12.02.2015

Yassin und Nabil

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Yassin und Nabil

Lebenswege in der französischen Vorstadt von Pierre Souchon

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Zwei Tage. Sie haben zwei Tage gebraucht, um die Kouachi-Brüder zu finden und abzuknallen.“ Die Wintersonne scheint auf die Fahrbahn. Wissem,1 22 Jahre alt, schlängelt sich zwischen den Fahrzeugen hindurch. „Ich denke an meine Brüder – siehst du das?“ Ich sehe es. Ich sehe, wie sich Wissems Miene verfinstert, wie er das Autoradio aufdreht und sich schweigend in seinen Erinnerungen verliert. Seine beiden älteren Brüder sind tot. Bashir und Yassin wurden nicht einmal 30 Jahre alt. Ihre Mörder sind frei. Vor etwas mehr als zwei Jahren brach Bashir mit einem Freund in eine Villa ein. Ein Nachbar, der gerade von der Wildschweinjagd zurückkam, jagte ihm eine Kugel in den Kopf.

Der Schütze wurde eine Stunde lang in Polizeigewahrsam genommen, das Verfahren schließlich eingestellt – es habe sich um Notwehr gehandelt. Dabei wurde Bashir getötet, als er im Auto zu fliehen versuchte. Ein paar Monate später wurde Yassin auf offener Straße mit einer Kalaschnikow niedergemäht. „Die ganze Stadt weiß, wer das war. Die Bullen auch, aber sie tun nichts: Ein Araber weniger, das kommt ihnen gut zupass.“ Wissem sagt das mit ruhiger Gewissheit, wie etwas ganz Alltägliches, fast ohne Wut, während im Hintergrund ein Rap läuft. Wissem singt mit: „Mehr Kids in der Leichenhalle, das sind weniger vor Gericht / Mein Leben kennst du auswendig, denn es ist überall das gleiche / Ich ficke Frankreich, bis es mich liebt.“2

Ich denke an Yassin, der kurz vor seinem Tod wie besessen davon sprach, dass Bashir Gerechtigkeit widerfahren müsse. „Der Jäger ist frei! Findest du das nicht verrückt?“, fragte er mich 2012. „Wenn Mohamed Cédric getötet hätte, glaubst du, der liefe noch frei herum?“ Doch der Bruch verläuft nicht nur entlang der ethnischen Grenzen: Bashirs Freund Julien („ein Weißer, aus dem gleichen Viertel wie wir“) entging bei dem Einbruch zwei Schüssen, die auf ihn abgefeuerten wurden. Wegen des kleinen Diebstahls wurde er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt – vielleicht doch ein sozial motiviertes Urteil?

Yassin räumte ein, dass er selbst bereits im zarten Alter von sechs Jahren polizeilich bekannt war und dass diese frühreife Delinquenz bestimmt nichts mit seiner algerischen Herkunft zu tun hatte: „Mein Vater arbeitete auf dem Bau, da hat er sich einen schweren Bandscheibenvorfall geholt und musste zu Hause im Bett liegen. Meine Mutter hatte Krebs, sie war auch sehr krank, wir hatten kein Geld mehr. Da hab ich angefangen, Sachen für meine kleinen Brüder zu klauen. Spielzeug, ferngesteuerte Autos, im Supermarkt, beim Hilfswerk Secours Populaire. Und zack! Ab zu den Bullen.“

Er hat mir damals oft von seiner Kindheit und Jugend erzählt. Wie er ständig vor den Jugendrichter zitiert wurde. Auch von seiner Einweisung ins Heim, der abgebrochenen Tischlerlehre – und seiner Gewitztheit, dem einzigen Lichtblick und Zeichen seines unbändigen Lebenswillens. Mit zehn Jahren brauste er in irgendwelchen Autos, in denen noch der Zündschlüssel steckte, durch die Stadt oder sprühte Graffitis an die Rathauswände. Mit der Volljährigkeit endeten die richterlichen Ermahnungen und Yassin landete stattdessen im Gefängnis – wegen ein paar Diebstählen und ein bisschen Drogen. „Mit 23 hab ich damit Schluss gemacht – dank Gottes Hilfe.“

Yassin trug fortan einen langen Bart und ein traditionelles muslimisches Gewand. Er machte einen kleinen Laden mit Halal-Lebensmitteln auf, doch wenn es Zeit zum Beten war, ließ er seine Kunden einfach stehen und verschwand für zehn Minuten im Hinterzimmer. Er konnte sich wie ein studierter Theologe für die verschiedenen islamischen Strömungen begeistern und praktizierte gewissenhaft seine Religion, er liebte seinen Gott und wollte vor allem „Gutes tun“. Er verbrachte mehrere Monate im Nahen Osten, in einer von Muslimbrüdern geführten Schule, um an langen Studientagen seine Kenntnisse des Korans zu verbessern.

Als Yassin nach Frankreich zurückkehrte, interessierte sich die Polizei erneut für ihn, weil sein Profil zwei wichtige Kriterien erfüllte: Exkrimineller und tiefgläubiger Muslim. Dann haben alte Feinde aus seiner Jugend seinem Leben ein Ende gesetzt. Bei einer unserer letzten Begegnungen erzählte er: „Als ich klein war, gab es eine Menge Leute, die sich um Kinder und Jugendliche gekümmert haben. Sozialarbeiterinnen, Rathausangestellte. Die gibt es jetzt nicht mehr. Ich habe versucht, mit den Jungs zu sprechen und ihnen zu sagen, sie sollten sich beruhigen: Aber sie pfeifen drauf, sie haben keinen Job. Zwei Tage Wiedereingliederungspraktikum, ein Tag als Aushilfe an der Betonmischmaschine. Im Vergleich zu meiner Zeit ist es noch schlimmer geworden. Es ist nicht dein Leben, das du lebst. Du lebst das Leben, das der Staat dir auferlegt.“

Der Tod seiner Brüder hat Wissems Leben durcheinandergewirbelt. Seine Ausbildung als Automechaniker hat er abgebrochen. „Ich hab die Wahl: entweder Drogenhandel, also Gefängnis, oder Tod, wie fast alle meine Kumpel. Oder ab und an mal ein Fahrzeug warten, ein paar Tage im Monat Pizza ausfahren. Es gibt keine Jobs. Das ist auch der Tod.“ In seinem Viertel lag die Arbeitslosenquote unter den 20- bis 24-Jährigen im Jahr 2012 bei 57 Prozent, während der landesweite Durchschnitt in dieser Altersgruppe nur 13 Prozent betrug.

Wissem parkt vor einem Kebab-Laden, der „von Bärtigen“ geführt wird, wir gehen dort essen. So versucht er sich seinem verstorbenen Bruder anzunähern und auch der Religion: „Ich warte darauf, dass der Glaube wächst. Ich bete, ich faste. Bald wird der Augenblick kommen, in dem ich mir den Bart wachsen lasse und ein guter Muslim werde. Jetzt bin ich noch nicht bereit.“

Für Wissem waren die Karikaturen in der Zeitschrift Charlie Hebdo eine Zumutung. „So was von verbissen. Der Prophet, sein Name sei gepriesen, ist doch die einzige Sache, an die wir glauben, und selbst die greifen sie noch an.“ Der junge Mann hängt an nichts anderem. Die Schule? Eine Maschinerie, die einen in „miese Branchen“ abschiebt. Polizei und Justiz? Die haben seine Brüder begraben, ohne mit der Wimper zu zucken. Wiedereingliederungsmaßnahmen, Aus- und Weiterbildungen? „Danach findet man doch auch keinen Job.“ Die Medien? „Die erzählen nur Blödsinn. Der Anschlag auf Charlie Hebdo, das waren doch keine Jugendlichen aus den Problemvierteln. Das waren Profis, das war der Staat. So können sie hinterher auf die Muslime einprügeln.“ Bei Wissem und seinen Freunden werden die zahllosen, mahnenden Appelle, die Französische Republik sei frei, gleich und brüderlich, wohl kaum auf fruchtbaren Boden fallen.

Die Dschihad-Flausen mit der Pumpgun austreiben

Dreißig Kilometer entfernt, weit weg von den Problemvierteln, stehen zwischen den Weinbergen die Sandsteinhäuser eines kleinen Dorfs. „Den Arabern kann man ihre Dschihad-Flausen ganz einfach austreiben“, meint ein Jäger im Waffenladen des Orts. „Man errichtet Militärtribunale und peng! Eine Kugel in den Kopf.“ Der Waffenhändler protestiert nur zaghaft. „Am Tag nach dem Attentat auf Charlie Hebdo haben sie den Laden leergekauft“, freut sich der Geschäftsmann. „Schon um 11 Uhr hatte ich keine Pumpguns, keine Flashballs [Schusswaffe für Hartgummigeschosse] und keine Selbstverteidigungsmunition mehr – und ich kann mich vor Bestellungen kaum retten.“

Der Einzige, der die alten republikanischen Werte Frankreichs noch verteidigt, ist Wissems Vater Moncef. „Ich bin 1970 aus Algerien hergekommen. Die wenige Arbeit, die es dort gab, erledigten wir für einen Hungerlohn. Gleich nach meiner Ankunft habe ich gut bezahlte Jobs auf Baustellen gefunden, und dazu gab es noch die Sozialversicherung. Frankreich hat uns freundlich aufgenommen.“ Aber dann wurde es schwierig: „Ab 1982, 1983, nach der Geburt von Yassin, gab es weniger Arbeit. Es wurde viel weniger gebaut, es gab weniger Bestellungen und mehr Konkurrenz: Nach und nach sind Spanier und dann Leute aus dem Osten gekommen, und sie haben die Preise verdorben. Aber ich will mich nicht beklagen: Man ruft mich noch an, um schwarz kleinere Arbeiten zu erledigen. Damit bessere ich meine Rente auf, ich bekomme 700 Euro im Monat.“ Moncef rückt seinen Nierengurt zurecht.

Sobald wir draußen sind, widerspricht Wissem: „In den 45 Jahren, die mein Vater jetzt hier ist, hat er fast immer schwarz gearbeitet, um Villen für die Reichen in der Gegend zu bauen. Sein Rücken ist kaputt, und seine Rente ist so kümmerlich, dass er noch mit 67 in Gips und Beton macht. Er wollte, dass ich Maurer werde wie er. Da hab ich gesagt: ‚Nein danke.‘ “

Kurz vor seinem Tod hatte Yassin noch seinen alten Kumpel Nabil besucht. Die beiden hatten vieles gemeinsam: Ihre Eltern waren Arbeiter und stammten aus Algerien, sie hatten ihre Kindheit im selben Viertel verbracht und natürlich auch viel Quatsch zusammen gemacht. Nabil war der „einzige Araber“ aus dem Sozialbauviertel, der es aufs Gymnasium im Stadtzentrum schaffte, wo seine Fähigkeiten als Regionalmeister im Karate vom ersten Tag an Wunder wirkten: „Ein Weißer fragte mich, wo ich herkomme. Paff! Ich hab ihn zerlegt. In unserem Viertel war das ein Zeichen für mangelnden Respekt, so eine Frage: ‚Wo bist du her?‘. Später hab ich dann kapiert, dass das ganz normal war, es war eine Art, sich vorzustellen.“

Seine körperliche Kondition und sein Ruf ließen ihn zum gefürchteten Chef des Viertels aufsteigen. Er beteiligte sich nicht am Drogenhandel, sondern erhob nur eine Steuer auf jeden Deal und drohte notfalls mit Gewalt. Der Karatemeister nahm damit teilweise mehrere tausend Euro im Monat ein. „Durch meinen Lebenswandel wurde die Polizei auf mich aufmerksam, ich war ja noch Schüler. Ich brauchte einen Alibijob und hab dann bei einem Fastfoodladen angefangen, der damals gerade aufgemacht hat.“ Wieder ist er „der einzige Araber“ in der Burger-Braterei, und er wurde auch nur auf Druck der Gemeinde eingestellt, die den sportlichen Trophäensammler sehr schätzte.

Angespornt von den Klagen seiner „weißen“ Kollegen über den Filialleiter, der ihre Arbeitszeiten nicht richtig abrechnete, trat Nabil drei Monate später dessen Tür ein, drückte den Mann gegen die Wand und forderte seinen Lohn – der ihm sogleich ausbezahlt wurde; der Chef entschuldigte sich, es sei ein Versehen gewesen, er habe sich bei den 90 unbezahlten Stunden „verzählt“. Ein Gewerkschafter, der von der Geschichte erfuhr, wollte sich gleich mit Nabil treffen. Er schlug ihm vor, eine Gewerkschaftsgruppe zu gründen. „Da wurde mir erst so richtig klar, dass es in Frankreich ein Arbeitsrecht gibt. Es wurde meine Leidenschaft.“

Zur selben Zeit, als Yassin aus dem Gefängnis kam und sich der Religion zuwandte, gab Nabil sein Cannabisgeschäft auf und wurde Delegierter des Gewerkschaftsbunds CGT (Confédération générale du travail). Das ist jetzt 15 Jahre her. Seitdem bestimmen Arbeitskämpfe, Streiks, Besetzungen, Betriebsratssitzungen und Kündigungsverhandlungen sein Leben.

„Ich hab mit 16 in diesem Fastfoodladen angefangen“, erzählte mir vor einiger Zeit Ayub, der heute als Gebietsleiter im selben Unternehmen arbeitet. „Da gab es einen super Typen, Nabil. Er hat regelmäßig mit uns über unsere Arbeitsbedingungen und über Politik gesprochen. Das hat mir die Augen geöffnet. Dann haben wir 18 Tage lang gestreikt. Wir haben gefordert, dass alle prekär Beschäftigten einen Arbeitsvertrag bekommen. Wir hatten 100 Prozent Streikbeteiligung bei 20 Beschäftigten! Wir haben ihnen die Tour vermasselt, unsere Forderungen wurden fast alle erfüllt.“ Inzwischen ist Ayub ein aktives Mitglied der Wahlplattform Linksfront.

Nabil wartet gerade wieder einmal darauf, dass ihn das Fastfoodrestaurant, das ihn vor Kurzem zum x-ten Mal entlassen hat, erneut einstellt. Doch er träumt auch von Algerien. Denn die Charlie-Hebdo-Karikaturen haben ihn ebenfalls vor den Kopf gestoßen. Außerdem hat die CGT einen Aktivisten langsam satt, der zur Verstärkung eines Streikpostens, der von Spezialeinsatzkräften der Polizei bedroht wird, eine Hundertschaft kampfbereiter „Jungs aus den Vierteln“ ruft. „Wir sind uns mit den jungen Migrantenkindern nicht immer einig, was die Organisation und die Aktionsformen angeht“, erklärt uns ein Gewerkschaftsvertreter in der Zentrale bemüht diplomatisch.

Doch wie viele Nabils gibt es noch in dieser Stadt, die früher jahrelang von den Kommunisten regiert wurde und wo bei den letzten Europawahlen im Mai 2014 so viele den Front National gewählt haben? Wie wahrscheinlich ist es noch, dass einem Ayub ein Gewerkschafter wie Nabil begegnet, wenn der traditionell linke Aktivismus in den Vorstädten von einem religiösen Engagement abgelöst wird, das seinerseits längst eine politische Dimension angenommen hat? Und wie soll man die Frage der Herkunft in einen sozialpolitischen Diskurs einbetten, wenn sogar die CGT einem Nabil und dessen Vorgängern3 eine Migrantenidentität überstülpt?

Bei der Jugendberatung, wo Bashir vor seinem Tod oft war, kleiden die Angestellten ihr Unbehagen in ausgewählte Sätze – Geschichten wie die der Kouachi-Brüder sind ihr täglich Brot, von den Jugendlichen im Heim bis zu den Arbeitslosen, die sich religiös radikalisieren. „Da kann man sagen, was man will, auch wenn wir an das glauben, was wir tun, das Problem ist doch: Es gibt einfach keine Arbeit“, sagt Aurélie schließlich. Im Eingangsbereich hängen „Je suis Charlie“-Plakate. Es springt einem unmittelbar ins Auge, wie sehr die verschiedenen sozialen Welten voneinander abgeschottet sind. Als Wissem mich wieder zum Bahnhof bringt, widerspreche ich ihm zum ersten Mal, als er behauptet, die Medien gehörten „den Juden“: „Nein, das ist der Kapitalismus.“ – „Was ist das?“

Fußnoten: 1 Sämtliche Personen- und Ortsnamen wurden geändert. 2 Tandem, 93 Hardcore, Because Music 2005. 3 Abdel Mabrouki, „Génération précaire“, Paris (Le Cherche-Midi) 2004. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Pierre Souchon ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.02.2015, von Pierre Souchon