Kommunisten in Berlusconien
Brescia, Prato, Bari – eine Reise von Ortsverein zu Ortsverein von Francesca Lancini
Beim Ortsverein der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) in Brescia stehen Casoncelli und Hühnchen auf der Speisekarte. Hinter der Bar des „Circolo“ steht eine junge Senegalesin – keine Selbstverständlichkeit, da sowohl in der Stadt als auch in der Provinz Brescia seit 2008 die ausländerfeindliche Lega Nord an der Regierung ist. Alte Kämpfer, die meisten frühere Kommunisten, trinken ihren Espresso und reden über Gott und die Welt, von den Eskapaden des Silvio Berlusconi bis hin zu den Arbeitsbedingungen bei Fiat.
Der Ausländeranteil in der Provinz Brescia liegt bei 15 Prozent. Besonders die Schwerindustrie, der Dienstleistungssektor und die Viehzuchtbetriebe sind auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Die Zuwanderung, die in Norditalien erst in den 1970er Jahren begann, ist ein wichtiges Thema für die PD, die einzige Mitte-links-Partei im italienischen Parlament.
Die PD entstand 2007 aus dem Zusammenschluss von Linksdemokraten (Democratici di Sinistra) mit linken Christdemokraten (La Margherita). Sie hat heute 700 000 Mitglieder und mehr als 7 000 Circoli. In ihren Statuten bezeichnet sie sich als reformorientiert, europäisch und links. Aber selbst ihre Anhänger werfen ihr vor, dass sie nicht eindeutig genug Stellung beziehe, zu wenig für die Schwachen in der Gesellschaft tue und den Traum von einer besseren Welt aufgegeben habe.
„Ich war auch ein Einwanderer“, erzählt der pensionierte Arbeiter und Exkommunist Ugo Zecchini. „Ich kam aus der Toskana und wurde als Süditaliener beschimpft. Deswegen identifiziere ich mich mit den Nicht-EU-Ausländern, die hier im Norden arbeiten. Die heutige Linke hat nicht begriffen, dass die Diskriminierung durch die Lega Nord ein großes Problem ist.“
In den letzten Jahren, erklärt Zecchini, hätten auch viele Arbeiter Lega Nord gewählt, weil die Linke zunehmend den Kontakt zu den Benachteiligten verloren hat. Gerade diejenigen, die nur mit Mühe über die Runden kommen, haben sich von populistischen Parolen wie „Wir wollen Herr im eigenen Haus sein“ verführen lassen. „In den Trümmern der Nachkriegszeit kämpfte die Linke für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie gab uns das Gefühl, zum Neuanfang beizutragen. Unsere politische Sozialisation hat mit der Lehre in der Fabrik angefangen. Wir sind alle in die Gewerkschaft und oft auch gleich in die Partei eingetreten. Die Fabrik war unsere Universität. Wir hatten das Gefühl, das Elend und die Ungerechtigkeit überwunden zu haben.“
Seit den 1980er Jahren hat sich viel verändert: Mächtige Industriekonzerne wurden zerschlagen, die Gewerkschaften spalteten sich und lösten sich mehr und mehr von den politischen Parteien. Die Arbeiterbewegung war keine Einheit mehr, worin ihre Kraft gelegen hatte. In Zeiten der Globalisierung sind die Arbeiter auf sich gestellt, prekär beschäftigt und haben keine Stimme.
Der 27-jährige Literaturwissenschaftler Tommaso Gaglia kümmert sich im Circolo von Brescia um die Kultur. „Wir hatten mehr Glück als unsere Eltern. Wir konnten studieren und sind in Zeiten des Wohlstands aufgewachsen. Aber wir haben keinerlei politische Erziehung genossen. Darum müsste sich die Partei mehr kümmern.“
Über den Räumen des Circolo liegen die Parteibüros. Hier kreuzen sich die Wege von Aktivisten und Funktionären. Der 45-jährige Pietro Bisinella vertritt als Regionalsekretär und Bürgermeister eine Gemeinde, die zum Symbol des Zusammenlebens von Einheimischen und Erntehelfern aus Indien und Pakistan geworden ist. Der zehn Jahre jüngere Michele Orlando arbeitet in der Verwaltung einer Stadt, die als linke Bastion gilt. Wie viele andere „rottamatori“ – Verschrotter, wie die PD-Kader auch genannt werden – hofft er auf eine Erneuerung der Parteiführung. Und die 29-jährige Gloria Bargigia wünscht sich, dass die Verjüngung auch die Basis erreicht: „Meine Eltern waren Sozialisten und haben mir die Leidenschaft für Politik in die Wiege gelegt, aber ich fühle mich hier fremd. Unter meinen Altersgenossen sind nur wenige in einer Partei. Sie lassen lieber die Alten für sich kämpfen“, erzählt sie, während sie Flugblätter verteilt.
In einem Café neben der Uni treffen wir Mitglieder der kleinen Studentengewerkschaft Sinistra per (Links für). Sie sind nach 1989 aufgewachsen, während der Antikorruptionsoperation „Mani pulite“ – dem juristischen Erdbeben, das die etablierten Parteien in die Krise stürzte und das Ende der Ersten Republik auslöste – und mit dem „Berlusconismo“1 .
Freiheit für die Chinesen
Die jungen Leute setzen ihre Hoffnungen auf eine Rückkehr zu den ursprünglichen Werten der Linken. Man muss zuerst „gleiche Startbedingungen schaffen“, erklärt der Philosophiestudent Federico Micheli. „Stattdessen will die Bildungsministerin Mariastella Gemini, die hier in Brescia ihr Diplom gemacht hat, die Mittel für Stipendien, Studentenwohnheime und Mensen kürzen.“ Die rechte Regierung in Rom kümmere sich nicht viel um Kultur, meint Micheli, der seine linken Ideen in der Universitätszeitung und via Facebook kundtut. „Manchmal deprimiert es mich, dass sich die jungen Leute nicht für das Gemeinwohl interessieren. Aber ich wehre mich und halte es mit Antonio Gramsci: ,Ich hasse die Gleichgültigen.‘ “
In Prato, der größten Stadt in Mittelitalien, bläst seit zwei Tagen der Tramontana. Alle warten, dass der Wind sich dreht, auch der politische. Die Stadt war einst ein Zentrum des antifaschistischen Widerstands, eine Hochburg der „roten“ Toskana2 und liegt in der größten Textilindustrieregion Italiens. Hier kam 2009 – nach 63 Jahren Linksregierung und auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise – eine Mitte-rechts-Koalition an die Macht. In den vergangenen sechs Jahren gingen in der Textilbranche mehr als 10 000 Arbeitsplätze verloren.
Bis vor zehn Jahren war Prato eine Stadt, die niemals schlief und wo in den Textilfabriken rund um die Uhr gearbeitet wurde. Heute, in Zeiten der Automatisierung und der Konkurrenz aus China und Indien, gibt es nur noch vereinzelte Betriebe, die Nachtschichten fahren. Die Medien und die Politik interessieren sich jedoch nur für die Chinesen, die in der Stadt angeblich einen „Parallelsektor“ der Textilproduktion aufgebaut haben, in dem illegale Geschäfte und Schwarzarbeit blühen.3
„Die Krise in Prato liegt nicht an den 25 000 Chinesen, die hier leben, sondern an der Volksrepublik China“, erklärt Gewerkschaftssekretär Manuele Marigolli von der CGIL, der ältesten und traditionell linken Gewerkschaft Italiens (mit 5,7 Millionen Mitgliedern). „Es muss endlich Schluss sein mit den Lügen. In Prato produzieren die Chinesen keine Stoffe, sondern Bekleidung. Sie sind nicht Konkurrenten, sondern potenzielle Kunden. Der Ausweg aus der Krise heißt Synergie: Wir produzieren hier Stoffe und könnten den Chinesen doch auch das Nähen überlassen, statt damit nach Rumänien zu gehen.“ Prato brauche ein Projekt der Emanzipation, das alle einschließt, das die Chinesen legalisiert und sie aus ihrer Versklavung befreit.
Im „Haus des Volkes“ von Coiano, dem Herzen linker Politik der Stadt, hängt ein Schwarz-Weiß-Foto von Enrico Berlinguer, dem charismatischen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) von 1972 bis zu seinem Tod 1984. Der Circolo von Coiano hat 550 Mitglieder. „Ich habe dieses Haus 1975 gebaut“, erzählt der 70-jährige Mario Bensi. „Vor zehn Jahren haben wir hier noch bis spät in die Nacht diskutiert. Heute ist jeder sich selbst der Nächste. Der Berlusconismo steckt womöglich in jedem von uns. Berlusconi hat es mit seiner Politik, seinen Fernsehsendern und seinen maßgeschneiderten Gesetzen geschafft, jeden kritischen Geist zu ersticken. Die einstigen Kämpfer sind enttäuscht und gleichgültig, weil sich sowieso nichts ändert.“ Viele meinen, die Linke hätte in den Jahren, als sie an der Macht war, lieber ihre internen Konflikte begraben sollen, statt Berlusconi das Feld zu überlassen.
Der Berlusconismo, ein Kult der Äußerlichkeit und des Wohlbefindens, des Spektakels und der Fanklubs, wie man sie sonst nur beim Fußball sieht, hat die Linke womöglich noch in anderer Hinsicht angesteckt: „Mit ihrer Vetternwirtschaft haben die heute 60-jährigen Funktionäre die engagierten Jüngeren ausgeschaltet. Und jetzt haben wir das Geschrei, die Linke hätte keine Führungsfiguren, die das Format haben, um der Rechten entgegenzutreten“, sagt der Autor Sergio Puggelli.
Es wird dunkel. An den Tischen des Circolo, der wie eine große Berghütte eingerichtet ist, spielen alte Männer Karten. Andere stehen am Billardtisch, während die jungen Leute aus dem Viertel im Fernsehen ein Fußballspiel verfolgen. Nach dem Abendessen wird ein Film über die Deportationen durch die Nazis gezeigt, am nächsten Tag wird für 300 Behinderte gekocht. Trotz aller Schwierigkeiten ist das Haus des Volkes bis heute eine wichtige Begegnungsstätte, in der auch Hochzeiten von Zuwanderern gefeiert werden. Das macht den Linken Hoffnung, obwohl die Lega Nord in Prato ein gutes Wahlergebnis hatte und auch die Rechtsextremen von Azione Giovani und Casa Pound an Einfluss gewinnen.
Kleine rote Zellen
Unsere dritte Station ist das süditalienische Bari. In der Hauptstadt der Provinz Apulien ist die Linke traditionell weniger fest verwurzelt. 2005 kam sie jedoch dank Nicola Vendola – genannt Nichi – zum ersten Mal an die Macht.4 Der landesweit populäre Vendola ist bekennender Katholik und steht zu seiner Homosexualität. Nachdem er die Partei Rifondazione Comunista verlassen hatte, gründete er 2010 das Parteienbündnis Sinistra Ecologia Libertà (SEL), das verspricht, „zur Entstehung einer neuen, breiten Linken in Italien und in Europa beizutragen“.
Wenige Monate später hatte die SEL bereits 45 000 Mitglieder und mehr als 500 Ortsgruppen. Ihre Grundprinzipien sind Frieden und Gewaltlosigkeit, Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Bildung und die ökologische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Schwer vorherzusagen, ob die SEL, bei der sich heimatlos gewordene Anhänger der Rifondazione Comunista, Globalisierungskritiker und radikalere Linke zusammenfinden, in einer möglichen neuen Regierung eine Koalition mit der PD bilden wird.
Anders als im Circolo von Brescia, wo die Linken sich in Selbstkritik üben, herrscht hier Begeisterung, vor allem für Nichi Vendola. Seine „Fabbrica di Nichi“, in der sich vor allem junge Leute engagieren, hat innerhalb von drei Jahren Ableger in ganz Italien und sogar im Ausland gegründet.
Die „Fabbriche di Nichi“ entstanden als eine Art Wahlkomitee, inspiriert von „Organizing for America“, der Mobilisierung für Barack Obama im Internet. In der Fabbrica di Bari arbeiten alle ehrenamtlich und sind nicht unbedingt Mitglieder des SEL. Das Büro ist einladend, hell und bunt. Sämtliche Möbel sind Recyclingprodukte: Pappschränke, Lampen aus alten Ölkanistern, zu Hockern zusammengeklebte Milchpackungen.
An die zwanzig, zumeist junge Leute halten via Internet den Kontakt zu den anderen Fabbriche aufrecht. „Unsere Fanseite hat 80 000 Followers, die von Nichi 400 000.“ Covolo gibt allerdings zu, dass auch sie Mühe haben, neue Mitstreiter zu gewinnen, vor allem ohne das Label „Nichi“, das auf T-Shirts, Badehandtücher und andere Werbemittel gedruckt ist.
Einigen Beobachtern ist der PD-Chef Pierluigi Bersani nicht charismatisch genug. Vendola hingegen finden manche zu populistisch, er sei ein „roter Berlusconi“5 . Solchen Vorwürfen widersprechen die Mitglieder der Fabbriche: „Wir nutzen die positive Seite der Personalisierung der Politik, um mehr Menschen zu gewinnen. Heutzutage identifiziert man sich leichter mit einem Individuum als mit kulturellen Werten. Außerdem ist Vendola ein anständiger Kerl, was in Italien keineswegs selbstverständlich ist.“
Vendola schreckt nicht davor zurück, Mafiabesitz beschlagnahmen zu lassen. Und er hat einiges getan, um den Tourismus anzukurbeln. Doch die Schwierigkeiten sind immens: Die überalterte und machohafte Gesellschaft macht Frauen und jungen Leuten den Eintritt in die Politik sehr schwer. Das Gesundheitssystem ist auch in Apulien marode. Der Ausbau der Windenergie wird ausgerechnet von Umweltaktivisten bekämpft. Die Landwirtschaft schrumpft. Die Arbeitslosenquote unter den 15- bis 24-Jährigen liegt bei 34 Prozent.
Wenn Nichi Vendola über Politik spricht, tut er es in ebenso poetischen wie klaren Worten. „Es gibt ein besseres Italien“ wiederholen seine Anhänger wie ein Mantra – es klingt ein bisschen nach Werbeagentur.