Rivalen des Terrors
Al-Qaida und IS streiten um den richtigen Weg des Dschihad von Julien Théron
Als sich Osama bin Laden und Abu Mussab al-Sarkawi 1989 in den afghanischen Bergen trafen, wo sie den sowjetischen Feind bekämpften, ahnten sie sicher nicht, welche Rolle sie einmal bei der Ausbreitung des radikalen Islamismus spielen würden. Der Saudi bin Laden sah seine Zukunft als Führer eines Weltislam. Der Jordanier al-Sarkawi wollte im Zentrum des Nahen Osten das haschemitische Königreich stürzen und den Salafismus durchsetzen. Diese Jahrtausendprojekte, vage und prophetisch das eine, präzise und konkret das andere, ließen die Zukunft der beiden Männer und die Entwicklung ihrer beiden Organisationen – al-Qaida und Islamischer Staat (IS) – bereits erahnen.
Nach der US-Invasion im Irak 2003 beschloss al-Sarkawi, die Aktivitäten seiner kleinen, aber bereits international besetzten Gruppe Dschamaat al-Tawhit wal-Dschihad1 von Jordanien in den Irak zu verlegen. Dabei wurde er von bin Laden unterstützt. Al-Sarkawi ergänzte die traditionellen Terrortechniken des kalten Kriegs (Mord, Attentate, Autobomben), auf die sich seine Gruppe zunächst spezialisiert hatte, um selbst gebastelte Sprengsätze, Selbstmordattentate und Enthauptungen. Innerhalb eines begrenzten Territoriums griff seine Organisation verschiedenste Ziele an: US-Truppen und deren Verbündete, die jordanische Botschaft, die irakische Regierung, Erdölquellen, irakische Polizisten, schiitische Moscheen, Politiker, irakisch-jordanische Grenzposten, Menschenansammlungen auf Märkten, UN-Stützpunkte und Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Zudem begann die Gruppe ausländische Geiseln zu nehmen.
Mit dem Treueschwur auf bin Laden benannte sich al-Sarkawis Gruppe 2004 in „al-Qaida im Irak“ (AQI) beziehungsweise „al-Qaida des Dschihad im Zweistromland“ um, wie das historische Mesopotamien auch genannt wurde und womit deutlich gemacht werden sollte, dass man sich über die aus der Kolonialzeit stammenden Grenzen hinwegsetzt. Zwei Jahre später wurde al-Sarkawi von den Amerikanern getötet; kurz darauf gab sich die zu diesem Zeitpunkt bereits stark geschwächte Gruppe den Namen „Islamischer Staat im Irak“ (ISI). An ihre Spitze trat ein gewisser Abu Bakr al-Baghdadi. Der ISI kooperierte mit der im Norden des Libanon aktiven Organisation Fatah al-Islam, deren Anführer 2002 gemeinsam mit al-Sarkawi die Ermordung des US-Diplomaten Laurence Foley in Amman geplant haben soll.2
Mit dem Krieg in Syrien veränderte sich die Situation von Grund auf. Der von allen Seiten bekämpfte syrische Präsident Baschar al-Assad ließ im Frühjahr 2011 Hunderte radikaler Islamisten frei, von denen sich viele den Dschihadisten anschlossen.3 Mit diesem Zustrom hatte der ISI nicht gerechnet. Er gründete mit der Al-Nusra-Front, wörtlich „Front des Siegs“, einen syrischen Ableger, der auch von al-Qaida anerkannt wurde. Diese Entwicklung bestärkte nicht zuletzt Assads Propaganda, der die Revolution als das Werk der Dschihadisten darstellte.
2013 verkündete al-Baghdadi die Fusion der Al-Nusra-Front mit dem ISI. Doch die Al-Nusra-Front, von al-Qaida unterstützt, stemmte sich gegen die Zusammenlegung und brach mit al-Baghdadis Organisation. Daraufhin versuchte sich der ISI neu zu positionieren, benannte sich zunächst in „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (Isis) um und später einfach in „Islamischer Staat“ (IS). Mit seinen grenzüberschreitenden Aktionen, extrem brutalen Methoden und dem Konzept der territorialen Eroberung vollendete der IS seine Wandlung. Nun fehlte nur noch ein Symbol, eine Identität, ein Ziel: das Kalifat, das selbst bin Laden nicht zu verkünden gewagt hatte.
Als al-Baghdadi begann, die dschihadistische Welt durcheinanderzuwirbeln, war bin Laden schon zwei Jahre tot – er wurde im Mai 2011 in seinem pakistanischen Versteck von US-Soldaten erschossen. Al-Baghdadi beförderte sich selbst vom Emir zum Kalifen und stellt sich seither als oberster Führer der islamischen Gemeinschaft und Nachfolger des Propheten Mohammed dar, als weltlicher wie geistlicher Machthaber.
Der IS und al-Qaida haben zwar viele Gemeinsamkeiten: die Brüderlichkeit der Kämpfer und der Aufruf zum weltweiten Dschihadismus, in dem die Umma, die muslimische Gemeinschaft, über jeder anderen sozialen Ordnung steht. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede zwischen den beiden Organisationen.
Al-Qaida ist aus der Verbrüderung zwischen den Gebirgsmudschaheddin vom Hindukusch (Afghanistan), Hadramaut (Jemen) und Adrar des Iforas (Mali) entstanden. Deren Anführer, die innerhalb des islamistischen Netzwerks wie spirituelle Persönlichkeiten verehrt werden, scharen eine gewisse Zahl von Anhängern um sich. Sie bilden geschlossene autonome Gruppen, die über verschlüsselte und symbolträchtige Botschaften miteinander kommunizieren.
Die vom IS geförderte Verbrüderung steht hingegen allen offen – nicht nur allen Muslimen, auch Nichtmuslimen, die sich allerdings bekehren lassen müssen, wenn sie nicht umgebracht werden wollen. Der IS bedient sich einer Kommunikationsstrategie, die sich an ein möglichst breites Publikum richtet und deren ziemlich professionell gemachte Filme in den sozialen Netzwerken verbreitet werden. Al-Qaida hingegen veröffentlicht eher selten Videos von schlechter Qualität, auf denen ihre Anführer in Höhlen zu sehen sind.
Die Form der Kommunikation hat nicht zuletzt mit der Struktur der beiden Organisationen zu tun. Das Al-Qaida-Netzwerk beruht auf der Notwendigkeit, dass im Fall der Vernichtung einer geheimen Zelle nicht die Gesamtbewegung gefährdet wird. Anführer wie Abdelmalek Drukdel (al-Qaida im islamischen Maghreb, AQMI), Abu Musab al-Sarkawi (AQI), Anwar al-Awlaki (al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, AQPA) oder die Führer verbündeter Bewegungen wie Mullah Omar (afghanische Taliban) und der Somalier Ahmed Abdi Godane (al-Shabaab) fungieren oder fungierten zu Lebzeiten als Regionalkommandeure von bin Laden und später von Aiman al-Sawahiri. Im Rahmen einer eschatologischen Projektion ging und geht es dabei um eine Nachahmung der Beziehung zwischen dem Propheten und seinen Gefährten.
Je radikaler, desto attraktiver
Auch der IS hat einen Anführer. Al-Baghdadi werden sogar hymnische, sich ständig wiederholende Lobgesänge gewidmet, die mit dem ewigen Allahu akbar („Gott ist groß“) enden. Dennoch hat die Verabsolutierung des Führers nicht so ein starkes Gewicht wie bei al-Qaida. Was der IS mit seiner Fahne, dem Symbol des erhobenen Zeigefingers und den Bildern anonymer Kämpfer in den Medien darstellen will, ist die Bewegung selbst.
Seltsamerweise hat also der IS letztendlich den Anspruch erfüllt, der im Namen al-Qaida („die Basis“) mitschwingt. Volksbasis, Gründungsbasis, territoriale und militärische Basis – all das ist der IS. Im Gegensatz zu den isolierten Anschlägen von al-Qaida in New York, Bombay, Madrid oder Bali will das Kalifat von dieser vielfältigen Basis aus seinen ambitionierten Plan verwirklichen: die Eroberung der Welt.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat der IS seine Strategie angepasst. Diese unterscheidet sich mittlerweile in vier grundlegenden Punkten von der al-Qaidas: Der erste besteht darin, dass sich der IS in einem Territorium dauerhaft festgesetzt hat, um die Bewegung geografisch zu stabilisieren. Zweitens ist der IS von der Destabilisierung zur Verwaltung dieses Territoriums übergegangen – laut UN-Angaben verdienen die Dschihadisten täglich 850 000 bis 1,7 Millionen Dollar mit dem Verkauf von Öl – während al-Qaida nach wie vor nur eine Destabilisierung und keine administrative Ordnung anstrebt. Drittens bemüht sich der IS um historisch bedeutsame Eroberungen und die Einnahme symbolträchtiger Orte wie Rakka, Tikrit oder Mossul, was darauf abzielt, die alte regionale Ordnung zu zerstören. Und schließlich kennzeichnet den IS ein räumlich begrenzter permanenter Kampf, der von terroristischen Aktionen bis zum Einsatz konventioneller Streitkräfte und Entführungen – 2014 nahm die IS-Miliz mit ihren Geiselnahmen zwischen 35 und 45 Millionen Dollar ein – unterschiedliche Mittel nutzt. Die Aktivitäten von al-Qaida bestehen dagegen aus gelegentlichen Schlägen geheimer Netzwerke gegen westliche Interessen oder Symbole in westlichen Ländern selbst oder bei deren Verbündeten.
Der IS strebt nach der Herrschaft über alle: gemäßigte Sunniten, Schiiten, Alawiten, Christen, Juden, Jesiden und Aleviten. Der Kampf gegen die Schiiten und die als gottlos geltenden Kurden bildet ebenso wie die Minderwertigkeit aller anderen Religionen das ideologische Fundament des IS. Al-Qaidas Aktionen waren hingegen von Anfang an vor allem antiwestlich motiviert.
Selbst die zügellose Gewalt des IS enthält eine klare Botschaft: Wir machen keine Zugeständnisse. Diese Radikalität soll Anhänger anlocken, die glauben, dass mit dem Rest der Welt keine Koexistenz mehr möglich sei. Die Mitglieder von al-Qaida leben zum Teil inmitten der Gesellschaft, die sie verurteilen. Die IS-Anhänger bekräftigen hingegen ihre Ablehnung durch den Auszug in das selbst proklamierte Kalifat mit einem strikten Programm: der Vereinigung aller Menschen unter ein strenges Kalifat, in dem alles, was nicht mit dem sunnitischen, nach Art des IS interpretierten und praktizierten Islamismus übereinstimmt, brutal unterdrückt wird.
Das ist an sich nicht neu, wie die Geschichte der al-Qaida gezeigt hat, nur setzt sich der Terror des IS tagtäglich fort, ist professioneller im Umgang mit den Medien und besser organisiert. Seit dem Tod von Osama bin Laden, der Verlagerung des Zentrums von Afghanistan nach Pakistan und infolge offensiver Militäroperationen, gezielter Tötungen und permanenter Verfolgung begann die Organisation zu schwächeln.
Das Erstarken des IS kennzeichnet ein Wiederaufleben des Dschihadismus. Und zwar auch in Bevölkerungsschichten, die 2001 noch gar nicht für dieses Phänomen empfänglich waren, wie zum Beispiel die Sunniten im Irak und in Syrien. Der blutige irakische Bürgerkrieg, der der US-Invasion von 2003 folgte, und die gewaltsame Unterdrückung durch das syrische Regime seit 2011 hat die Einstellung bei vielen grundlegend verändert.
Die meisten ausländischen Kämpfer, die sich dem IS anschließen, wussten vor 2001 vermutlich nichts von der Existenz al-Qaidas. Entweder waren sie noch nicht alt genug – ein heute Zwanzigjähriger war damals sieben Jahre alt – oder sie neigten noch nicht zu der islamistischen Radikalität, die von einer nie dagewesenen Propaganda seiner Anhänger, aber ironischerweise auch seiner Gegner, profitiert hat.
Junge Skandinavier oder Chinesen wären in den 1990er Jahren sicher nicht auf die Idee gekommen, an der Seite der afghanischen oder algerischen Mudschaheddin in den Kampf zu ziehen oder die Logik des takfir4 zu akzeptieren und von Koranschule zu Koranschule zu ziehen, um Vorträgen zu lauschen, die von gelehrten theologischen Reflexionen bis zur ideologischen Mobilisierung für den bewaffneten Kampf reichen. Heute gibt es im Kalifat Tausende ausländische Kämpfer, die nicht aus den arabischen Ländern kommen.5
Von 2001 bis 2014 hat sich der Dschihadismus durch die Globalisierung, den Zugang zu Informationen, Ideologien, Netzwerken und letztendlich auch zum bewaffneten Kampf grundlegend gewandelt. IS erfindet al-Qaida neu und kultiviert den religiösen Ruhm des Martyriums. Und al-Qaida säte seine Ableger aus: im Maghreb, in der Sahelzone, am Horn von Afrika, auf der Arabischen Halbinsel, im Nahen Osten, in Pakistan, Indien und Südostasien. Der IS versammelt und zieht an, bevor er sich ausdehnt. Während al-Qaida zentrifugal agiert, vollzieht der IS eine zentripetale Bewegung. Er integriert auch autonome Gruppen, die al-Qaida (wenn auch nur ideologisch) hervorgebracht hat, und fügt so seinem Kalifat immer neue Gebiete hinzu.6
Der aus al-Qaida im Irak entstandene IS hat in einer ersten Phase syrische Kämpfergruppen aufgenommen. Inzwischen gibt es zahlreiche Anschlüsse, von Ansar al-Scharia in Libyen7 bis hin zur Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujwa). Die Frage des Beitritts lockt und spaltet auch die wichtigsten Al-Qaida-Ableger wie etwa AQMI. Dort ist Abu Abdallah Othmane al-Acimi, ein Mitbegründer der AQMI-Vorgängerorganisation Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC), abtrünnig geworden, hat al-Baghdadi die Treue geschworen und mit Dschund al-Khilafa, („Soldaten des Kalifats“) einen neuen Zweig des IS im Maghreb geschaffen.8
Im ägyptischen Sinai hat sich Ansar Bait al-Makdis, die Ende Januar erstmals in einer größeren Operation zeitgleich mehrere Anschläge auf Polizei- und Militäreinrichtungen verübt hat, schon im Dezember 2014 dem IS angeschlossen. Selbst der Unruhestifter des Dschihadismus, Abubakar Shekau, der Anführer von Boko Haram, hat sich zu einem „Allah beschütze dich, Abu Bakr al-Baghdadi“9 durchgerungen. Letztendlich ist jedoch die Frage, ob der IS über al-Qaida siegen wird, von untergeordneter Bedeutung. Denn trotz unterschiedlicher Methoden und Ziele sind beide Gruppierungen Teil derselben Bewegung.