Rosarotes Südamerika
Die meisten Regierungen auf dem Subkontinent bezeichnen sich als links. Ein Blick auf die Realität von William I. Robinson
Von einer „rosaroten Welle“ ist oft die Rede, wenn der vielgestaltige Linksschwenk in Lateinamerika während der letzten Jahre beschrieben wird. Das neoliberale Modell, das die politische Ökonomie des Subkontinents in den letzten zwanzig Jahren mit katastrophalen Folgen umgekrempelt hat, wird von den neuen, dem Namen nach linken Regierungen zunehmend infrage gestellt. Einiges spricht aber dafür, dass populistische Regierungen, die auf Umverteilungspolitik setzen, heute an einer Wegscheide stehen.
Der neue Präsident von Peru, der linksgerichtete Exoffizier Ollanta Humala, versprach nach seiner Wahl im Juni, er werde die extrem niedrigen Steuern auf die Gewinne der Bergwerksunternehmen deutlich erhöhen und mit dem Geld Sozialprogramme für die Armen finanzieren. Vor dem Sieg Humalas hatten internationale Finanziers 40 Milliarden Dollar zugesagt, mit denen sie neue Gold-, Silber-, Kupfer- und weitere Erzvorkommen in den Anden und der Amazonasregion erschließen wollten. Dem erteilte Humala eine Absage: Seine Regierung werde jenen Eliten von Lima, die internationalen Konzernen die ganzen Bodenschätze verkaufen, mit denen Peru 65 Prozent seiner Exporterlöse erzielt, nicht länger dienen. „Das muss anders werden“, rief er seinen Anhängern zu, „deshalb bin ich hier, dafür bin ich in die Politik gegangen.“
Humala bekommt Druck von unten, damit er zu seinen Versprechen steht. Schon während des Wahlkampfs in Peru hatten Indigene zu Tausenden den Grenzübergang nach Bolivien blockiert, um gegen ein Bergbauprojekt an den Ufern des Titicaca-Sees zu protestieren, der zu beiden Ländern gehört. Die abgewählte Regierung in Lima hatte einem kanadischen Bergbauunternehmen die Lizenz für eine Silbermine erteilt, von der die Anwohner des Sees sagen, dass sie ihr Wasserreservoir vergiften würde. Die Indigenen haben angekündigt, ihren Widerstand fortzusetzen und auszuweiten.
Proteste gegen die rosaroten Regierungen kommen sowohl von unten wie von der wieder erstarkenden Rechten. Am gefährlichsten war der misslungene Staatsstreich vom September 2010 gegen den ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa. Nur wenige Tage zuvor hatte bei den Parlamentswahlen in Venezuela die Rechte erhebliche Erfolge auf Kosten der Regierung Chávez erzielt. Ebenfalls 2010 war es in Bolivien zu mehreren Generalstreiks von Arbeitern und Teilen der indigenen Bevölkerung gegen die Politik von Präsident Morales gekommen.
All diese Ereignisse zeigen, wie komplex die Probleme sind, mit denen die rosaroten Regierungen und die ihnen nahestehenden sozialen Bewegungen bei dem Projekt eines umfassenden Wandels zu kämpfen haben. Doch diese Regierungen stoßen mit ihrer reformerischen Umverteilungspolitik neuerdings an die engen Grenzen, die der global organisierte Kapitalismus ihnen setzt – erst recht seit der Krise von 2008.
In den Morgenstunden des 30. September besetzten aufständische Polizeieinheiten mehrere staatliche Gebäude in Ecuadors Hauptstadt Quito, angeblich aus Protest gegen ein neues Gesetz, das ihnen Vergünstigungen gestrichen hätte. Als Präsident Correa mit den rebellischen Polizisten verhandeln wollte, wurde er festgenommen und in ein nahe gelegenes Militärhospital verbracht, aus dem er am späten Abend von einer Spezialeinheit der ecuadorianischen Armee nach heftigen Kämpfen befreit wurde. Die Aktion war landesweit mit Polizei- und Militäreinheiten durchgeführt worden, die das Parlamentsgebäude und den Staatssender TV Ecuador besetzten sowie wichtige Straßen und die Flughäfen von Quito und Guayaquil sperrten. Es handelte sich also eher um einen geplanten Putsch als um einen Arbeitskampf von Beamten, der allerdings zusammenbrach, weil er bei den Streitkräften nicht ausreichend Unterstützung fand.
Kurz zuvor hatte Correa den USA die Luftwaffenbasis Mantra gekündigt – Begründung: „Wir können mit den USA über einen Stützpunkt in Mantra verhandeln, wenn sie uns eine Militärbasis in Florida anbieten.“ 2008 hatte er die Rückzahlung von Auslandsschulden in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar verweigert, da sie von einer Militärregierung aufgenommen worden und damit nicht legitim seien. Zudem trat er der von Venezuela initiierten und angeführten Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (Alba) bei und bekannte sich zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.
Gleichzeitig entfernte sich Correa immer weiter von der Basis aus indigenen Gemeinschaften, Gewerkschaften und sozialen Organisationen, mit deren Hilfe er 2006 zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Die mächtige Konföderation indigener Völker von Ecuador (Conaie) verurteilte den Putsch, erklärte aber auch, dass ein Prozess des Wandels stets in Gefahr sei, wenn die Regierung „nicht das Bündnis mit gesellschaftlichen Organisationen und Basisgruppen sucht und immer weiter vertieft“. Die Conaie warf der Regierung vor, sie hätte sich gegen den Verband der Indigenen und die Gewerkschaften gewandt, als diese sich gegen internationale Bergbau-, Öl- und Agrobusinesskonzerne zur Wehr setzten, aber nichts getan, „um die Machtstrukturen der Rechten oder deren Bastionen innerhalb des Staatsapparats zu schwächen“.1
In Venezuela hat die rechte Opposition bei den Wahlen vom 26. September 2010 beträchtliche Erfolge erzielt. Das Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit kam auf fast 50 Prozent, die Regierungspartei PSUV konnte ihre absolute Mehrheit zwar verteidigen, verfehlte aber die angestrebte Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das Wahlergebnis hat einerseits mit dem von den USA und internationalen Medien betriebenen antichavistischen Trommelfeuer zu tun – aber auch mit den ökonomischen Schwierigkeiten (aufgrund sinkender Einkünfte aus der Ölproduktion), der verbreiteten Korruption, dem Opportunismus vieler Funktionäre und dem langsamen Tempo der radikalen Umgestaltung, auf die die Chávez-Anhänger warten.
Das neoliberale Treibhaus der 1990er Jahre
Auch die Regierung von Evo Morales in Bolivien ist in Schwierigkeiten. Es gibt Streiks und Protestkampagnen von Gewerkschaften, Indigenenorganisationen und Basisgruppen gegen die niedrigen Löhne, die Sparpolitik und die mangelnde Beteiligung der lokalen Gemeinschaften an Regierungsentscheidungen – zum Beispiel bei der Ausbeutung von Bodenschätzen. Robert Laserna, einer der bekanntesten neoliberalen Intellektuellen Boliviens meint auf die Frage, was sich in der Regierungszeit von Evo Morales geändert habe: „Geändert hat sich eine Menge, wenn man die Ebene der öffentlichen Rhetorik und der Symbole betrachtet und nur die kurzfristige Perspektive sieht. Aber sehr wenig im Hinblick auf die strukturellen Voraussetzungen und die langfristigen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.“2
Im Jahr 2010 feierten viele Länder Lateinamerikas den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Doch die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Subkontinents ist unvollendet. Der Sturm der Globalisierung brachte in den 1980er und 1990er Jahren transnationales Kapital in die Länder, teils in Form produktiver Investitionen, teils als Kapitalanlagen großer Vermögensverwalter oder als spekulative Finanzprodukte. Die Investoren wollten an der Gewinnrallye teilhaben, die durch die Privatisierung öffentlicher Güter, die Deregulierung des Bankensystems und die Emission von Staatspapieren ausgelöst wurde. Solche Maßnahmen zogen in ganz Lateinamerika Investoren an, die auf den internationalen Geldmärkten das Sagen haben.
Neue transnational orientierte Eliten bildeten einen neoliberalen Block und führten die ganze Region in ein neues Zeitalter, das bestimmt war von treibhausmäßiger Kapitalakkumulation und finanzieller Spekulation, von Ratingagenturen, von Internet und Shoppingmalls, von Fastfood-Ketten und Gated Communities.
Die neoliberale Offensive erfasste auch Teile der aufsteigenden Mittelklasse und gewisser Berufsgruppen, denen die Globalisierung neue Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs und der Teilhabe am globalen Basar eröffnete. Aber sie führte auch zu extremer sozialer Ungleichheit, zu Massenarbeitslosigkeit und Verelendung von zig Millionen, vielleicht sogar von hunderten Millionen Menschen der unteren Schichten und löste eine Migrationswelle aus.
Die weltweite Rezession von 2000/ 2001 traf Lateinamerika hart und machte die Erfolge der vorangegangenen Jahre wieder zunichte. Wendepunkt war der Zusammenbruch der argentinischen Volkswirtschaft, die zuvor als neoliberales Musterbeispiel gegolten hatte. Die darauf folgende Protestbewegung des Jahres 2001 mündete in die Wahl neuer Regierungen, die den neoliberalen Programmen – zumindest verbal und zumindest zu Anfang – etwas entgegensetzen wollten. Das waren unter anderem die Regierungen von Hugo Chávez in Venezuela (erstmals gewählt 1998), Lula da Silva in Brasilien (2002), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Evo Morales in Bolivien (2005), Rafael Correa in Ecuador (2006) und der Frente Amplio in Uruguay sowie der Sandinisten in Nicaragua (2006).
Sozialprogramme mit begrenzter Wirksamkeit
Viele stoppten den Privatisierungsprozess, verstaatlichen die Bodenschätze, machten den Abbau des staatlichen Gesundheits- und Erziehungswesens wieder rückgängig, erhöhten die Sozialausgaben und entwickelten neue Wohlfahrtsprogramme. Manche verhandelten erfolgreich über teilweisen Schuldenerlass, brachen die Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds (IWF) ab und entwickelten eine Außenpolitik, die sich dem Diktat der USA entzog. All das kam bei der armen Bevölkerungsmehrheit gut an.
Die Regierung Chávez hat die Zahl der Armen in Venezuela um über die Hälfte gesenkt, die realen Sozialausgaben pro Kopf verdreifacht, Millionen Menschen eine kostenlose Krankenversorgung und kostenlosen Schulbesuch zugänglich gemacht, die Analphabetenrate fast auf null gebracht und den allgemeinen Lebensstandard erhöht. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) schreibt in ihrem 2010 vorgelegten Bericht, dass Venezuela zwischen 2002 und 2008 die ökonomische Ungleichheit mehr als jedes andere lateinamerikanische Land reduziert hat und heute die egalitärste Einkommensverteilung der ganzen Region aufweist.3
Die Volkswirtschaft Argentiniens ist unter Präsident Kirchner von 2003 bis 2007 im Jahresdurchschnitt um 9 Prozent gewachsen. Im selben Zeitraum verringerte sich die Zahl der Arbeitslosen und der in Armut lebenden Menschen ebenfalls um die Hälfte. Kirchner hat die Mindestlöhne angehoben, die Rechte von Arbeitern und Gewerkschaften gestärkt, viele Arbeitslose und informell Beschäftigte in die Sozialversicherung aufgenommen und die öffentlichen Ausgaben für Wohnungsbau und Bildung erhöht.
In Uruguay hat die Frente Amplio einen „sozialen Notstandsplan“ durchgesetzt, mit dem die öffentlichen Ausgaben für Wohnungsbau, Ernährung, Gesundheit, Beschäftigung und ähnliche Bereiche ausgeweitet wurden. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung sank von 32 auf 20 Prozent. Und in Ecuador beinhaltet das Programm von Präsident Correa einen monatlichen Zuschuss von 35 Dollar für 2 Millionen arme Familien sowie Wohnungsbauhilfen für einkommensschwache Haushalte und das Versprechen kostenloser Schulbildung.
In Brasilien startete Präsident Lula da Silva in seinem ersten Amtsjahr 2003 das Bolsa-Família-Programm, eine monatliche Zahlung an arme Mütter, die belegen können, dass sie ihre Kinder zur Schule und zu regelmäßigen Gesundheitstests schicken. 2010 wurden durchschnittlich 35 Dollar an 12 Millionen Haushalte ausgezahlt. Lula erhöhte mehrmals den Mindestlohn, bis 2010 um insgesamt 50 Prozent, wodurch auch die daran gekoppelten Mindestrenten stiegen. Das Programm „Crédito consignado“ versorgt einkommensschwache Familien mit Bankdarlehen. Und die Ausgaben für Bildung wurden während Lulas zwei Amtszeiten verdreifacht. All diese Maßnahmen haben Millionen Menschen aus bitterer Armut herausgeholt.
Bei solchen Errungenschaften ist die breite Unterstützung für die meisten „rosaroten“ Regierungen mehr als verständlich. Chávez hat in Umfragen immer noch 60 Prozent der Bevölkerung hinter sich, bei Correa sind es 65 Prozent. In Uruguay schied Präsident Tabaré Vásquez 2010 mit einer Zustimmungsrate von 61 Prozent aus dem Amt. Und mit seinen 80 Prozent im Januar dieses Jahres erwies sich Lula als der populärste Präsident der brasilianischen Geschichte. Angesichts der weltweiten Finanzkrise und der Reaktionen seitens der Rechten ist allerdings nicht abzusehen, ob die beschriebenen Errungenschaften Bestand haben werden – und ob sie ausreichen.
Mexikos ehemaliger Außenminister Jorge Castañeda unterscheidet in einem viel zitierten Essay zwischen „zwei Linken“: Für ihn gibt es eine „richtige Linke“, zu der er Brasiliens Lula, die sozialistischen Staatsoberhäupter Chiles, Ricardo Lagos und dessen Nachfolgerin Michelle Bachelet, sowie Tabaré Vásquez in Uruguay zählt. Dem stellt er die „falsche Linke“ gegenüber, die sich um Hugo Chávez gesammelt habe und zu der natürlich Fidel Castro, aber auch Evo Morales in Bolivien, der mexikanische Oppositionsführer Andrés Manuel López Obrador, Ollanta Humala in Peru und andere mehr gehören.
Kennzeichen der nach Castañeda „richtigen“, der „wiedererstandenen, ehemals radikalen Linken“, ist, dass sie die Sozialpolitik (mit den Schwerpunkten Bildung, Gesundheit, Armutsbekämpfung, Wohnungsbau) in den Mittelpunkt stellt – dies aber innerhalb eines weitgehend liberalen Marktgefüges tut.
Die „falsche Linke“ ist dagegen „weit weniger empfänglich für modernisierende Einflüsse“. Für sie seien „Wirtschaftsleistung, demokratische Werte, programmatische Erfolge und gute Beziehungen zu den USA“ keine zwingenden Gebote, sondern lästige Einschränkungen: „Sie sind mehr darauf aus, ihre Popularität um jeden Preis zu erhalten, sich so oft wie möglich mit Washington anzulegen und möglichst viele Einnahmequellen, einschließlich Öl, Gas und nicht bezahlte Auslandsschulden, unter ihre Kontrolle zu bekommen.“4
Ganz unabhängig von der hinter Castañedas Argumentation stehenden Ideologie ist unbestreitbar, dass es in Lateinamerika zwei „Linke“ gibt: eine reformistische Linke, die der globalen Kapitalstrategie für Lateinamerika eine milde Umverteilungskomponente hinzufügen wollte; und eine radikalere Linke, die eine grundsätzlichere Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und der internationalen Machtverhältnisse anstrebt.
In der Region bildete sich durch Wahlen ein progressiver Block, der auf gemäßigte Umverteilung unter Respektierung der bestehenden Besitzverhältnisse setzte und nicht gewillt oder schlicht nicht in der Lage war, den globalen Kapitalismus herauszufordern. Das Resultat war eine postneoliberale Form von Nationalstaat, der fest in die globalen institutionellen Netze eingewoben ist. Das neoliberale Entwicklungsmodell beruhte unter anderem auf der „extraktiven“ Wirtschaft, das heißt: auf den Export von Rohstoffen. Die „rosa“ Regierungen zweigen einen Teil dieser Einnahmen für die arme Bevölkerungsmehrheit ab, mittels einer Kombination von Verstaatlichungen, Steuerreformen und sozialstaatlichen Programmen.
Die immer noch gleiche Ungleichheit
„Traditioneller Neoliberalismus ist das nicht mehr, aber wir verharren in der Logik der extraktiven Wirtschaft“, erläutert Alberto Acosta5 , ecuadorianischer Ökonom und Exminister für Bergbau und Umweltfragen. „Das ist noch kein struktureller Wandel. Vielmehr handelt es sich um den Übergang vom alten extraktiven Modell zu einem neoextraktiven, zur extraktiven Wirtschaft des 21. Jahrhunderts. Dabei hat der Staat einen größeren Anteil an den aus Bergbau und Ölförderung fließenden Erträgen und auch eine gewisse Kontrolle über die Tätigkeit der transnationalen Unternehmen; zudem werden die durch den Export dieser Güter erzeugten Einkünfte durch eine einigermaßen stetige Sozialpolitik breiter verteilt.“6
In vielen der rosarot regierten Ländern hat sich die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht merklich geändert. In Argentinien ist der Anteil am Nationaleinkommen, der auf Arbeiter, Arbeitslose und Rentner entfällt, sogar von 32,5 Prozent vor der Krise von 2001 auf 26,7 Prozent im Jahr 2005 zurückgegangen. Kirchner selbst benannte als Ziel seiner Politik „einen Kapitalismus, in dem der Staat eine intelligente Rolle spielt, indem er, wo immer nötig, reguliert, kontrolliert und bei Problemen vermittelt, die der Markt nicht lösen kann“.7
In Brasilien hat sich die soziale Ungleichheit auch unter Lula vertieft. Die Besitzenden wurden von der Regierung in keiner Weise belästigt, schreibt der britische Historiker Perry Anderson.8 Nie zuvor sei es dem Kapital so gut gegangen, weshalb „die brasilianischen Finanzleute und Industriellen der Regierung Lula ihre warme Unterstützung zuteil werden ließen“. Der brasilianische Aktienmarkt hat mehr Gewinne abgeworfen als jede andere Börse der Welt. Die Ausgaben für das Bolsa-Família-Programm beliefen sich auf mickrige 0,5 Prozent des BIP, während die Besitzer von Staatspapieren 6 bis 7 Prozent des BIP einstrichen und die Einkommensteuersätze immer noch unglaublich degressiv angelegt sind.
Lula stand immer eher auf der Seite des Agrobusiness als auf der der Kleinbauern und Landlosen. Der Grundbesitz war am Ende seiner Amtszeit in noch weniger Händen konzentriert als vor 50 Jahren. Benjamin Dangl schildert in seinem Buch9 „eine Landschaft von endlosen Soja-Plantagen, riesigen Ranchen und giftträchtigen Agroindustriebetrieben, die arme Familien verdrängen und immer mehr Regenwaldflächen abholzen“. Weil es in Brasilien nie strukturelle Reformen gegeben hat, die gegen die Ursachen von Armut und Ungleichheit gerichtet gewesen wären, kann der allgemeine Lebensstandard nur durch staatliche Sozialprogramme verbessert werden. Doch die können jederzeit wieder abgeschafft werden, wenn eine rechte Regierung an die Macht kommt oder wenn eine Wirtschaftskrise neue Sparmaßnahmen erzwingt.
Auf der anderen Seite hat Venezuela versucht, einen radikalen antineoliberalen Block zu schmieden, der verwirklichen soll, was Chávez den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nennt, und der zumindest dem Namen nach die Regierungen Morales in Bolivien und Correa in Ecuador einschließt. Diese radikaleren Regierungen sind, das darf man nicht vergessen, gewählt worden, um die korrupten, klientelistischen, bürokratischen und oligarchisch strukturieren alten Regime loszuwerden. In Venezuela wie in Bolivien und Ecuador wurden neue Verfassungen verabschiedet. Aber die mächtigen staatlichen Institutionen sind bemüht, die Aktivitäten an der Basis zu behindern, zu entschärfen und zu vereinnahmen.
In Venezuela geht die größte Bedrohung für die Revolution nicht von der rechten Opposition aus, sondern von der chavistischen „Rechten“, die mit ihrem unstillbaren Drang nach staatlichen Pfründen, lukrativen Lehen und geschäftlichen Vorteilen im Staats- und Parteifilz kein Interesse an einer sozialistischen Transformation von unten hat. Nach Benjamin Dangl entsteht die politische Dynamik der rosaroten Welle vor allem aus einem „Tanz zwischen sozialen Bewegungen und staatlicher Organisation“. Für die Bewegungen, die den Staat auf den Weg des sozialen Wandels drängen wollen, läuft das auf eine heikle Balance zwischen Zusammenarbeit mit dem Staat und Vereinnahmung durch den Staat hinaus.
Das transnationale Kapital und vor allem die globalen Finanzmärkte verfügen gegenüber Staaten und sozialen Bewegungen, die auf Transformation setzen, über eine ungeheure strukturelle Macht. Die Staaten werden gedrängt, sich den Regeln dieser Märkte zu unterwerfen.
Das zeigt das Beispiel Ecuador. Das Land wurde durch die globale Krise von 2008 schwer getroffen. Um die Staatseinnahmen aufzubessern, versuchte Präsident Correa transnationales Kapital anzuziehen. Deshalb ließ er 2009 unter Verletzung der Abkommen mit der UN-Arbeitsorganisation ILO ein neues Bergbaugesetz verabschieden, das die Ausbeutung von mineralischen Rohstoffen durch internationale Unternehmen zulässt, ohne dass die betroffenen Gemeinden konsultiert werden müssen. Desgleichen brachte Correa ein Gesetz über die Nutzung der Wasservorkommen durch, das den im Bergbau, in der Ölförderung und im Agrobusiness engagierten Firmen privilegierten Zugang zu Frischwasserquellen bietet und die Privatisierung der Wasserleitungsnetze erleichtert. Auf den Widerstand vor allem der davon betroffenen Indigenen reagierte er mit Polizeieinsätzen. Die Politik von Correa führt den Dreisatz der Rosaroten auf bezeichnende Weise vor: National orientierte Eliten versuchen, mit dem globalen Kapital bessere Geschäftsbedingungen auszuhandeln, und schließen zu diesem Zweck Bündnisse mit den sozialen Kräften, die von unten auf radikalere Veränderungen drängen. Die Bewegungen, die den Regierungen an die Macht verholfen haben, werden von diesen später als Bedrohung gesehen – nämlich dann, wenn sie bei der Erhöhung der Einnahmen durch das „extraktive“ Wirtschaftsmodell lästig werden.
Die jüngsten Entwicklungen lassen bei diesen nationalen Bündnissen zwischen „Staat“ und „Bewegung“ bereits deutliche Abnutzungserscheinungen erkennen. Damit stehen die rosa Staaten vor einer Richtungsentscheidung: Sie müssen sich entweder radikalisieren, oder sie unterwerfen sich erneut der Herrschaft der internationalen Finanzmärkte.
Wie lange kann eine Verteilungspolitik auf niedrigem Niveau das neuerliche Aufflammen der Rebellion aufhalten? Die Basisbewegungen bereiten sich offenbar auf eine neue Runde politischer Auseinandersetzungen vor. „Weder Kapital noch Bürokraten – mehr Sozialismus, mehr Revolution“ stand auf den Spruchbändern der Gewerkschaften und linken Parteien und Gruppen, die letztes Jahr in den Städten Venezuelas demonstrierten. Und Anfang dieses Jahres forderten sie die Verabschiedung eines neuen radikalen Arbeitsgesetzes, die Verstaatlichung weiterer Schlüsselindustrien und mehr Rechte für Arbeiter, insbesondere in den kurz zuvor verstaatlichten Unternehmen.