Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme
Der mühsame Weg zu einer eigenständigen Sicherheitspolitik von Philippe Leymarie
Jedermann weiß, dass Afrika die geostrategische Zukunft des Planeten ist, nur nicht die Afrikaner“, sagt Scheich Tidiane Gadio. Er war von 2000 bis 2009 senegalesischer Außenminister unter Präsident Abdoulaye Wade und ist jetzt Vorsitzender des Pan-African Institute of Strategy. Unter der Federführung dieses Instituts wurde Mitte Dezember erstmalig das Internationale Forum für Frieden und Sicherheit in Afrika1 abgehalten. Es handelt sich dabei um ein informelles Treffen, das künftig alljährlich stattfinden soll. Nach dem Vorbild ähnlicher Konferenzen in anderen Regionen der Welt2 versammelten sich ungefähr 400 Militärs, Politiker, Forscher und Journalisten in Dakar.
Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende der Kolonialzeit sei es „höchste Zeit, dass das afrikanische strategische Denken in einem geeigneten Rahmen zum Ausdruck kommt“, schreibt der französische Geograf und Diplomat Michel Foucher.3 Tatsächlich wurde auf dem Forum ein „Mangel an geopolitischem Bewusstsein“ auf dem Kontinent beklagt, wie es ein Offizier von einer zentralafrikanischen Militärakademie formulierte, der auch forderte, Sicherheit solle als „globales öffentliches Gut“ betrachtet werden.
Es ist offensichtlich, dass insbesondere die Staaten der Sahelzone zu fragil und schwach sind, um Frieden und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Nachdem die dschihadistischen Gruppen aus ihren Entstehungsgebieten in Algerien weitgehend vertrieben worden waren, verbreiteten sie sich im Sahel und formten militärische Strukturen nach dem Muster der somalischen al-Shabaab oder des Islamischen Staats (IS) in Syrien und im Irak. „In einem Gebiet vom Atlantik bis zum Roten Meer gibt es für diese Gruppen keine Grenzen“, warnte ein afrikanischer Diplomat. Er befürchtet das „Zusammenfließen der Operationsgebiete“.
Die nigerianische Gruppe Boko Haram breitet sich immer weiter nach Kamerun, nach Niger und bis in die Zentralafrikanische Republik aus4 und der französische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian stellt zwischen dem IS und Organisationen in der Sahelzone und der Sahara, die sich bisher auf al-Qaida bezogen haben, gewisse „verbindende Elemente“ fest.
Die meisten bewaffneten Gruppen, die oft selbst untereinander zerstritten sind, operieren vor allem in abgelegenen, grenznahen Regionen, die von den jeweiligen Zentralregierungen kaum zu kontrollieren sind. Dabei machen sie sich die jeweilige politische Situation zunutze – wie den Kampf der separatistischen Tuareg in Nordmali oder den Bürgerkrieg in Libyen. Sie profitieren von ihren Familien- und Klanverbindungen, um in diesen Gebieten Fuß zu fassen, und stützen sich auf bestehende Solidaritäts- und Informationsnetzwerke.
Sie finanzieren sich, indem sie in die lokalen Wirtschaftsstrukturen eindringen. Sie eskortieren Konvois, verlangen Wegzoll und partizipieren am Handel mit Waffen, Drogen, Zigaretten und Geiseln. Ihre Mitglieder rekrutieren sie aus der großen Zahl bitterarmer Jugendlicher, die von diesem neuen „politischen Angebot“ angezogen werden – und von dem Sold, den die Kämpfer im Dschihad erhalten.
„Sie verhalten sich wie Unternehmen, deren Geschäft die blinde und massive Gewalt ist, manchmal auch nur wie Wirtschaftskriminelle“, erklärte Scheich Gadio. „Ihre finanziellen Ressourcen und militärischen Möglichkeiten übersteigen oft die unserer regulären Sicherheitskräfte. Außerdem agieren sie in Netzwerken und bündeln ihre Kräfte, wozu wir nicht in der Lage sind.“ Ein früherer hoher Beamter der Afrikanischen Union (AU) pflichtet Gadio bei: „Wir sind Jahre im Rückstand.“ Er ist der Meinung, dass die jeweiligen Staaten ihre Strategiedoktrinen von Grund auf überarbeiten müssen.
Boko Haram erobert auch Köpfe und Herzen
Immer mehr afrikanische Analysten stellen deshalb die bestehenden Sicherheitsparadigmen auf den Prüfstand. Dabei lassen sie insbesondere die anthropologische Dimension der politisch-religiösen Radikalisierung in ihre Überlegungen mit einfließen: „Wenn man eine derart gut organisierte Gruppe wie Boko Haram, die ganze Dörfer übernimmt, eine Ideologie zur Eroberung der Köpfe und Herzen entwickelt hat und einen kompletten Sozialisationsrahmen bietet, einfach als Terroristen bezeichnet, fehlen da wesentliche Punkte“, meinte ein Konferenzteilnehmer aus Benin. Der Senegalese Alioune Sall, Direktor des African Futures Institute, schlug vor, vor allem die persönliche Sicherheit der Menschen, ihre Gesundheit, ihre Unternehmen und ihr Wohnumfeld in den Blick zu nehmen.
Die Staaten könnten nicht mehr als alleinige Akteure auftreten, auch die Zivilgesellschaft müsse ihren Teil beitragen, zumal sie besser in der Lage sei, lokalen oder regionalen Spannungen unmittelbar vorzubeugen. Und alle Konferenzteilnehmer teilten die Sorge um die Zukunft der afrikanischen Jugend: Das Medianalter5 auf dem Kontinent beträgt derzeit rund 20 Jahre – eine „soziale Zeitbombe“. (In Deutschland liegt das Medianalter bei 45 Jahren.)
Die eigene Geschichte des afrikanischen Kontinents, die länger und prägender war als die vergleichsweise kurze Kolonialzeit, könnte als Reservoir von Sozialisierungserfahrungen, politischen Organisationsformen und gesellschaftlichen Verständigungstechniken (wie etwa der traditionellen Versammlungsform des Palavers oder der Mediation) dienen, aus dem es sich zu schöpfen lohnt. „Wir reden zwar viel über den Dialog der Kulturen, aber wir verfügen nicht mehr über die Kultur des Dialogs“, klagte ein ehemaliger Minister aus Westafrika. Auf einem Kontinent mit 2 000 Idiomen könnten seiner Ansicht nach die großen Regionalsprachen – wie beispielsweise das Suaheli in Ostafrika – viel zu einer Annäherung zwischen Staaten und Völkern beitragen.
„Wir haben einfach nur das Modell des Westens kopiert und dabei unsere eigenen Werte vernachlässigt“, bedauerte ein Verbandsfunktionär. „Wir sollten uns die Zeit nehmen, unser gesellschaftliches und kulturelles Feld neu zu bestellen. Wir müssen dringend unsere Bildungssysteme erneuern, den Erwerb und den Gebrauch unserer Sprachen fördern.“ Wie viele andere verwies er in diesem Zusammenhang auf das „Hindernis Palästina“ in einer zuallererst ideologischen Auseinandersetzung: Extremisten machten den Nahostkonflikt zum „Kampfsymbol einer gedemütigten islamischen Gemeinschaft“ .
In den afrikanischen Bildungssystemen herrscht eine gefährliche Zweiteilung: Auf der einen Seite gibt es die Elitenausbildung nach europäischem Vorbild, die jedoch – nach den Worten des burkinischen Historikers Joseph Ki-Zerbo – wirke wie ein „kulturelles Entlaubungsmittel“. Auf der anderen Seite steht das Ghetto der Grund-, Mittel- und schlichten Koranschulen für das einfache Volk in Stadt und Land. Genau diese Zweiteilung trage den „Keim des Protests, der Marginalisierung und der Frustration in sich, den die Prediger des Dschihadismus ausnutzen können“, warnte Bakary Sambe, der an der Universität Gaston-Berger im senegalesischen Saint-Louis für die Beobachtungsstelle von Radikalismus und religiösen Konflikten in Afrika6 arbeitet. Sambe spricht von der „Eroberungsstrategie“ insbesondere einiger Golfstaaten, welche ihre wahhabitische und salafistische Ideologie verbreiten und aus der Ablehnung des traditionell bruderschaftlichen Sufi-Islam in der Sahelzone ihren Nutzen ziehen.
Waffen und Kämpfer aus Libyen sind jetzt überall im Sahel
Im Zusammenhang mit den ausländischer Militärinterventionen werfen die Dschihadisten den Staaten vor, sich zu Handlangern des christlichen Westens zu machen. Die Sahelzone, die traditionelle Trennlinie zwischen der islamischen Welt und dem animistischen oder christlichen Afrika, dient ihnen als ideologisches Betätigungsfeld, Einsatzgebiet und strategischer Rückzugsraum.
Dem gebetsmühlenartig wiederholten Ruf nach „afrikanischen Lösungen für die afrikanischen Probleme“ sind bisher kaum Taten gefolgt. Die Liste der Fehlschläge der Afrikanischen Union ist beachtlich, auch wenn diese nicht für alles verantwortlich gemacht werden kann. Vor allem war sie nicht in der Lage, die Militärintervention 2011 in Libyen zu verhindern, die Frankreich, Großbritannien und die USA durchführten – mit verheerenden Folgen: Waffen und Kämpfer verbreiteten sich im ganzen Sahel. Die Intervention destabilisierte vor allem Mali und mündete schließlich in einen Bürgerkrieg in Libyen selbst. Die Afrikanische Union hatte sich erfolglos gegen diese von der UNO unterstützte Operation unter der Flagge der Nato gestemmt. Bitterkeit und Misstrauen machen sich in Afrika breit, insbesondere bei den Algeriern, die nach wie vor großen Einfluss in der Afrikanischen Union ausüben.
Als Dschihadisten 2012 versuchten, den Norden Malis zu annektieren, traten die mangelnde Vorbereitung und Verfügbarkeit der afrikanischen Friedenstruppen und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ländern der Region wieder offen zutage: „Es ist unglaublich, wie viele Generalstabstreffen notwendig waren, um die afrikanisch geführte internationale Unterstützungsmission in Mali [Misma] auf die Beine zu stellen“, schimpfte ein Wissenschaftler aus Kamerun. „Erst als die französische Armee 2013 eingriff, kam auch die AU-Mission zustande.“
Während es die Franzosen waren, die im Rahmen der Militäroperationen „Serval“7 und „Barkhane“8 in der Sahelzone die Initiative ergriffen hatten, wird heute viel Hoffnung in die regionale Zusammenarbeit zwischen den afrikanischen G-5-Staaten Mali, Niger, Burkina Faso, Tschad und Mauretanien gesetzt. Diese Kooperation soll einen intensivierten Informationsaustausch, die koordinierte Planung von Operationen, ein „grenzüberschreitendes Verfolgungsrecht“, gemeinsame Patrouillen und sogar gemischt-nationale Einheiten umfassen. Verbunden damit ist die Hoffnung, dass sich auch das regionale Schwergewicht Algerien beteiligen wird.
Am 18. Dezember drängten die fünf Länder während eines Gipfeltreffens in Nouakchott zum Leidwesen Algeriens und ohne Rückendeckung der Afrikanischen Union auf eine neue internationale Intervention in Libyen. Das zweite große Sicherheitsthema ist Boko Haram. Am 30. Januar beschloss die die Afrikanische Union bei einer Konferenz in Addis Abeba, eine 7 500 Mann starke Regionaltruppe aufzustellen, und hofft dafür auf Gelder von der UNO. Angesichts immer neuer Massaker und grenzüberschreitender Zwischenfälle ging die tschadische Armee am 2. Februar auf nigerianischem Territorium in einer größeren Offensive gegen die Dschihadisten vor,9 die daraufhin an einem Dorf in Kamerun blutige Rache übten.
Die Versuche, in der Zentralafrikanischen Republik für Frieden zu sorgen, waren ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Der tschadische Präsident Idriss Déby versuchte seine Autorität in der Region zu stärken und stationierte Truppen in der Hauptstadt Bangui. Diese wurden jedoch schon 2013 zurückgezogen, ebenso das südafrikanische Militärkontingent, das die tschadischen Einheiten abgelöst hatte. Derzeit leidet die Zentralafrikanische Republik erneut unter einem latenten Bürgerkrieg, der zu einem Riss zwischen den muslimisch und den christlich dominierten Regionen des Landes geführt hat. Ende 2013 intervenierte wieder einmal die französische Armee, der eine UN-Blauhelmmission folgte. „Die Straffreiheit der zentralafrikanischen Akteure ist ein Hauptgrund für die Krise im Land“, meint Adama Dieng, UN-Sonderberater für die Vorbeugung von Völkermord. Die Straffreiheit sei ein „weitaus größeres Übel als Terrorismus, Drogenhandel und Piraterie, die heute alle Welt beschäftigen“.
Das Konzept „afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“ scheint infrage zu stehen. In einer Publikation des Pan-African Institute of Strategy10 in Dakar heißt es: „Dass diese Formel in Washington, London, Paris oder Berlin so populär ist, hängt vor allem damit zusammen, dass sie diese Länder von zu großer Verantwortung entbindet.“ Ganz abgesehen von den geringen technischen Möglichkeiten der Afrikaner sei es „naiv, zu glauben, die 54 Staaten des Kontinents hätten eine gemeinsame Friedensvision für Afrika“. Trotzdem hat die Afrikanische Union eine ehrgeizige Friedensarchitektur mit einem Mechanismus „zur Prävention, Steuerung und Lösung von Konflikten“ entworfen: 2004 wurden der Rat für Frieden und Sicherheit (Peace and Security Council, PSC) als politisches Steuerungsorgan sowie einen Generalstabsausschuss ins Leben gerufen.
Dessen Leuchtturmprojekt besteht im Aufbau jeweils einer Brigade für Friedensmissionen in den fünf großen Regionen des Kontinents unter dem Namen African Standby Force (ASF).11 Hinzu kommen ein afrikanisches Frühwarnsystem, das die aktuelle Lage kontinuierlich beurteilen und Zukunftsanalysen anfertigen soll, sowie ein Rat der Weisen, der für aktive Prävention zuständig ist. Zur Aktivierung dieses Maßnahmenpakets wurde ein spezialisierter Fachausschuss für Verteidigung, Schutz und Sicherheit (Specialized Technical Committee on Defence, Security and Safety, STCDSS) eingerichtet. Weil konkrete Schritte zur Umsetzung auf sich warten ließen, bekam schließlich der ehemalige guineische Übergangspräsident, General Sékouba Konate, im Dezember 2010 den Auftrag, für die operative Einsatzfähigkeit der ASF zu sorgen.
Doch dieser eindrucksvolle Apparat funktioniert noch immer nicht richtig. Obwohl bereits drei „Roadmaps“ aufgestellt wurden (2006, 2009 und 2011), hat die ASF noch immer nicht endgültige Gestalt angenommen. Es kommt immer wieder zu Aufschüben. Und obwohl die AU im Juni 2014 die volle operative Einsatzfähigkeit der Truppe bis Ende 2015 versprochen hatte, ist bisher keine der fünf „Bereitschaftsbrigaden“ tatsächlich aufgestellt worden. Die für den Gesamtkontinent geplante Logistikbasis, die im kamerunischen Duala errichtet werden soll, ist ebenfalls noch nicht fertig. Es gibt Probleme mit der Finanzierung. Ein Bericht des nigerianischen Expräsidenten Olusegun Obasanjo über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten schlummert seit drei Jahren in den Schubläden.
Diese Blockaden sind sowohl auf fehlende Mittel und Fachkompetenzen als auch auf die Ungleichheit unter den beteiligten Regionen zurückzuführen. Außerdem sind derzeit weder Nigeria noch Südafrika noch Ägypten – die größten Beitragszahler der Afrikanischen Union und die Länder mit den größten Armeen des Kontinents – in der Lage, als treibende Kraft zu wirken. „Die Entscheidung, eine regionalen Organisation oder aber die Afrikanische Union an die Spitze einer Operation zu setzen, resultiert weniger aus einer klaren Strategie als vielmehr aus dem Kräfteverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten“, meint Amandine Gnanguênon vom Institut für Sicherheitsstudien (Institute for Security Studies, ISS) in Dakar.
Die Zusammenarbeit zwischen der Afrikanischen Union, den regionalen Wirtschaftsgemeinschaften und deren regionalen Mechanismen ist so gestaltet, dass es immer wieder zu Konkurrenzsituationen kommt. Nach Auffassung von Gnanguênon haben die Länder durchaus ihre Gründe, sich nicht freiwillig zu engagieren: „Inwieweit sich Konfliktprävention letztlich auszahlt, ist für die politischen Akteure kaum ersichtlich. Man kann sich nur schwerlich mit der Wirksamkeit einer Präventivmaßnahme brüsten, wenn letztlich niemand ermessen kann, was genau verhindert worden ist.“
Die Schwierigkeiten bei der Gründung der ASF hat zwölf Regierungen12 dazu bewogen, 2013 eine afrikanische Kriseninterventionseinheit (African Capacity for Immediate Response to Crises, Acirc) aufzustellen. Die sich beteiligenden Staaten müssen in der Lage sein, ihre Truppen mindestens 30 Tage lang bereitzuhalten. Außerdem müssen sie sich Partner in den Bereichen Logistik und Aufklärung suchen. Ziel ist es, übergangsweise eine flexibel zusammenstellbare Truppe in der Hinterhand zu haben, die innerhalb von 10 Tagen einsatzfähig ist und auf einen Pool von 5 000 Soldaten zurückgreifen kann. Eine Krisenintervention unter Einsatz der Acirc kann durch eine sogenannte Rahmennation oder eine Gruppe von Staaten ausgelöst werden – nach dem Vorbild der Europäischen Union. Die Aktivierung der Acirc obliegt jedoch der Afrikanischen Union.
Eigentlich soll diese Einheit seit Anfang 2015 einsatzfähig sein. Auf ihrem letzten, im Juni 2014 in Malabo (Äquatorialguinea) abgehaltenen Gipfeltreffen hat die Afrikanische Union entschieden, die Acirc letztlich in die ASF zu integrieren. Nach Aussagen des ugandischen Generalstabschefs Katumba Wamala wird die Acirc unter Führung der Rahmennation Uganda womöglich bereits in diesem Jahr im Südsudan ihre erste Bewährungsprobe bestehen müssen.
Afrika soll seine Missionen selbst bezahlen
Dagegen gibt sich der burundische General Cyrille Ndayirukiye, der vier Jahre lang mit dem Aufbau einer der Bereitschaftsbrigaden betraut war, angesichts der verschleppten Entscheidungsprozesse keinen Illusionen hin. Jede Institution und jedes Land habe seine eigenen Prioritäten. Er bringt es mit einem burundischen Sprichwort auf den Punkt: „Beschwere dich nicht über den zu tiefen Brunnenschacht, wenn das Seil zu kurz ist.“ Wenn Afrika aus seinem Rat für Frieden und Sicherheit „eine Art Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf afrikanischer Ebene machen will“, meint Scheich Tidiane Gadio, müsse der Kontinent in die eigene Tasche greifen, um nicht die Europäische Union oder andere bilaterale Partner (insbesondere Frankreich) um Unterstützung bitten zu müssen.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die internationalen Organisationen über die wesentlichen Punkte einigen könnten – etwa über die Verantwortlichkeit für den Schutz der betroffenen Bevölkerung. So ist Solomon Ayele Dersso vom ISS in Addis Abeba der Meinung, dass der UN-Sicherheitsrat bei der Entscheidung über die Libyen-Intervention von 2011 dem Standpunkt der Afrikanischen Union mehr Beachtung hätte schenken müssen; vor allem angesichts des „historischen Misstrauens“ Afrikas gegenüber ausländischen Interventionen. Es gebe einen „grundsätzlichen Argwohn“ bezüglich der tatsächlichen Absichten, die die verschiedenen Länder bei der Libyen-Intervention verfolgten.
Die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen hegen auch unterschiedliche Auffassungen über den Umfang von Interventionsmandaten und die Einsatzregeln von Friedenstruppen. Die Afrikanische Union ist zwar insgesamt viel weniger aktiv, zeigt sich jedoch flexibel, indem sie nicht nur Missionen zur Friedenserhaltung übernimmt, sondern auch zur Wiederherstellung des Friedens und sogar zur Terrorbekämpfung (wie im Rahmen der African Union Mission in Somalia, Amisom). Die UNO hingegen greift nur dann ein, wenn sich die kriegführenden Akteure auf einen Friedensprozess verpflichten; Offensivwaffen setzt sie ausschließlich in Notwehr oder bei taktischen Hilfeleistungen ein – wie im Fall der Hubschraubereinsätze in der Elfenbeinküste 2011 oder in der Demokratischen Republik Kongo 2014.
In der Praxis sind die Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens eine konfuse Angelegenheit, bei der verschiedene Sondergesandte und Ständige Vertreter unterschiedlicher Institutionen, Botschafter und Militärs, Vermittler und Kontaktgruppen“ mitmischen; zudem die mehr oder weniger geheimen Berater, Moderatoren und Verbindungsleute. Dem Prinzip der „variablen Geometrie“ folgend, werden die Aufgaben bei Kriseninterventionen oft auf unterschiedliche Akteure aufgeteilt. Es gibt gemeinsame Aktionen (wie in Darfur), UN-Unterstützung für AU-Missionen (wie in Somalia) und aufeinanderfolgende Parallelinterventionen (wie die französischen Einsätze „Serval“ in Mali und „Sangaris“ in Zentralafrika).
Die UNO, die Afrikanische Union und die EU (beziehungsweise einige ihrer Mitgliedstaaten) haben zur Bündelung ihrer Kräfte Partnerschaften entwickelt. Die bringen zweifellos Vorteile mit sich, beinhalten aber auch Risiken, meint Jean-Marie Guéhenno, Präsident der International Crisis Group (ICG): „Kann es auf subregionaler Ebene einen unparteiischen Waffeneinsatz geben? Besteht die Gefahr, dass der oder die Konflikte sich auf die ganze Region ausweiten? Wie lässt sich in Fällen, in denen eine europäische Macht den Weg bereitet hat, eine reibungslose Übergabe sicherstellen, wenn asymmetrische Bedrohungen weiterbestehen? Wie kann eine sinnvolle Koordination der verschiedenen Befehlsketten gewährleistet werden?“
Überwachung von Wahlen ist das erste Mittel
Natürlich ist es am besten, es gar nicht erst zu einem offenen Konflikt kommen zu lassen. Aber „das Frühwarnsystem ist keine Garantie dafür. Mehrere Male wurden wir auf dem falschen Fuß erwischt“, berichtet der UN-Büroleiter für Westafrika, Mohamed Ibn Chambas, und führt das Beispiel Mali an. „In Burkina Faso haben wir dagegen schnell reagiert und klargemacht, dass wir einen Militärputsch nicht akzeptieren würden. In einem zweiten Schritt überwachen wir dort nun den Ablauf der Wahlen, um die Legitimation der Staatsmacht wiederherzustellen.“ Mit demselben Ziel will der UN-Diplomat auch ein Auge auf den Urnengang in Nigeria Mitte Februar haben und über die korrekte Durchführung der Wahlen in Togo, Guinea, Guinea-Bissau, Äthiopien, Zentralafrika, Burundi und Benin wachen.
Mehr als fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit der Länder der Sahelzone sorgt noch immer Frankreich dort für ein Mindestmaß an Sicherheit. „Der Einsatzbereich der französischen Streitkräfte ist noch nie so groß gewesen wie heute, und das mit Zustimmung der Länder in der Region“, sagt der ehemalige Büroleiter der ICG für Westafrika, Gilles Olakounlé Yabi. Frankreich versichert, nun keine unilateralen Interventionen mehr zu planen. Man wolle Partnerschaften aufbauen, um sich selbst letztlich zurückziehen zu können. Zu diesen Partnerschaften gehören die „G 5“, die in der Sahelzone aktiv geworden sind, die Tschadseekommission und die Koordinationsinstrumente, die im Anschluss an den Gipfel von Jaunde zur Bekämpfung der Piraterie im Golf von Guinea geschaffen wurden. All dies geschieht in Abstimmung mit der Afrikanischen Union.
Trotz wiederholter Appelle der Staaten aus der Region sei es für Frankreich ausgeschlossen, „einen neuen Präzedenzfall wie die Intervention in Libyen zu schaffen, den uns danach die ganze Welt zu Vorwurf macht“, erklärt ein Beamter des französischen Verteidigungsministeriums. Das Netz der französischen Militärbasen, die gerade umstrukturiert werden, soll in Zukunft die afrikanischen Bereitschaftskräfte unterstützen – wenn diese denn irgendwann bereit sind.