Hoffnungslos links
Das Dilemma der französischen Sozialisten vor der Wahl von Serge Halimi
Die US-amerikanischen Bürger, die gegen die Wall Street demonstrieren, protestieren gleichzeitig gegen die Machtzentren innerhalb der demokratischen Partei und des Weißen Hauses. Was sie dabei nicht wissen: Die französischen Sozialisten sehen Barack Obama nach wie vor positiv. Und zwar, weil sie meinen, im Gegensatz zu Sarkozy habe sich Obama gegen die Banken durchgesetzt.
Ist diese Einschätzung nur ein Irrtum oder mehr? Wer die Säulen des Wirtschaftsliberalismus (Globalisierung der Kapital- und Warenströme und Dominanz des Finanzsektors) nicht angreifen will oder kann, neigt dazu, die Katastrophe zu personalisieren und die Krise auf Denk- oder Regierungsfehler des politischen Gegners zurückzuführen. Dann ist in Frankreich eben „der Sarkozy“ an allem schuld, in Italien „der Berlusconi“, in Deutschland „die Merkel“. Na gut, aber wie steht es anderswo?
Anderswo, und nicht nur in den USA, stehen Politiker, die von der gemäßigten Linken lange als Vorbilder präsentiert wurden, ebenfalls empörten Demonstranten gegenüber. In Griechenland versucht Giorgos Papandreou, Präsident der Sozialistischen Internationale, eine drakonische Sparpolitik umzusetzen, die aus Privatisierung, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und dem Abtreten der wirtschaftlichen und sozialen Souveränität seines Landes an die ultraliberale „Troika“ aus EU-Kommission, EZB und IWF besteht. Auch die Regierungen in Spanien, Portugal und Slowenien demonstrieren, dass der Begriff „links“ inzwischen so entwertet ist, dass man keinen spezifischen politischen Inhalt mehr mit ihm verbindet.
Die aussichtslose Lage, in die sich die europäische Sozialdemokratie manövriert hat, geißelt überaus treffend Benoît Hamon, der derzeitige Sprecher der französischen Sozialistischen Partei PSF. In seinem jüngsten Buch schreibt Hamon, innerhalb der Europäischen Union stehe die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE)1 historisch für einen Kompromiss, „der sie mit den christlich-demokratischen Parteien, mit der Liberalisierung des Binnenmarkts sowie dessen Folgen für die sozialen Grundrechte und den öffentlichen Dienst verknüpft“. Es seien sozialdemokratische Regierungen gewesen, „die all die von EU und IWF verordneten Sparpläne ausgehandelt haben“. In Spanien, Portugal und Griechenland richte sich der Zorn gegen den IWF und die Brüsseler Kommission, aber auch gegen die eigenen sozialdemokratischen Regierungen. Das zeige, dass sich „ein Teil der europäischen Linken den Rechten in Europa so weit angenähert hat, dass die Behauptung, es sei unumgänglich, den Sozialstaat zu opfern, um den Haushalt zu sanieren und die Märkte zu besänftigen, auf gar keinen Widerspruch mehr stößt“. Hamons Fazit: „In mehreren Weltregionen waren wir ein Hindernis auf dem Weg des Fortschritts. Damit finde ich mich nicht ab.“2
Man kann diesen Wandel aber auch für unumkehrbar halten, weil er von der der Verbürgerlichung der europäischen Sozialisten und ihrer Entfremdung von der Arbeitswelt herrühre. So glaubt etwa die brasilianische Arbeiterpartei (PT), selbst eine eher gemäßigte Kraft, dass jetzt die lateinamerikanische Linke am Zug sei. Die Linken des alten Kontinents hätten abgewirtschaftet, seien zu sehr auf den Kapitalismus und die Partnerschaft mit den USA festgelegt und seien immer weniger berechtigt, sich als Vertreter der Volksinteressen aufzuspielen.
In einem Vorbereitungspapier für den Kongress der PT vom September 2011 heißt es: „Heute ist in der ideologischen Ausrichtung der internationalen Linken eine geografische Verschiebung festzustellen. Vor diesem Hintergrund gewinne Südamerika eine spezielle Rolle. Denn die europäische Linke, „die seit dem 19. Jahrhundert für die weltweite Linke so maßgeblich war, hat es nicht geschafft, angemessene Antworten auf die Krise zu finden; sie scheint vielmehr die Herrschaft des Neoliberalismus kampflos hinzunehmen.“3
Es könnte durchaus sein, dass mit dem Niedergang Europas auch der ideologisch Einfluss des Kontinents verlöscht, der den Syndikalismus, den Sozialismus und den Kommunismus hervorgebracht hat. Und mit diesem Verlöschen finden sich die Europäer offenbar leichter ab als andere.
Ist die Partei also schon verloren? Und was heißt das für linke Wähler und Aktivisten, die mehr auf Inhalte als auf das Etikett sehen? Können sie hoffen, zusammen mit den Genossen, die bei Wahlen zwar noch Mehrheiten einfahren, sich ansonsten aber dem Liberalismus verschrieben haben, die Rechte besiegen zu können? Zu Wahlkampfzeiten setzt sich die reformwillige Linke gegenüber den Konservativen noch immer ab, zumindest optisch – ein geradezu rituelles Ballett. Doch wenn sie dann an die Macht kommt, hat sie nichts anderes im Sinn, als genauso zu regieren wie ihre Gegner: die bestehende Wirtschaftsordnung nicht zu stören und das Tafelsilber der Privilegierten zu schützen.
Die soziale Transformation, von der auch die meisten Regierungsaspiranten der Linken behaupten, dass sie notwendig und vordringlich sei, kann nur gelingen, wenn sie für diese mehr ist als bloße Wahlkampfrhetorik. Aber damit sie gelingt, muss die Linke auch an die Macht kommen! Genau in diesem Punkt liest der gemäßigte Linke den „Radikalen“ und anderen „Empörten“ die Leviten. Er denkt nicht daran, auf den „großen Tag“ zu warten (siehe Text links); er träumt auch nicht davon, sich in einer Gegengesellschaft einzuigeln, die von den Unzulänglichkeiten der Welt abgeschottet und nur von besonderen und wunderbaren Menschen bevölkert ist. Der gemäßigte Linke will nicht, in den Worten von François Hollande, „blockieren, statt etwas zu bewirken; bremsen, statt zu handeln; Widerstand leisten, statt etwas zu leisten.“ Hollande argumentiert: „Die Rechte nicht besiegen heißt nur, sie zu bewahren, mithin sie zu wählen“.4 Die radikale Linke ziehe es jedoch vor, „jeden x-beliebigen Wutanfall mitzumachen“, statt „auf Realismus zu setzen“.5
Der wichtigste Trumpf der Linken ist, dass sie „hier und jetzt“ über ausreichend Wählerstimmen und tatendurstige Leute verfügt, um die Regierung abzulösen. „Die Rechte besiegen“ ist allerdings noch kein Programm und keine Perspektive. Denn nach einem Wahlsieg drohen die bestehenden Strukturen – auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene – den erklärten Willen zum Wandel wieder zu lähmen.
In den USA kann Obama behaupten, der im Wahlkampf von einer großen Mehrheit des Volkes getragene Voluntarismus und Optimismus („Yes, we can“) sei durch den Einfluss der Lobbyisten und der Obstruktion der Republikaner im Kongress untergraben worden. Anderswo rechtfertigten regierende Linke ihre zaghafte Politik unter Verweis auf „Sachzwänge“ und die böse „Hinterlassenschaft“ ihrer Vorgänger. Zum Beispiel mit dem Argument, die öffentliche Schuldenlast und die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit des Produktionssektors würden ihren Aktionsspielraum einschränken.
„Unser öffentliches Leben ist durch eine seltsame Dichotomie geprägt“, befand der französische Expremier Lionel Jospin schon 1992: Einerseits lege man der sozialistischen Regierung „die Arbeitslosigkeit, den Zustand der Vorstädte, die soziale Frustration, den Rechtsextremismus und die Hoffnungslosigkeit der Linken zur Last“. Andererseits verlange man von ihr, „an einer Wirtschafts- und Finanzpolitik festzuhalten, die es überaus schwierig macht, die angeprangerten Missstände anzugehen“.6 Diese Erkenntnis ist heute noch gültig.
Die Sozialisten können immer wieder auf die fürchterlichen Folgen einer linken Wahlniederlage verweisen: eine Batterie liberaler „Reformen“ – wie Privatisierungen, Einschränkung der gewerkschaftlichen Rechte, Kürzungen der Staatsausgaben –, die das Instrumentarium für eine politische Alternative zerstören würden. Damit begründen sie die Notwendigkeit einer „nützlichen Stimme“ für die eigene Partei. Eine Niederlage kann allerdings auch pädagogische Wirkung haben. Benoît Hamon verweist etwa auf Deutschland, wo „das Ergebnis der Bundestagswahl von 2009, die der SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit hundert Jahren einbrachte, die Parteiführung von der Notwendigkeit eines Richtungswechsels überzeugt hat“.7
Selbst vorsichtige Reformen erfordern radikale Änderungen
Eine solche, freilich sehr begrenzte „programmatische Neuorientierung“ hat es auch in Frankreich 1993 nach dem Wahldebakel der Sozialisten und in Großbritannien 2010 nach dem Sieg der Konservativen gegeben. Eine begrenzte Metamorphose wird man demnächst sicher auch in Spanien und in Griechenland erleben, denn die sozialdemokratischen Regierungen beider Länder können ihre bevorstehende Wahlniederlage kaum mit einer übertrieben revolutionären Politik erklären.
Um Papandreou beizuspringen, wagte die griechische Sozialistin Elena Panaritis kürzlich einen erstaunlichen Vergleich: „Margaret Thatcher hat in einem Land, das weniger schwerwiegende strukturelle Probleme hatte, für ihre Reformen elf Jahre gebraucht. Unser Programm ist erst seit vierzehn Monaten in Kraft!“8 Kurzum: Papandreou ist besser als Thatcher.
Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, müssen wir eine Liste von Bedingungen aufstellen, ohne deren Erfüllung die globalisierte Finanzwirtschaft nicht zu bändigen ist. Damit stehen wir sofort vor einem Problem: Angesichts der Vielzahl und der Komplexität der Instrumente, die seit gut dreißig Jahren die wirtschaftliche Entwicklung der Staaten der kapitalistischen Spekulation ausliefern, erfordern selbst relativ vorsichtige Reformen (wie mehr Steuergerechtigkeit, maßvolle Erhöhung der Reallöhne, keine Beschneidung des Bildungsausgaben) eine Reihe substanzieller Eingriffe: etwa einen Bruch mit der jetzigen europäischen Ordnung und den Abschied von der alten politischen Strategie der Sozialisten.9
Einen solchen Bruch zu vollziehen, ist fast unmöglich oder gar von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zum Beispiel müsste die Partei die „Unabhängigkeit“ der Europäischen Zentralbank infrage stellen (die geldpolitische Autonomie der EZB wird durch die EU-Verträge garantiert); die starren Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts müssten gelockert werden (die in Krisenzeiten jede gezielte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verhindern); im Europäischen Parlament müsste das Bündnis zwischen Liberalen und Sozialdemokraten aufgekündigt werden (das die Kandidatur des ehemaligen Goldman-Sachs-Bankers Mario Draghi zum neuen EZB-Präsidenten unterstützt hat). Ganz zu schweigen von Tabuthemen wie der Freihandelsdoktrin der EU-Kommission und dem Problem der öffentlichen Verschuldung, wo man nicht zulassen darf, dass die Zocker belohnt werden, die gegen die schwächsten Länder der Eurozone spekuliert haben.
Tatsächlich deutet nichts darauf hin, dass François Hollande in Frankreich, Sigmar Gabriel in Deutschland oder Edward Miliband in Großbritannien erfolgreicher sein könnten als Barack Obama, José Luis Zapatero und Giorgos Papandreou. Und wenn Massimo d’Alema in Italien seine Hoffnung auf ein Bündnis setzt, „das die politische Union Europas zu seinem zentralen Anliegen macht“ und „eine Renaissance des Progressivismus“ einleitet, ist er bestenfalls ein Traumtänzer.10 Angesichts der herrschenden politischen und sozialen Kräfteverhältnisse würde eine europäische Föderation bedeuten, dass noch mehr Macht an intransparente technokratische Instanzen übertragen wird. Die liberalen Daumenschrauben würden also noch fester angezogen, die souveränen Rechte der einzelnen Völker noch stärker eingeschränkt. Wobei die Handels- und Währungspolitik ohnehin längst „föderalisiert“ ist.
Solange die gemäßigten Linksparteien noch die Mehrheit der fortschrittlichen Wähler vertreten – weil sie programmatisch überzeugen oder das Gefühl verbreiten, sie seien die einzige Perspektive für einen baldigen Wechsel –, sind radikalere politische Gruppen (und auch die Ökologen) zu Statisten oder bloßen Wichtigtuern degradiert. Selbst die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) hatte zwischen 1981 und 1984 als Koalitionspartner auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik unter Präsident Mitterands nur wenig Einfluss, trotz ihrer zigtausend Mitglieder, trotz 15 Prozent Wählerstimmen, 44 Parlamentssitzen und vier Ministerposten. Auch der Schiffbruch der „wiedergegründeten“ Kommunisten in Italien (Partito della Rifondazione Comunista) macht nicht besonders viel Mut, denn die PRC blieb eine Gefangene ihrer Allianz mit der Mitte-links-Regierung. Als sie diese 1996 tolerierte, wollte sie damit Berlusconis Rückkehr an die Macht um jeden Preis verhindern. Der kam fünf Jahre später dennoch zurück.
Niemand redet über die Gefahren der Stagnation
Der französische Front de gauche (zu der die KPF gehört) will die Auguren widerlegen. Er hofft, dass politischer Druck auf die Sozialisten diese von ihren „atavistischen Züge“ abbringen könne. Das aber ist von vornherein illusorisch, ja hoffnungslos – vor allem, wenn man noch andere Faktoren als das Kräfteverhältnis nach der Wahl und die institutionellen Zwänge berücksichtigt. Zum Vergleich: Als in Frankreich im Mai 1936 die linke Koalition siegte, stand in ihrem moderaten Wahlprogramm keine der späteren sozialen Errungenschaften der Volksfront, wie bezahlter Urlaub und die 40-Stunden-Woche. Die wurden den Arbeitgebern erst durch die Streikbewegung im Juni abgerungen.
Das Geschehen der 1930er Jahre erklärt sich jedoch nicht so sehr aus dem unwiderstehlichen Druck einer sozialen Bewegung gegenüber den schüchternen oder eingeschüchterten Linksparteien. Umgekehrt hat gerade der Wahlsieg des Front populaire die soziale Revolte erst in Gang gebracht. Erst danach hatten die Arbeiter das Gefühl, nicht mehr vergeblich gegen die Mauer der Repression von Polizei und Arbeitgebern anzurennen. Sie wussten freilich auch, dass die Parteien, die sie gewählt hatten, ihnen nichts schenken würden, wenn sie keinen Druck auf sie ausüben. Daraus entstand jene – sehr seltene – erfolgreiche Dialektik zwischen Wahlen und sozialer Mobilisierung. Heute würde sich eine Linksregierung, die nicht einem vergleichbaren Druck ausgesetzt wäre, unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter einem technokratischen Apparat verschanzen, der seit langem nur noch nach der neoliberalen Doktrin tickt. Sie würde nur noch angstvoll auf die Ratingagenturen starren, die bekanntlich ein Land, das auf eine wirklich linke Politik setzt, unverzüglich abstrafen würden.
Lautet die Alternative also: Kühner Aufbruch oder Stagnation? Die Risiken der Kühnheit – Isolierung, Inflation, Herabstufen der Kreditwürdigkeit – werden uns von morgens bis abends eingehämmert. Aber wer redet über die Gefahren der Stagnation? Der Historiker Karl Polanyi konstatierte in Bezug auf die Lage Europas in den 1930er Jahren, dass sich einige Länder aus der Sackgasse, in die sie der liberale Kapitalismus getrieben habe, nur durch eine Reform der Marktwirtschaft herausarbeiten konnten – aber um den Preis der „Zerstörung aller demokratischen Institutionen“.11
Und heute? Auf welche demokratische Legitimation können sich die EU-Entscheidungen zur Rettung der Märkte noch berufen? Schon macht ein gemäßigter Sozialist wie Michel Rocard sich Sorgen, dass verschärfte Sparprogramme für Griechenland zur Suspendierung der Demokratie führen könnten: „Angesichts der Wut der Bevölkerung kann man bezweifeln, dass sich keine griechische Regierung ohne Unterstützung der Armee halten kann. Diese düstere Reflexion gilt vermutlich auch für Portugal und/oder Irland und/oder für andere größere Länder. Wie weit wird man gehen?“12
Die Republik der Mitte ist ins Wanken geraten, obwohl sie durch ein umfassendes Gerüst von Institutionen und Medienmacht abgesichert ist. Wir erleben den Beginn eines Wettrennens zwischen einer Verschärfung des liberalen Autoritarismus und ersten Ansätzen zu einem Bruch mit dem Kapitalismus. Ein solcher Bruch scheint noch weit entfernt. Aber wenn das Volk an ein politisches Spiel mit gezinkten Würfeln nicht mehr glaubt, wenn es Regierungen sieht, die ihrer Souveränität beraubt sind, wenn die Leute lautstark die Bändigung der Banken fordern und auf die Straße gehen, ohne zu wissen, wo sie mit ihrem Zorn hin sollen, dann zeigt uns dies trotz allem, dass die Linke noch am Leben ist.