003, ihr Einverständnis gegeben hatte. Doch trotz der offiziellen Zustimmung können die italienischen Gerichte die ganze Sache als Rechtsverstoß verfolgen und alle Beteiligten als Kidnapper behandeln.

Der Prozess, der im Sommer dieses Jahres in Mailand eröffnet wurde, könnte die bislang detailliertesten Einblicke in die rechtliche Qualität des Rendition-Programms eröffnen. Doch die Verhandlungen können frühestens im Dezember weitergehen, denn zuvor muss das italienische Verfassungsgericht befinden, ob die Untersuchungsrichter bei ihrer Strafverfolgung italienische Staatsgeheimnisse verletzt haben.

Aber die Strafverfolger haben das Gericht aufgefordert, an den Grundprinzipien des Rechtsstaats in Europa festzuhalten: Keine gewählte Regierung dürfe das Recht haben, eine Handlung anzuordnen, die gegen die Rechtsordnung des Landes verstößt – und zwar ohne jede Rücksicht auf staatliche Interessen. Und die Verschleppung von Abu Omar sei deshalb rechtswidrig, weil an dessen Ergreifung keine italienische Justizinstanz beteiligt war.

Wie Staatsanwalt Amando Spataro erklärte, war dieses Vergehen besonders schwerwiegend, weil die Operation darauf gerichtet war, einen Verdächtigen außer Landes und an einen Ort zu bringen, wo er wahrscheinlich gefoltert wurde. Das aber ist nicht nur nach der UN-Antifolter-Konvention verboten, sondern auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Auch die USA haben die einschlägige UN-Konvention unterzeichnet. Das genannte Folterverbot ist deshalb seit jeher die Achillesferse des Rendition-Programms. In Ländern wie Ägypten, Syrien, Algerien und Marokko werden Terrorismusverdächtige so systematisch gefoltert, dass die Annahme, ein überstellter und als Terrorist bezeichneter Häftling werde in diesen Ländern nicht gefoltert, völlig abwegig ist.

Auch die CIA weiß: Bei Überstellung droht Folter

In den Interviews, die ich für mein Buch zu diesem Thema gemacht hatte5 , versicherten mir alle befragten US-Diplomaten, CIA-Vertreter und Mitarbeiter des Weißen Hauses, die Zusicherungen, nicht zu foltern, seien nicht ernst zu nehmen. Dieses Jahr bestätigte mir ein weiterer hoher CIA-Beamter, was ich immer vermutet hatte: Nur wenige CIA-Leute glauben, dass „überstellte“ Gefangene anständig behandelt werden. Und die betreffenden Zusicherungen seien eine Schimäre, wenn sie von Ländern mit einer notorisch schlechten Menschenrechtsbilanz kommen.

So meint Tyler Drumheller, der bis 2005 die CIA-Operationen auf europäischen Boden geleitet hat: „Wenn man jemanden in einem anderen Land abliefert, kann man den Leuten dort nicht sagen, welche Behandlung man von ihnen erwartet.“ Wenn allen klar sei, wie das Land in der Vergangenheit mit Gefangenen umgegangen ist, dürfe man sich nichts vormachen: „Du kannst dann sagen, ich habe sie gebeten, es nicht zu tun, und sie sagen dir das auch zu, aber du musst dir ehrlicherweise sagen: Wir haben keinerlei Garantie, dass sie sich auch daran halten.“

Das alles sind theoretische Erwägungen, aber die Opfer des Rendition- Programms bleiben dabei weitgehend schemenhafte Figuren. Denn im Grunde haben wir es mit Schatten zu tun: mit Verschwundenen, über deren Schicksal man oft nur Mutmaßungen anstellen kann. Ihre Verbrechen werden mitunter ausführlich geschildert, sind aber nur selten wirklich belegt. Sie bleiben Menschen ohne eigene Stimme. Und wenn sie sprechen, hören wir nur die von offizieller Seite publizierten Geständnisse, denen wir nicht trauen können.

Am 11. Februar dieses Jahres wurde Abu Omar endlich entlassen. Aber man warnte ihn, dass man ihn wieder einbuchten werde, falls er je etwas über seine Behandlung sagen würde. Als ich erfuhr, dass Abu Omar bereit war, mit mir über seine Entführung und Inhaftierung zu sprechen, flog ich nach Ägypten. In seiner kleinen Wohnung in Alexandria begann er zu erzählen: „Ich war einfach aus der Geschichte verschwunden. Mein Anwalt suchte in ganz Ägypten, doch in keinem Gefängnis fand er auch nur eine Spur von mir. Es gab Zeugen, die gesehen hatten, wie ich gekidnappt wurde, aber niemand wusste, wohin man mich gebracht hatte.“

Abu Omar sprach stundenlang, während meine Videokamera lief. Der 44-jährige Prediger strahlt die Stärke eines Mannes aus, der die tiefsten Erniedrigungen erfahren hat. Er hinkt noch immer, sein eines Ohr ist taub, im Gesicht hat er Folternarben.

Die Odyssee des Ägypters Abu Omar

Einiges von dem, was Abu Omar schildert, ist mir schon bekannt; aus den Notizen, die er aus dem Gefängnis geschmuggelt hat, und aus der Abschrift des von der italienischen Polizei mitgeschnittenen Telefongesprächs, in dem er nach seiner kurzzeitigen Entlassung seine Entführung geschildert hatte. Aber es ist eine sehr berührende Erfahrung, diese Geschichte jetzt unmittelbar aus dem Munde dieses Mannes zu hören. Wenn man einen solchen persönlichen Bericht hört, wird Folter etwas anderes, etwas sehr Konkretes.

Abu Omar heißt eigentlich Ussama Nasr Mustafa Hassan. Unter diesem Namen war er 1988 aus Ägypten geflohen. Damals galt er als Mitglied der Gama’a Islamija, einer militanten ägyptischen Organisation, die in den 1990er-Jahren in Ägypten mehrere terroristische Anschläge unternommen hat. Abu Omar hat die Anschuldigung immer bestritten. In Italien wurde ihm 2001 politisches Asyl gewährt.

Als er am 17. Februar 2003 in Mailand von CIA-Agenten in einen weißen Lieferwagen gestoßen wurde, war er gerade auf dem Weg zum Mittagsgebet in einer Moschee, deren Besucher als radikal galten und wo er einer von mehreren Predigern war. Seine Kidnapper fuhren ihn zuerst zur US-Luftwaffenbasis Aviano in der Nähe von Venedig. Die Brutalitäten begannen schon im Auto, erzählt Abu Omar. Er wurde gefesselt und geknebelt, und dann geschlagen. Irgendwann dachte er, er würde ersticken: „Einer von ihnen würgte mich, während seine Kollegen mich überall mit Schlägen traktierten. Dann schmissen sie mich auf den Boden des Lieferwagens. Ich blutete überall, im Gesicht, am Knie, an anderen Körperteilen. Schaum stand vor meinem Mund, mein Atem ging keuchend, als ginge es mit mir zu Ende.“

In Aviano begann seine surreale Reise nach Ägypten. Man flog ihn, ohne dass er es wusste, in einer Maschine der US-Air Force zu deren Basis Ramstein in Deutschland. Dort verlud man ihn in einen gemieteten Gulfstream-Jet, der dem Besitzer des Baseballteams Boston Red Sox gehört. Das Logo der Red Sox am Leitwerk des Flugzeugs hatten die CIA-Leute überklebt. Der Flug nach Ägypten dauerte insgesamt 13 Stunden. Die ganze Zeit über sprach niemand zu ihm ein einziges Wort. Das Einzige, was er hörte, war klassische Musik über die Kabinenlautsprecher.

Die CIA-Agenten hatten ihn mit dickem Klebeband zum Paket geschnürt – „wie eine Mumie“, sagt Abu Omar, und so fest, dass blutende Wunden zurückblieben, als man das Klebeband in Kairo wieder herunterriss. Im Flugzeug fühlte er sich so eingeschnürt und terrorisiert, dass er irgendwann zu spüren glaubte, „die Seele entweicht aus meinem Körper“. Als die CIA-Leute es merkten, setzten sie ihm schnell eine Sauerstoffmaske auf und flößten ihm Wasser ein. „Aber mein Mund, mein ganzes Gesicht war wie gelähmt – und als ich dann Dreck und Blut in meinem Mund spürte, musste ich mich erbrechen.“

In Kairo brachte man ihn in einen Raum und kündigte an, es würden jetzt zwei „Paschas“ kommen, also wichtige Leute. Tatsächlich war der eine der ägyptische Innenminister. In dem Gespräch wurde er gefragt: „Willst du unser Informant werden? Wenn du ja sagst, kannst du innerhalb 24 Stunden nach Italien zurück.“ Als er nein sagte und das begründen wollte, sagten sie nur „Halt den Mund“ und ließen ihn in seine Zelle zurückbringen.

Wie Abu Omar im Nachinein herausfand, war er während der ersten sieben Monaten im Gewahrsam des ägyptischen Nachrichtendienstes Egis, der als Auslandsgeheimdienst direkt mit der CIA zusammenarbeitet. In dieser Zeit wurde er, wie er aussagt, an einem geheimen Ort gefoltert: Man zog ihn nackt aus und schlug pausenlos auf ihn ein, mit bloßen Fäusten, mit Stöcken und mit Elektrokabeln. Oder man fesselte einen seiner Füße an seine Hände, sodass er stundenlang auf einem Fuß stehen musste, während man auf ihn einschlug.

Am 14. September 2003 wurde er an die ägyptische Geheimpolizei übergeben und in das berüchtigte Verhörzentrum im Kairoer Ortsteil Nasr City verbracht. Die sieben Monate in Nasr City waren noch schlimmer: „Sie schlugen mich auf die Genitalien, sie legten mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden und jemand stellte sich auf meine Schultern, und immer wieder Schläge auf sämtliche Körperteile.“

Die schlimmsten Foltern kamen am Schluss: „Einmal schmissen sie mich zu Boden und fesselten mir die Hände auf dem Rücken. Dann legte sich einer der Wärter auf meinen Rücken und machte Anstalten, mich zu vergewaltigen, und da hielt ich es nicht mehr aus und begann zu schreien und zu schreien, bis ich ohnmächtig wurde …“

Im April 2004 wurde er für 23 Tage entlassen, aber unter Auflagen, die von der ägyptischen Geheimpolizei die „sieben heiligen Verbote“ genannt wurden. Unter anderem war ihm verboten, mit den Medien zu sprechen, seine Frau und Familie in Italien anzurufen und Menschenrechtsgruppen zu kontaktieren. Als er sich nicht daran hielt und mit seiner Familie telefonierte, wurden die Anrufe abgehört. Aber auch die italienische Polizei hörte mit. Auf die Weise erfuhr sie, wie die Entführung Abu Omars gelaufen war. Daraufhin wurden die strafrechtlichen Ermittlungen eingeleitet, die zur Identifizierung der CIA-Kidnapper führten.

In Ägypten wurde Abu Omar nach dem Abhören erneut in Haft genommen. Bis Anfang 2007 blieb er im Gefängnis, ohne dass man Anklage erhoben hätte. Während seiner ganzen Leidenszeit hat man ihm nicht ein einziges Mal irgendein Vergehen angelastet. Und hier liegt der entscheidende Punkt. Die USA werden nicht müde, die „Renditions“ in andere Länder als „Überstellung zum Zweck der rechtlichen Verfolgung“ darzustellen. Tatsächlich aber wurde kaum einer der Entführten vor ein auch nur annähernd reguläres Gericht gestellt.

Selbst unter der ägyptischen Notstandsgesetzgebung werden Leute wie Abu Omar ohne jedes gerichtliche Urteil weggeschlossen. Er selbst hat mir das anschaulich vorgeführt. Er stand auf und holte seine weiße Anstaltskleidung mit dem großen Schriftzug „Verhör“. Die verurteilten Insassen von Nasr City, erklärte er, haben eine andere, nämlich blaue Kleidung. Als er entlassen wurde, trugen die meisten der zurückbleibenden Gefangenen, die die Amerikaner in Ägypten abgeliefert hatten, immer noch die weiße Anstaltskleidung.

Fußnoten: 1 „Kidnapped to Order“, 11. Juni 2007 im Channel 4. 2 Der Journalist, der am meisten zur Aufdeckung dieser Rendition-Operation beigetragen hat, war der AP-Korrespondent in Nairobi, Anthony Mitchell. Er kam am 5. Mai dieses Jahres bei einem tragischen Unfall in Kamerun ums Leben. 3 Der Fachausdruck ist: „host nation detention“. 4 Deshalb sind die neuen Enthüllungen kaum überraschend, dass das US-Justizministerium der CIA „rüde Verhörmethoden“ offiziell genehmigt hat. Siehe: New York Times, 5. Oktober 2007. 5 Stephen Grey, „Das Schattenreich der CIA. Amerikas schmutziger Krieg gegen den Terror“, München (DVA) 2006.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

Stephen Grey ist freier Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2007, von Stephen Grey